5. Oktober 2024
Zwischenruf in der Integrationsdebatte aus der Praxis

Alle reden von Jeremy*, niemand von Delia*, Fatima* oder Angelika*

In der Integrationsdebatte wird häufig über Schüler gesprochen, die den Unterricht permanent stören. Dabei geraten andere Schülerinnen und Schüler aus dem Blickfeld, deren Bedüfnisse man oft negiert. Alain Pichard zeigt uns eindrückliche Beispiele aus seinem Schulalltag und plädiert für mehr Pragmatismus.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Separiert wird auch in inkludierten Modellen.

Ich habe den Fall von Delia bereits in einem früheren Beitrag erwähnt. (https://condorcet.ch/2022/03/integration-und-heilpaedagogik-der-markt-gibt-das-gar-nicht-her/) Hier sei der Fall noch einmal zusammengefasst: Delia* wurde mir im Mathematikunterricht zugeteilt. Ich unterrichtete eine 7. Klasse im Realniveau und Delia war ein sogenanntes «Pool1-Kind». Weil die früheren «Kleinklassen» auch in unserer Gemeinde zugunsten eines inkludierten Systems abgeschafft worden waren, sass sie nun in einer 7. Klasse der Sekundarstufe 1 und war im Fach Mathematik dem Realniveau zugeteilt. Das hiess, dass man Delia nicht mit den in dieser Stufe üblichen Aufgaben unterweisen konnte, sondern für sie spezielle und angepasste Lerninhalte vorbereiten musste. Überdies hatte sie Anrecht auf eine individuelle Förderung durch eine Heilpädagogin. Die gab es aber in unserem Schulhaus nicht, trotz mehrfacher Ausschreibung. Deshalb übernahm eine sogenannte Stützlehrerin (sie hatte ein Primarlehrerpatent) die vier Lektionen Sonderbetreuung im Mathematikunterricht. Allerdings musste sich dieselbe Lehrkraft auch noch um zwei weitere Schüler kümmern, die eine rILZ-Verfügung hatten (reduzierte Lernziele).

Zu Beginn der 7. Klasse startete ich mit dem Thema «Grössen», darin beinhaltet waren auch Umrechnungen. Also Zentimeter in Meter umwandeln und umgekehrt. Delia war auch von den einfachsten Aufgabenstellungen überfordert.

In der ersten Lektion nahm ich sie während einer Stillarbeit nach vorne, zeigte ihr den Wandtafelmassstab – genau einen Meter lang – ging mit ihr zur Türe, stellte den Massstab in den Türrahmen und fragte sie: «Was meinst du, wie viele Male passt dieser Massstab in die Höhe dieser Türe?»

Sie antwortete: «Etwa zehn Mal!» Ich zeigte ihr, dass der Massstab zweimal und ein bisschen drüber in diesen Türrahmen hineinging.

Delia brauchte eine physische Erfahrung.

Delia brauchte eine physische Erfahrung.

Was tun? Ich besprach mich mit der Stützlehrerin. Der heilpädagogische Werkzeugkasten bietet in diesen Fällen ein grosses Sortiment an didaktischen Massnahmen, welche das Verständnis fördern. Für Delia bedurfte es einer physischen Zahlenraumerfahrung. Wir organisierten ein 10 Meter langes Packpapier, rollten es im Gang aus und liessen Delia darauf Meter und Zentimeter mit Filzstift markieren. Das dauerte fast zwei Lektionen. Danach marschierten die Stützlehrerin und Delia den ganzen Packpapierweg Hand in Hand mehrfach ab. Langsam realisierte das Mädchen, das übrigens zwei Jahre älter war als im Jahrgang üblich, die räumliche Dimension von 10 Metern.

Unsere Schule entschied sich für einen pragmatischen Weg. Obwohl die Kleinklassen abgeschafft waren, gründete man schulhausintern eine sogenannte spezielle Lerngruppe, die im Büro der Stützlehrerin an ihren Programmen arbeitete. So blieben die Schüler mit Sonderbedarf in einigen Fächern integriert, nahmen an allen Schulanlässen teil und waren ein unbestrittener Teil des Schulalltags.

Fatima arbeitete stundenlang am Compi, ohne etwas zu tun.

Fatima ist anpassungsfähig

Aktuell unterrichte ich Fatima*. Sie ist stark lernbehindert. Sie besucht die 9. Klasse, versteht kaum einen Text, auch wenn er einfach geschrieben ist. Auch sie geniesst mit dem Sonderstatut eine Lernförderung von 6 Lektionen. Sie ist von ihrer Persönlichkeit her sehr verletzlich und wirkt beim Reden unsicher. Sie kann deshalb auch einfachste Botschaften oder Anliegen kaum klar kommunizieren. Irgendwie hat sie in ihrer Schulkarriere aber gelernt, nicht aufzufallen, den Schein einer fokussierten Arbeitsweise zu wahren, Anforderungen zu unterlaufen. Das weisst sie als eine durchaus lebenstüchtige und anpassungsfähige Frau aus. Es ist ganz selten, dass sie einmal etwas fragt. In Kleingruppen und einer Eins-zu-Eins-Betreuung lernt sie. Kürzlich haben wir eine ganze Woche der Berufswahl gewidmet. Bewerbungen schreiben, Lebensläufe formulieren, ein digitales Dossier erstellen, Adressen suchen. Für Fatima war klar, dass sie im Pflegebereich arbeiten will. Sie wurde in den ersten zwei Tagen von einer Lehrerin betreut, welche das ganze Dossier mit ihr erstellte und mehrere Adressen heraussuchte und zusammen mit ihr eine Bewerbung abschickte.

Schliesslich kam heraus, dass Fatima nur eine Bewerbung (diejenige, die sie mit ihrer Stützlehrerin machte) abgeschickt hatte. Sie hatte praktisch anderthalb Tage lang gar nichts zustande gebracht.

Daraufhin liess man Fatima alleine ihre Arbeit weitermachen. Sie war immer am Compi, wenn man bei ihr durchlief, waren Texte und Webseiten von Firmen zu sehen, keine Spur von Unkonzentriertheit. Dankbar, dass sie offensichtlich wusste, was zu tun war, konnten wir Lehrkräfte uns in der 24er-Klasse um viele andere Schülerinnen und Schüler kümmern, die ebenfalls eine starke Betreuung brauchten. Irgendwie geschah es dann, sie ging uns verloren im hektischen Alltagsstrudel, geprägt durch viele Hilfegesuche. Nach einer Woche fragte ich sie, ob sie eine Antwort erhalten hätte. Sie antwortete: «Noch nicht!». Weitere vier Tage später stiess ich nochmals nach. Sie verneinte wieder. Ich wollte daraufhin die Adressen erhalten, bei denen sie sich beworben hatte. Schliesslich kam heraus, dass Fatima nur eine Bewerbung (diejenige, die mit ihrer Stützlehrerin erstellt war) abgeschickt hatte. Sie hatte praktisch anderthalb Tage lang gar nichts zustande gebracht. Und es kam noch schlimmer. Eine Klassenkameradin fragte sie, ob sie schnell ihren Stick ausleihen könne. Sie nahm den Stick, scannte im Kopierraum ihre Zeugnisse und speicherte diese auf den Stick, um sie anschliessend auf ihren Laptop herunterzuladen. Die Zeugniskopien blieben auf dem Stick und Fatima lud die Zeugniskopien ihrer Klassenkameradin ebenfalls in ihr Bewerbungsdossier herunter. Weder die Stützlehrerin noch ich hatten dieses PDF-Fake erkannt. Es kam, wie es kommen musste. Fatima schickte in der Bewerbung versehentlich das – wesentlich bessere – Zeugnis ihrer Kollegin an die Personalverantwortliche. Diese meldete sich bei mir, weil sie von einem Betrug ausging. Natürlich konnte die ganze Sache mit einigem Aufwand bereinigt werden, aber die Stelle bekam Fatima nicht. Fatima wird die Schule in knapp sechs Monaten verlassen. Sie kann weder richtig lesen noch schreiben. Sie hat sich durchgeschlängelt und niemand hat es so richtig bemerkt. Denn Fatima ist eine liebe Schülerin und keineswegs dumm. Sie hat auch herzensgute Eltern, die nie auf der Matte stehen, zu allem nicken und wenig Deutsch versehen. Zu meiner Entlastung muss ich sagen, dass ich diese Klasse erst Mitte 8. Schuljahr übernommen habe.

Jeremy, der Unruheherd

Daneben unterrichten wir Jeremy, der ein ständiger Unruheherd ist, einer Lehrerin mitunter einmal auch «Bitch» austeilt, anregende Diskussionen verunmöglicht und mit anderen – sofern man sie nicht bremst oder unter Kontrolle hat – einen aktivierenden und vertiefenden Unterricht verunmöglicht. Bei allzu heftigen Reaktionen seitens der Lehrkraft, wie zum Beispiel den Rauswurf, steht am nächsten Tag der Vater vor dem Lehrerzimmer und verlangt ein Gespräch mit der Schulleitung. Ich pflege, wenn Jeremy und seine anderen Kumpanen anwesend sind, knallhart und strikt zu unterrichten. Wenn sie in einem Setting einzelbetreut sind, wird der Unterricht lockerer, vielfältiger und interessanter. Vor allem aber ist die Stimmung animierender. Und Jeremy ist zurzeit nicht der Einzige, der uns im Unterricht grosse Probleme verursacht.

Und zum Trost wird dann in Bildungsdiskussionen der unerträgliche Satz hinterhergeschoben: «Weisst du, die Angelika wird ihren Weg ja eh machen. Die ist intelligent und von zu Hause aus so gut umsorgt.»

Angelika resigniert

Und da wäre ja noch eine Angelika, eine brillante Schülerin, die Zusammenhänge schnell erkennt, Freude am Lernen hätte, wenn dieser Lernprozess nicht immer gestört würde. Angelika liebt Diskussionen. Zurzeit behandeln wir den Holocaust. Eine Klassendiskussion über die Pfeiler des Faschismus wurde durch einen Wurf eines Papierknäuels unterbrochen. Eine scharfe Reaktion meineseits unterband zwar die Störung, aber die Miene von Angelika verriet es. Sie resignierte, die Stimmung, in der spannende Gespräche gedeihen, war dahin. Für einen Teil der Schülerinnen und Schüler sind diese Art Diskussionen wie verklausulierte Botschaften aus einer anderen Welt. Sie verstehen Gehalt und Komplexität nicht. Sie beginnen sich zu nerven, weil sie sich ausgeschlossen fühlen oder sich schlicht langweilen. Kurz darauf setzen die Unterrichtsstörungen ein, damit sich die Aufmerksamkeit wieder auf die «Richtigen» konzentriert. Und zum Trost wird dann in Bildungsdiskussionen der unerträgliche Satz hinterhergeschoben: «Weisst du, Angelika wird ihren Weg ja eh machen. Die ist intelligent und von zu Hause aus so gut umsorgt.»

Dabei verkennt man, wie sich der Unterricht in vielen Lernumgebungen langsam wieder in Richtung «autoritäre, lehrerzentrierte Methodik» entwickelt, etwas, was gerade in Kreisen der Befürworter einer weitgehenden Inklusion immer wieder abgelehnt wird.

 

Eine völlig ideologisierte Debatte mit viel Wunschprosa.

Was zeigen uns diese vier Beispiele?

Die Kinder sollten in der Schule etwas lernen. Und effizient lernen können sie nur im Unterricht. Wenn dieser ständig gestört und verunmöglicht wird, sinkt der Lerneffekt. Darin sind sich alle einig, die Praktiker, die Bildungsforscher, die PH-Integrationsexpertinnen, die Eltern. Wenn letztere, also die Eltern, realisieren, dass ihre Kinder in der Schule zu wenig oder kaum etwas lernen, werden sie nervös. Deshalb erfährt auch die Initiative der Basler Lehrkräfte zu einer Einführung von Förderklassen viel Zuspruch. Die Zustimmung zu diesem Volksbegehren ist deshalb – trotz energischen Widerstands der Bildungsnomenklatura – sehr wahrscheinlich.

Separierende Angebote gibt es auch für die Delias und Fatimas, und zwar mehr als man denkt. Auch in Schulgegenden, die sich gegen aussen als inklusiv erklären.

Aber in dieser notwendigen Debatte spricht man nur über die Jeremys und nicht über die Delias, Fatimas oder Angelikas. Und auf Seiten der Integrationsexpertinnen blendet man dabei gerne die Tatsache aus, dass es bereits Sondersettings für Schüler wie Jeremy gibt. Sie heissen «Aquarium», «Startup», «Neustart». Das sind extrem teure Schulorte, weit entfernt von der eigentlichen Schule, in die man diese «schwierigen» Schüler für eine gewisse Zeit absondert. Die Zahl dieser «Inseln» ist kaum bekannt. Vor allem die Integrationsbefürworterinnen sind wenig daran interessiert, diese zu ermitteln, da es sich um separierende Massnahmen handelt. Und die Kosten kennen vor allem die Finanzabteilungen der Gemeinden.

Integration ohne Bildungseffekt

Separierende Angebote gibt es auch für die Delias und Fatimas, und zwar mehr als man denkt. Auch in Schulgegenden, die sich gegen aussen als inklusiv erklären. Die Stützlektionen werden zusammengelegt, damit eine Beschulung in sogenannten Kleingruppen möglich ist. Diese Art pragmatischer Integration ergäbe vielleicht auch eine Basis für künftige Kompromissvorschläge in der völlig ideologisierten Debatte. Denn auch Fatima und Delia benötigen sehr oft eine enge Lernbegleitung, nicht nur in den sogenannten «Selektionsfächern». Es sei denn, man betreibt eine vermeintlich soziale Integration ohne Bildungseffekt, was letztendlich diesen Kindern einen Bärendienst erweist.

*Namen geändert

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Die NZZ am Sonntag, Richard David Precht und der Diskurs

Das Interview mit dem Fernseh-Philosophen Richard David Precht, welches die NZZ am Sonntag in ihrer vorletzten Ausgabe publizierte, löste in der Condorcet-Gemeinde ein ungläubiges Kopfschütteln aus. Wie kann es sein, dass ein derart unbedachtes, in sich widersprüchliches Gespräch in dieser Zeitung erscheinen konnte? Es waren weniger die Inhalte, die Anstoss erregten sondern vielmehr die von vielen als plump empfundenen Pauschalurteile, die nicht einmal als stammtischwürdig empfunden worden sind.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert