13. November 2024

Integration und Heilpädagogik: Der Markt gibt das gar nicht her!

Wenn eine Debatte von Ideologien bestimmt wird, sind praktische Lösungen schwierig und Fehlentwicklungen unvermeidlich. Ein Erfahrungsbericht von Condorcet-Autor Alain Pichard, der mit 66 Jahren noch einmal in den Schuldienst eingestiegen ist, weil es kaum mehr Lehrkräfte auf dem Markt hat.

Alain Pichard: Pragmatische Lösungen werden durch die permanente Erregung verhindert.

Delia* wurde mir im Mathematikunterricht zugeteilt. Ich unterrichtete eine 7. Klasse im Realniveau und Delia war ein sogenanntes «Pool1-Kind». Weil die früheren «Kleinklassen» auch in unserer Gemeinde zugunsten eines inkludierten Systems abgeschafft worden waren, sass sie nun in einer 7. Klasse der Sekundarstufe 1 und war im Fach Mathematik dem Realniveau zugeteilt. Das hiess, dass man Delia nicht mit den in dieser Stufe üblichen Aufgaben unterweisen konnte, sondern für sie spezielle und angepasste Lerninhalte vorbereiten musste. Überdies hatte sie Anrecht auf eine individuelle Förderung durch eine Heilpädagogin. Die gab es aber in unserem Schulhaus nicht, trotz mehrfacher Ausschreibung. Deshalb übernahm eine sogenannte Stützlehrerin (sie hatte ein Primarlehrerpatent) die vier Lektionen Sonderbetreuung im Mathematikunterricht. Allerdings musste sich dieselbe Lehrkraft auch noch um zwei weitere Schüler kümmern, die eine rILZ-Verfügung hatten (reduzierte Lernziele).

Zu Beginn der 7. Klasse startete ich mit dem Thema «Grössen», darin beinhaltet waren auch Umrechnungen. Also Zentimeter in Meter umwandeln und umgekehrt. Delia war auch von den einfachsten Aufgabenstellungen überfordert.

Den vorgängigen Berichten entnahm ich, dass Delia, wie so manche Schülerinnen oder Schüler, die Zehnerübergänge nicht beherrschte. In der ersten Lektion nahm ich sie während einer Stillarbeit nach vorne, zeigte ihr den Wandtafelmassstab – genau einen Meter lang – ging mit ihr zur Türe, stellte den Massstab in den Türrahmen und fragte sie: «Was meinst du, wie viele Male passt dieser Massstab in die Höhe dieser Türe?»

Sie antwortete: «Etwa zehn Mal!» Ich zeigte ihr, dass der Massstab zweimal und ein bisschen drüber in diesen Türrahmen hineinging.

Zu Geburtstagsfesten wurde sie nie eingeladen. In Lagern war sie hingegen ein Sonnenschein, die Küche hatte sie bald voll im Griff.

Der heilpädagogische Werkzeugkasten

Delia brauchte eine physische Erfahrung.

Was tun? Ich besprach mich mit der Stützlehrerin. Der heilpädagogische Werkzeugkasten bietet in diesen Fällen ein grosses Sortiment an didaktischen Massnahmen, welche das Verständnis fördern. Für Delia bedurfte es einer physischen Zahlenraumerfahrung. Wir organisierten ein 10 Meter langes Packpapier, rollten es im Gang aus und liessen Delia darauf Meter und Zentimeter mit Filzstift markieren. Das dauerte fast zwei Lektionen. Danach marschierten die Stützlehrerin und Delia den ganzen Packpapierweg Hand in Hand mehrfach ab. Langsam realisierte das Mädchen, das übrigens zwei Jahre älter war als im Jahrgang üblich, die räumliche Dimension von 10 Metern. Delia blieb völlig von der Klasse isoliert. Einen Text über die Auswanderung lesen und Fragen beantworten? Die Mechanikgesetze von Newton verstehen? Unmöglich. Im Französisch und Englisch war sie dispensiert. Turnen war eine Qual für das leicht übergewichtige Mädchen. Zu Geburtstagsfesten wurde sie nie eingeladen. In Lagern war sie hingegen ein Sonnenschein, die Küche hatte sie bald voll im Griff.

Unsere Schule entschied sich für einen leicht illegalen Weg. Obwohl die Kleinklassen abgeschafft waren, gründete man schulhausintern eine sogenannte spezielle Lerngruppe, die im Büro der Stützlehrerin an ihren Programmen arbeitete. So blieben die Schüler mit Sonderbedarf in einigen Fächern integriert, nahmen an allen Schulanlässen teil und waren ein unbestrittener Teil des Schullebens.

Zurzeit werden so viele Heilpädagoginnen wie noch nie ausgebildet.

Infoanlass Heilpädagogikausbildung der PH-Bern.
Bild: PH Bern

Was – wie in vielen Schulhäusern – fehlte, waren die ausgebildeten Heilpädagoginnen, also genau die Lehrkräfte, welche aufgrund einer Spezialausbildung genau wissen, wie man Delias Raumvorstellungsvermögen einigermassen schulen kann. Das kann die Fachlehrperson in Mathematik kaum, und auch die Stützlehrerinnen verfügten kaum über die grosse Bandbreite des heilpädagogischen Repertoires.

Zurzeit werden so viele Heilpädagoginnen wie noch nie ausgebildet. Wie also ist es zu erklären, dass an den Schulen in fast allen Kantonen Heilpädagoginnen so schwer zu rekrutieren sind?

Hierfür sind vier Gründe auszumachen:

  1. Die Ausbildung dauert sehr lange. Heilpädagogen müssen einen Master haben und daraufhin anderthalb Jahre noch ein Zusatzstudium in Heilpädagogik absolvieren.
  2. Viele Heilpädagoginnen arbeiten mit einem reduzierten Pensum. Manchmal auch nur einige Lektionen. Das kommt angesichts der hohen Ausbildungskosten einer Ressourcenverschleuderung gleich.
  3. Offensichtlich sind die Arbeitsbedingungen für Heilpädagogen unter den gegenwärtigen Bedingungen zu wenig attraktiv. Etwa ein Drittel der ausgebildeten Heilpädagoginnen verlässt den Beruf nach ein bis zwei Jahren.
  4. Die ständige Zunahme der abgeklärten und für förderwürdig eingestuften Schülerinnen und Schülern fordert konstant nach mehr Heilpädagoginnen. Das gibt der Markt aber gar nicht her.

Gut ausgebildete Heilpädagoginnen sind für jede Schuleinheit unverzichtbar. Ihr didaktisches Repertoire muss ausgeschöpft und genutzt werden. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist aber der Einsatz dieser Lehrkräfte für alle Seiten frustrierend. Die eingesetzten Heilpädagoginnen kommen lektionenweise in die Unterrichtsstunden, sind oft viel zu wenig in den Unterricht eingebunden und fristen so ein Aussenseiterleben in einem Kollegium. Die Lehrkräfte in den Klassenzimmern ärgern sich über den zusätzlichen Koordinationsaufwand und über die Tatsache, dass da eine Kollegin in das Klassenzimmer kommt, die keinerlei Zusatzaufgaben hat wie sie die Klassenlehrperson sonst noch erledigen  muss (Lagervorbereitungen, Materialbestellungen, Schulreisen, Zeugnisse, zahlreiche Elterngespräche usw.) und erst noch mehr verdient. Ganz abgesehen davon, dass in vielen Einsätzen der pädagogische Nutzen, sprich der Lernzuwachs der Schüler mit besonderem Förderbedarf, nicht befriedigend ist.

Gefragt wären hier pragmatische Lösungen jenseits von Wunschprosa und Ideologien.

Gefragt wären hier pragmatische Lösungen jenseits von Wunschprosa und Ideologien. Die Einrichtung einer Kleinklasse in einem Schulhaus, die aber vollkommen in das Schulleben eingebunden ist, wäre ein gangbarer Mittelweg.  Schüler mit speziellem Förderbedarf sind in dieser Kleinklasse, werden von einer Heilpädagogin unterrichtet, können aber flexibel die Kurse anderer Klassen besuchen. Sie nehmen an Schulanlässen teil, gehen ins Skilager, besuchen den Werk- und Turnunterricht und können in angesagten Fällen auch die intellektuell herausfordernden Fächer besuchen. Die Heilpädagogin wäre so auch ein fester Bestandteil des Kollegiums und eine gefragte Fachkraft.

Die gegenwärtige Diskussionskultur verhindert pragmatische Lösungen eines virulenten Problems. Wenn Gesichtswahrung, ideologische Überzeugungen und Besserwisserei den Diskurs bestimmen, kommt es schnell zu einer polemischen Frontbildung, welche die Interessen der betroffenen Kinder untergehen lässt.

 

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Ein Kommentar

  1. Wie wär’s, wenn die zu heilende Pädagogik gleich in der allgemeinen Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern integriert würde? Das ist zur Zeit an keiner der mir vertrauten pädagogischen Hochschulen der Fall, weder beim Lesen lernen noch beim Einführen ins Rechnen, noch beim NMG. Auch die Anleitung, wie die zur Verfügung stehenden Lehrmittel eingesetzt werden können, fehlt. Die Krise liegt bei den Personen, die ausbilden sollten.

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