Ergebnisse des IQB-Bildungstrends-2021
Mit dem Bildungswesen in Deutschland ist es nicht zum Besten bestellt. Das pfeifen die Spatzen längst von den Dächern. Seit PISA 2000 und anderen IQB-Studien sollte zwar vieles empirisch begleitet und dadurch besser werden. Das erweist sich nun als frommer Wunschtraum. Der kürzlich vorgestellte IQB-Bildungstrend 2021, der auf der empirischen Ermittlung von Daten der Kompetenzstufen in Mathematik und Deutsch am Ende der vierten Klasse beruht, hat eine signifikante Abnahme in allen Kompetenzbereichen nachgewiesen. (1) Der Zeitpunkt der Erhebung war zwischen April und August 2021 und beinhaltete eine Stichprobe von 26.844 Schülern in den 16 Bundesländern. Weder die Optimalstandards, noch die Regelstandards und nicht einmal die Mindeststandards werden von großen Teilen der Probanden erreicht. In der aktuellen Studie von 2021 erreichen oder übertreffen bundesweit nur noch knapp 58 % der Schülerinnen und Schüler im Bereich Lesen, etwa 59% im Bereich Zuhören und rund 44% im Bereich Orthografie den Regelstandard, den Mindeststandard verfehlen knapp 19%. (1) In Mathematik erreichen oder übertreffen den Regelstandard 54,8%, während rund 22% nicht einmal den Mindeststandard erreichen. In Bayern und in Sachsen fällt das Ergebnis signifikant besser aus als in Deutschland insgesamt. In Bremen und Berlin werden die Regelstandards seltener erreicht oder übertroffen und die Mindeststandards häufiger verfehlt als dies deutschlandweit der Fall ist (1) In Brandenburg und NRW fallen die Ergebnisse zum Erreichen der Regelstandards in allen Kompetenzbereichen signifikant ungünstiger aus, das Erreichen der Mindeststandards in zwei Kompetenzbereichen liegt deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt. (1)
Vergleich der Ergebnisse der IQB-Bildungstrends-2011-2016 und 2021 (2, 3)
Der IQB-Bildungs-Trend wurde nach 2011 und 2016 im fünfjährigen Turnus 2021 zum dritten Mal erhoben und lässt auch Vergleiche über diesen Zeitraum zu. In Lesen, Orthografie und Rechnen fallen die deutschen Viertklässler immer mehr zurück. Vergleicht man die aktuelle Studie mit der von 2016, ist ein Bildungsabsturz festzustellen: Schülerinnen und Schüler erreichen in allen getesteten Kompetenzbereichen im bundesweiten Durchschnitt signifikant weniger die Regelstandards und verfehlen in gleicher Deutlichkeit die Mindeststandards. Nur in Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz blieben die Ergebnisse relativ unverändert, wenn auch auf deutlich unterschiedlichem Niveau.
Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe feierte dies bei der Vorstellung als großen Erfolg seiner hanseatischen Bildungspolitik. In der Tat ist Hamburg hinter Bayern und Sachsen auf Platz 3 vorgerückt. Die Aufstellung derartiger Rankings ist auch aufgrund der Datenerhebung mehr als fraglich und wenig aussagekräftig, wie die Leiterin der Studie, Petra Stanat, bei der Vorstellung ausdrücklich betonte. Schließlich ist man in Hamburg keinesfalls besser geworden, sondern weniger schlecht als die anderen Bundesländer.
Interessant ist, dass der Vergleich zwischen 2011 und 2016 im Kompetenzbereich Lesen keine Veränderungen auftraten. Lediglich im Bereich Zuhören und Mathematik erreichten oder übertrafen 2016 weniger Probanden den Regelstandard und etwas mehr verfehlten das Erreichen der Mindeststandards. Geschlechtsbezogene Disparitäten spielten dabei nur eine geringe Rolle.
Die Lernbedingungen dürften durch die Corona bedingten Maßnahmen des Fern- und Wechselunterrichts diesen Trend verstärkt haben.
Ein Blick auf die zuwanderungsbedingten Disparitäten zeigt allerdings ein anderes Bild. Im Jahr 2021 haben rund 38% der Kinder einen Zuwanderungshintergrund. Dies entspricht einem signifikanten Zuwachs von 14% gegenüber 2011, wobei die Anteile für die ostdeutschen Länder zwischen 7% und 9% und in den anderen Ländern Zwischen 9 % und 19% (Bremen) liegen. Aus der Studie lässt sich ablesen, dass die zu beobachtenden Kompetenzeinbußen in dieser Schülerpopulation in allen getesteten Kompetenzbereichen signifikant höher ausfielen, als bei den Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund. Mindeststandards werden insbesondere dann nicht erreicht, wenn zuhause kein oder nur wenig Deutsch gesprochen wird. Die Lernbedingungen dürften durch die Corona bedingten Maßnahmen des Fern- und Wechselunterrichts diesen Trend verstärkt haben.
Das Fazit des IQB Trends 2021 lautet dann auch: „Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends liefern ein besorgniserregendes Bild. Die negativen Trends sind erheblich und der Anteil der Viertklässler:innen, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen, ist zu hoch. Im Jahr 2021 liegt dieser Anteil in Deutschland insgesamt zwischen gut 18 Prozent (Zuhören) und etwa 30 Prozent (Orthografie), wobei die Anteile in einzelnen Ländern noch deutlich höher sind. Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass solche Zahlen nicht hinnehmbar sind.“ (1)
Die Folgen dieser Entwicklung werden für den einzelnen und die Gesellschaft desaströs sein. „Das holen die Kinder nie wieder auf“ äußerte sich der sonst eher sich zurückhaltende Kollege Olaf Köller, Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, in einem Interview mit der Tageszeitung Die WELT. (4) Neben der Unfähigkeit zur Berufsausbildung und der zu rechnenden Abschiebung in den noch funktionierenden Wohlfahrtstaat wären weitere wirtschaftliche und sozialpolitische Erosionen die Folge.
Boomen nicht gerade Privatschulen, weil bildungsinteressierte Eltern lieber in die Tasche greifen, um ihren Kindern die bestmögliche Bildung in einem wohlhabenden Stadtteil zukommen zu lassen. Denn längst ist bekannt, dass der Wohnort und in den Großstädten die Wohngegend entscheidend für den schulischen Erfolg sind.
“Was bremst den Bildungsabsturz“,
fragte die Wochenzeitschrift DIE ZEIT schon in ihrer Ausgabe Nr.28 vom 07.07.2022 nach Vorlage der Zahlen zurecht. (5) Die vier vorgestellten Individuallösungen Sportsgeist beim Lesen, Lückenlose Aufklärung, Familienyoga gegen Schulangst und Teamspiel als Taktik sicherlich nicht. Gerade beim letzten Vorschlag einer Schulleiterin aus einer Brennpunktschule in einem Berliner Randgebiet geht es ausschließlich um die Teamarbeit ihres Lehrerkollegiums, der Eltern, von Sozialarbeitern, der Polizei und vielen Akteuren mehr. Hat hier nicht längst die Politik versagt, die derartige Zustände überhaupt zulässt. Die Frage, die sich hier zwingend stellt ist die, wie es dazu kommen konnte und ob überhaupt Abhilfe möglich ist. Kann die Schule, kann guter Unterricht, können Lehrerinnen und Lehrer, die die Förderung aller Schüler im Blick haben müssen, bei einer solch extremen Heterogenität überhaupt allen Schülern gerecht werden. Mit Binnendifferenzierung ist es hier nicht getan. Wie konnte es die Politik es zulassen, dass überhaupt Brennpunktschulen entstanden sind? Boomen nicht gerade Privatschulen, weil bildungsinteressierte Eltern lieber in die Tasche greifen, um ihren Kindern die bestmögliche Bildung in einem wohlhabenden Stadtteil zukommen zu lassen. Denn längst ist bekannt, dass der Wohnort und in den Großstädten die Wohngegend entscheidend für den schulischen Erfolg sind. Schulen in Brennpunktgebieten müssen sicherlich andere Wege finden, um ihren sozial benachteiligten Kindern wenigstens das Erreichen der Basiskompetenzen zu ermöglichen. Das ist traurig genug, denn von Vermittlung einer grundlegenden auf Erziehung und Wissen basierten Bildung ist hier nirgends mehr die Rede. Die Antworten sind daher vielfältig und widersprüchlich zugleich und betreffen teils völlig gegensätzliche pädagogische, didaktische, soziale bis hin zu ideologischen Maßnahmen.
In Teilen der Schullandschaft hat sich ein reformpädagogische Ansätze der „Neuen Lernkultur“ durchgesetzt, in denen die neue Lehrerrolle die des Lernbegleiters sein soll und in der ein mehr offener Unterricht durch Selbstorganisation, problemlösendes, forschendes und individuelles Lernen u.a. gekennzeichnet ist. Dies gilt auch für Ausbildung im Referendariat in den meisten Bundesländern. Auch hier sei die Frage erlaubt, ob diese Konzepte durch Ergebnisse der Bildungsforschung empirisch abgesichert sind. Auch diese Frage muss mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden.
Was ist überhaupt guter Unterricht?
Auch diese Frage ist nicht nur in den Bildungswissenschaften nach wie vor umstritten. Finnland hat die Fächer weitgehend abgeschafft, was dem Land in der PISA –Studie ganz offensichtlich Spitzenplätze gekostet hat. Auch in Deutschland haben sich zumindest in Teilen der Schullandschaft reformpädagogische Ansätze der „Neuen Lernkultur“ durchgesetzt, in denen die neue Lehrerrolle die des Lernbegleiters sein soll und in der ein mehr offener Unterricht durch Selbstorganisation, problemlösendes, forschendes und individuelles Lernen u.a. gekennzeichnet ist. Dies gilt auch für Ausbildung im Referendariat in den meisten Bundesländern. Auch hier sei die Frage erlaubt, ob diese Konzepte durch Ergebnisse der Bildungsforschung empirisch abgesichert sind. Auch diese Frage muss mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden. Der Neuseeländer John Hattie hatte schon 2008 in seiner weltweit viel beachteten Metaanalyse der Funktion der Rolle des Lehrers als Lernbegleiter (teacher as facilitator) eine klare Absage erteilt. (5) In mehr als 50.000 untersuchten Einzelstudien fanden sich dafür keine Belege und es konnten nur geringe Effektstärken nachgewiesen werden. Demnach ist ein vom Lehrer gesteuerter Unterricht (teacher as instructor) wesentlich effektiver. (6) Seine Untersuchungen hat Hattie auch in den Jahren danach weiter durchgeführt und es ist nicht zu grundlegenden Änderungen in der Bewertung gekommen. Auch der dahinterstehenden konstruktivistischen Theorie erteilt Hattie eine klare Absage: „Constructivism is a form of knowing and not a form of teaching.“ (a.a.O., S. 243). Auch Kirschner und Kollegen kommen in ihrer Metastudie zum ähnlichen Ergebnis: „Why minimal guidance during instruction does not work. An Analysis of the failure of constructivist, discovery, problem-based, experiential, and inquiry-based teaching.“ (7) Gerade Migrantenkinder ohne elterliche Unterstützung profitieren von einem durch den Lehrer gesteuerten Unterricht deutlich mehr. Beim Selbstständigen Lernen gehören sie zu den Verlierern, weil ihnen das ja gerade in ihren teils prekären Wohnverhältnissen, nicht oder nur wenig vorhandenen Büchern oder digitaler Ausrüstung und fehlender elterlicher Unterstützung kaum möglich ist.
Ein Blick in die USA
Auch die große Dame der US-amerikanischen Pädagogik, Dianne Ravitch, berichtet in ihrem weltweit bekannten Werk „The Great American School System. How Tests and Choice are Underming Education“ über schon Ende der 90er Jahre in Bezirken in New York und später in San Diego gestarteten Bildungsoffensiven. „Balanced Literaccy“ und „Constructivist Mathematics“ waren die neuen Leseprogramme, die letztlich dort kläglich gescheitert sind. (8)
Auch lohnt sich ein Blick in die Praxis in den USA, die ebenfalls je nach Bundesland unterschiedlich ist. Allein aus rechtlichen Gründen ist dort der Unterricht sowohl an Schulen als auch an Hochschulen in buchorientiert. Alle Prüfungsaufgaben müssen die Inhalte des Buches zum Thema haben. Die Schüler haben dadurch aber die Möglichkeit, genau zu wissen, was in den Arbeiten verlangt wird. Gerade lernschwächere Schüler können nicht verstandene Kapitel durch Hausaufgaben und vielfältiges Üben anhand vielfältiger Übungsaufgaben wiederholen. Innerhalb von rund vierzehn Tagen werden täglich jeweils die nächsten Seiten durchgenommen und zum Abschluss eines jeden Kapitels wird ein Test oder eine Arbeit über genau diese Seiten geschrieben. Während des Halbjahres wird so nahezu das gesamte Buch „abgearbeitet“. (9) Der Vorteil liegt auf der Hand. Alle Schülerinnen und Schüler wissen genau, was zu tun ist. Die Mathematikbücher sind wie bei uns in den siebziger Jahren so aufgebaut, dass sie vornweg an einem ausführlichen Beispiel eine neue Augabenstellung und deren Lösung erklären. Danach folgt mindestens eine ganze Seite mit vielen Seite zu erledigenden Übungsaufgaben, die nach und nach höhere Schwierigkeitsgrade beinhalten. Ziel ist, die mathematische Problemstellung und Lösung durch Üben zu festigen.
Im Rahmen eines back to the basics ist man an vielen High-Schools hier schon einen Schritt weiter als in Deutschland und legt nach wie vor ein besonderes Augenwerk auf die Vermittlung und das wiederholende Abprüfen von grundlegenden Fachinhalten.
Schon das Wort „Üben“ ist heutzutage aus den Schulen in Deutschland weitgehend verbannt. Dabei stellt es die Grundlage einer jeden Kompetenz dar! Selbstverständlich gibt es im Unterricht ein gemeinsames Lernziel. Jeder Schüler und auch die Eltern wissen genau Bescheid darüber, was inhaltlich verlangt wird und können sich durch Erledigung der Hausaufgaben, zusätzliches Üben oder auch Nachhilfeunterricht auf die jeweiligen Inhalte fokussieren. Auch die Bewertung ist interessant: 5 Prozent Mitarbeit, 5 Prozent Hausaufgaben und 90 Prozent Faktenwissen! Methoden wie Gruppenarbeit und Präsentationen: 0 Prozent. Im Rahmen eines back to the basics ist man an vielen High-Schools hier schon einen Schritt weiter als in Deutschland und legt nach wie vor ein besonderes Augenwerk auf die Vermittlung und das wiederholende Abprüfen von grundlegenden Fachinhalten. Außerdem wird jedes Fach in vier unterschiedlichen Leistungsstufen angeboten, sodass man sich erst einmal selbst entsprechend seine Vorkenntnissen einnorden kann. Auch die Amerikaner haben mit Zuwanderern und Teilen der afro-amerikanischen Bevölkerung durchaus ein Bildungsproblem, indem es dort auf den Wohnort und den Geldbeutel ankommt, ob
man eine gute Bildung erhält. Diese Entwicklung haben wir in Deutschland mittlerweile auch, vor allem in den Städten. In teuren Gegenden liegen die Migrantenanteile beispielsweise an einem Gymnasium vor allem bildungsferner Schichten bei unter 10%, auf der anderen Rheinseite in Köln-Kalk bei 85%, Tendenz überall in deutschen Großstädten stark zunehmend. Für die meist tabuisierte Frage, ob ein Bildungswesen für derartige gesellschaftliche Entwicklungen eine Art Reparaturanstalt darstellt, gibt es eigentlich nur eine klare Antwort: das kann Schule und können Lehrerinnen und Lehrer gar nicht leisten, es ist vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Problem. Auch müsste hier entsprechend dem hoch gelobten kanadischen Vorbild ein entsprechendes Einwanderungsgesetz auf den Weg gebracht werden, dass zumindest Zuwanderung aus bildungsfernen Schichten minimiert. Ähnlich äußerte sich die NRW-Staatssekretärin für Integration, Serap Güler, in einer Talkshow bei Markus Lanz, selbst mit Migrationshintergrund. Dass wir im Vergleich mit anderen europäischen Staaten vielfach höhere finanzielle Leistungen gewähren, sei der „falsche Weg“ und sprach von einem „Pull-Effekt“. (10)
Und das Gymnasium?
Was hat diese Entwicklung nun mit dem Gymnasium zu tun? Seit der Jahrtausendwende hat auch dort eine kontinuierliche Erosion des Leistungsniveaus zweifellos stattgefunden. Das bestreitet heute eigentlich niemand mehr. Gründe dafür gibt es viele. Erst einmal werden die
oben geschilderten Bildungsdefizite von unten nach oben durchgereicht. Zweitens sind die Abiturientenzahlen auf politischen Wunsch hin seit den 90 er Jahren in nahezu allen Bundesländern verdoppelt worden. Das geht nur über eine Absenkung der Leistungsanforderungen, wie viele Untersuchungen speziell von schriftlichen Abiturarbeiten gezeigt haben. (11) Das in den meisten Bundesländern mittlerweile geltende Elternwahlrecht hat ein Übriges dazu getan. Trotzdem sind auf subtilen Druck von oben die Noten im Abitur kontinuierlich besser geworden, selbst in Corona Zeiten, in denen man davon ausgehen kann, dass bis zu einem Dreiviertel Jahr Lernrückstände entstanden sind. Das Fatale ist, dass sich kein Politiker traut, dies klar nach außen auszusprechen. Stattdessen beherrscht man die Fähigkeit des Gesundlügens in besonderem Maße. Nach dem Abitur erreichen die Defizite dann die Hochschulen, die ihrerseits dazu angehalten werden, jedem Studierwilligen in der Regelstudienzeit seinen Bachelor zu überreichen, womit Eltern, Schüler, Studierende und natürlich Politiker dann zufrieden sind (12). Leistung wird nicht mehr entsprechend gefördert, sondern als Ausgrenzung bewertet. Spitzenämter in der Politik werden mittlerweile nach Gruppenzugehörigkeit und nicht mehr nach Leistung vergeben. Ein fatales Zeichen, dass sich Leistung nicht mehr lohnt. Dies wird weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Erosionen zur Folge haben.
Hinzu kommt, dass die im Rahmen der Ökonomisierung erfolgte Umstellung auf Kompetenzorientierung die ehemaligen gymnasialen Bildungsanhalte nahezu pulverisiert hat. Von Bildung und Wissen ist kaum noch die Rede. Am deutlichsten lässt sich dies durch die allgemeine Reduzierung des Fächerkanons und seiner Inhalte in den Kultusministerien nach dem Motto beschreiben: „Ist das Kompetenz oder kann das auch weg?“ Ursprünglich einmal als Grundlage einer Allgemeinbildung für wesentlich befundenen Fächer wie Latein, Griechisch oder gar Altgriechisch wurden nach und nach aus dem Fächerkanon des Gymnasiums ausgedünnt und sind nur noch rudimentär oder gar nicht mehr vorhanden.
Die Digitalisierung scheint von Ihren Protagonisten als Allheilmittel wahrscheinlich auch gegen die oben erwähnten Disparitäten wirksam zu sein.
Jetzt soll die Digitalisierung es richten. Jeder ältere Praktiker wird über so viel Enthusiasmus nur müde lächeln. Die Digitalisierung scheint von Ihren Protagonisten als Allheilmittel wahrscheinlich auch gegen die oben erwähnten Disparitäten wirksam zu sein. Dabei ist sie doch nur eine Methode, mit der eigentlich die Inhalte verständlich den Schülern vermittelt werden sollen. Die Digitalisierung ist allerdings kein Bildungsinhalt an sich! Wo sie Vorteile zum Verständnis einer Sache bringt, sollte sie natürlich eingesetzt werden.
Das Schlusswort soll mein Kollege und Philosoph Konrad Liessmann haben. Nach seiner „Theorie der Unbildung“ folgte der zweite Band „Geisterstunde – die Praxis der Unbildung“, die die derzeitige Entwicklung auf den Punkt bringt: „Wo Kompetenzen vermittelt, Tests ausgefüllt, im Team geteacht, international verglichen und modular studiert wird – dort ist die Praxis der Unbildung am effizientesten.“ (13
Quellen
1) Stanat, P., Schipolowski, S., Schneider, R., Sachse, K. A., Weirich, S. & Henschel, S. (Hrsg.). (2022). IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich. Waxmann.
(2) Stanat, P., Schipolowski, S., Rjosk, C., Weirich, S., Haag, N. (Hrsg. (2017). IQB-Bildungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Waxmann.
(3) Stanat, P., Pant, H.A., Böhme, K., Richter, D. (Hrsg.) (2012) Ergebnisse des IQB-Ländervergleichs 2011. Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern am Ende der vierten Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Mathematik. Waxmann.
(4) Köller, Olaf im Interview mit der WELT vom 08.11.2022): Das holen die Kinder nie wieder auf. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus241930689/Bildungskrise-Das-holen-die-Kinder-nie-wieder-auf.html
(5) Schoener, J. (2022) Was bremst den Bildungsabsturz? DIE ZEIT Nr. 28
6) Hattie, John (2009). Visible Learning. A synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. S. 247f
(7) Sweller, J., Kirschner, P., Clark, R. (2006). Why minimal guidance during instruction does not work: An analysis of the failure of constructivist, discovery, problem-based, experiential, and inquiry-based teaching. Educational Psychologist 41(2), 75-86
(8) Ravitch, D. (2010): The Death and Life of the Great American School System: How Tests and Choice are Undermining Education. Basic Books, New York
(9) Klein, Hans Peter (2016) Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen. Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel. ZuKlampen, Springe
(10) Lanz, Markus vom 12.10.2022: Serap Güler kritisiert Asyl-Politik scharf – “Das falsche Signal”. https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-12-oktober-2022-100.html
(11) Klein, Hans Peter (2010): Die neue Kompetenzorientierung. In: Journal für Didaktik der Biowissenschaften (F) 1, 1-8.
(12) Klein, Hans Peter (2018) Abitur und Bachelor für alle. Wie ein Land seine Zukunft verspielt. ZuKlampen, Springe
(13) Liessmann, Konrad (2014) Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Zsolany.
Eine schonungslose Analyse eines schon länger bekannten Abwärtstrends, den man wohl auch in der Schweiz gemildert finden würde. Was mich im Beitrag einzig stört, ist die zum Meme geronnene Floskel einer “Ökonomisierung durch Umstellung auf Kompetenzorientierung”. Ökonomisierung würde ja bedeuten, dass die sogenannte “Wirtschaft” solche kompetenzorientierte Bildungsreformen angestossen oder zumindest gefordert hätte – angesichts der Reformergebnisse sicher nicht der Fall. Viel lieber möchte “die Wirtschaft” junge Leute, die lesen, zuhören und rechnen können, ganz nach traditionellen Konzepten. Fakt ist doch, dass all diese von oben initiierten Fehlentwicklungen aus der Bildungsbürokratie stammen und nicht von “der Wirtschaft”. Und unter den Kritikern des Lehrplans 21 stechen gerade Ökonomen hervor, zum Beispiel Mathias Binswanger, Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten.
Wir haben es vermutlich mit einer unheiligen Allianz zu tun – aus (nach Pisa) panisch-unkundiger Bildungs-Bürokratie, antipädagogischer Selbstlernideologie sowie kennzifferneuphorischer Testindustrie … oder wer fehlt noch?