20. April 2024

Zürcher Stipendienreform – ein Rohrkrepierer

Die Zürcher Stipendienreform hätte das Stipendienwesen im Kanton vereinfachen, transparenter und dank der Digitalisierung vor allem schneller machen sollen. Das Gegenteil ist eingetroffen. Ein Bericht von Daniel Wahl im Nebelspalter.

Daniel Wahl, Journalist für den Nebelspalter

Noch nie haben die Studenten länger auf einen Entscheid gewartet.

Noch nie war es so kompliziert, ein Stipendium zu beantragen.

Noch nie sind so viele Staatsangestellte für die Gesuchsbearbeitung eingesetzt worden, doppelt so viele wie bisher.

Und die Reform produziert ungewollte Nebeneffekte: «Es ist einfacher, Sozialhilfe zu beantragen, als ein Stipendium zu kriegen», sagt Juso-Vorstandsmitglied Luzia Brändli, die nun selbst aufs Sozialamt marschiert ist. Kritisiert wird die Reform inzwischen von rechts bis links.

Die Stipendienreform war eine Zangengeburt. Ganze sechs Jahre dauerte es, bis sie vor zwei Jahren in Kraft gesetzt wurde. Die Grünen im Kanton Zürich feierten die Einführung der Reform als ihren Erfolg. Dass mehr junge Menschen, insbesondere auch aus der Berufsbildung, Zugang zu den Stipendien erhalten, sei nicht zuletzt auf das Engagement der Grünen zurückzuführen. «Der damalige Kommissionspräsident der Grünen, Ralf Margreiter, setzte sich mit grossem Geschick für mehrheitsfähige Verbesserungen im Zürcher Stipendienwesen ein.»

Im Fokus der Linken stand «Chancengleichheit bei der Bildung

Nun aber zeigt das Bundesamt für Statistik ein ganz anderes Bild: Der Anteil der Studenten, die ein Stipendium beziehen, ist in Zürich von 5,7 auf 4,4 Prozent gesunken. Ebenso der Betrag, der ausbezahlt wird – von 9874 Franken auf 7868 Franken pro Bezüger und Jahr.

«Die neuen gesetzlichen Grundlagen per 1. Januar 2021 haben dazu geführt, dass die persönliche und die finanzielle Situation einer auszubildenden Person detaillierter dokumentiert werden muss als vorher».

Man könnte vermuten, dass sich jene Kräfte durchgesetzt haben, die finden, Studenten sollten einem Nebenerwerb nachgehen oder ein Darlehen aufnehmen, um ihr Studium zu finanzieren. Dem ist nicht so. Durchgesetzt hat sich die Bürokratie, die den Stipendienbezug erschwert, wie das Amt für Jugend und Berufsberatung der Zürcher Bildungsdirektion, indirekt bestätigt.

Für angehende Akademiker zu kompliziert

So ist der Grossteil der Studenten trotz digitaler Anleitung nicht mehr in der Lage, alle geforderten Dokumente für einen Entscheid beim ersten Mal einzureichen. «Bei zirka zwei Drittel aller Gesuche müssen zusätzliche Unterlagen verlangt werden, damit ein Anspruch korrekt geprüft und berechnet werden kann», bestätigt das Amt. Und begründet: «Die neuen gesetzlichen Grundlagen per 1. Januar 2021 haben dazu geführt, dass die persönliche und die finanzielle Situation einer auszubildenden Person detaillierter dokumentiert werden muss als vorher». Zum Beispiel werde neu die Situation von Stiefeltern oder Konkubinatspartnerinnen und -partnern der Antragsteller in die Berechnung mit einbezogen. Dies führe dazu, dass auch von diesen Personen Unterlagen eingereicht werden müssten.

Studentin Luzia Brändli sagt, «Mietverträge, Rentenbescheinigung, Arbeitsverträge der Eltern – alles muss man liefern, und dann reicht es dem Amt am Ende doch nicht, um zu einem Entscheid zu gelangen.» Auf ihren Wiederholungsantrag, den sie im März eingereicht habe, sei trotz einigen Anfragen nicht beantwortet worden. «Ich musste jetzt meine Wohnung kündigen und ziehe wieder zu meinen Eltern. Im Dezember habe mich beim Sozialamt gemeldet», sagt sie.

Die Bearbeitung eines Stipendiums dauert aktuell durchschnittlich 135 Tage.

Das bedeutet, dass sich ihre Bemessungsgrundlagen für ein Stipendium wieder geändert haben, sodass sie das Amt wieder «updaten» muss. Es ist der Wiederholungsantrag des Wiederholungsantrags. «Ich kenne ein gutes Dutzend Studenten, denen es ähnlich ergeht wie mir», fügt Brändli an.

Luzia Brändli, 25 Jahre jung und Sozialhilfebezügerin

Luzia Brändli, könnte einen Job suchen. Doch das will sie nicht. In ihrer Kandidatur als Juso-Vorstandsmitglied schreibt sie unverblümt, dass sie eine möglichst gute Schulbildung angestrebt habe, «nicht um später möglichst viel Geld zu verdienen, sondern um möglichst lange der Lohnarbeit zu entkommen». Arbeiten ist für sie offenbar demütigender, als auf dem Portemonnaie der Steuerzahler zu sitzen.

Kandidatur_Luzia_Brandli.pdf

Vorab die Linke will Studenten wie Brändli bei diesem Ansinnen unter die Arme greifen. In einem ihrer letzten Vorstösse hiesst es: «Auf Stipendien angewiesene Personen geraten durch die verzögerte Bearbeitung ihrer Gesuche in finanzielle Notlagen, verschulden sich infolge der fehlenden Stipendien und müssen manchmal sogar Sozialhilfe beantragen oder gar die Ausbildung abbrechen.» Dass Brändli und alle anderen von Nicht-Akademikern profitieren, interessiert links-grün nicht.  («Nebelspalter»: Soll eine Kassiererin einem Arzt das Studium finanzieren?)

Sozialhilfe springt sofort ein

Für die Bearbeitung von Brändlis Gesuch hat die Sozialhilfe bloss eine Woche gebraucht. Die Bearbeitung eines Stipendiums dauert aktuell durchschnittlich 135 Tage. Im Sommer musste ein Student mit einer Wartefrist von elf Monaten rechnen. Das Amt für Jugend- und Berufsberatung schreibt dazu: «Der Aufwand für die Umstellung wurde in der Planung leider unterschätzt: Wir brauchten mehr Zeit für die Umstellung und erreichen die ursprünglich angestrebte Bearbeitungsfrist pro Gesuch bisher nicht. Die Anzahl pendenter Gesuche ist deshalb rasch gewachsen.»

Im August dachte die Züricher Bildungsdirektorin Siliva Steiner daran, das Stipendiengesetz zu ändern, um die Bürokratie abzubauen, wie sie in einem Interview mit der «NZZ» sagte.

Bürokratieabbau in weiter Ferne

Jetzt aber löst sie es mit «Einsatz von zusätzlichem Personal». «Es ist die wirksamste Gegenmassnahme und braucht Zeit, ehe sie greift», schreibt das Amt für Jugend- und Berufsberatung: «Wir werden per Ende 2023 die Zielvorgabe – 50 Tage Bearbeitungszeit ab vollständig eingereichtem Gesuch – erreichen.» Dann dürfte auch die Stipendienquote im Kanton Zürich wieder steigen, auf Kosten der Steuerzahler.

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