7. November 2024

Wolfgang Kühnels Sonntagseinspruch: Das große Drumherumreden der staatstragenden Bildungswissenschaft.

Endlich wieder einmal einer der Sonntagseinsprüche von Professor Wolfgang Kühnel. In seiner Analyse setzt er sich mit den (dokumentierten) sinkenden Schülerleistungen auseinander und seziert die Reaktionen der Bildungsforscher gnadenlos. Und noch etwas ganz Besonderes geht mit diesem Beitrag einher. Es ist der 1000ste Beitrag auf unserem Condorcet-Blog. Für einen “Wenigschreiber” wie Professor Kühnel eine reife Leistung. Aber eben… der Ball ist rund!

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

Vor wenigen Wochen wurden die Ergebnisse des sog. “IQB-Bildungstrends  2021” in Deutschland vorgestellt, hier der offizielle Bericht:
https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021

Nun kann man durchaus skeptisch sein, was die dort verwendeten Testaufgaben und den dahinter stehenden Ansatz betrifft. Einige wenige kann man von diesem Link aus anklicken, man hält Multiple-Choice-Aufgaben für das A und O. Auch kann man diese ganze Testerei für verfehlt halten,  aber letztlich muss man konstatieren: Nach den Maßstäben der wichtigen bildungswissenschaftlichen und  schulpolitischen Institutionen im Lande sind diese Tests des sog. “Monitorings” nun mal maßgeblich, und irgendwie sagt zumindest der Trend  solcher wiederholten Tests auch etwas aus, weil die Testitems jedesmal  ähnlich sind.

Die Teste zeigen seit Jahren einen Trend

Und dieser Trend zeigt so katastrophal nach unten, dass es selbst hartgesottenen Politikern erstmal die Sprache verschlug: Innerhalb von nur 10 Jahren rauschten etliche Bundesländer beim Test um 40 und mehr PISA-Punkte nach unten, und das entspricht dann angeblich einem ganzen Schuljahr an Lernfortschritten, im Bundesdurchschnitt waren es 30-40  Punkte, je nach Testdisziplin. Seitdem rätselt die ganze Nation, woran das wohl liegen mag. Gerade diejenigen, die diese Art Testaufgaben immer propagieren, müssten jetzt eigentlich erklären, wie das kommt. Die Corona-Pandemie alleine will niemand dafür verantwortlich machen. Das soll die so oft postulierte “Bildungsrepublik Deutschland” sein? Zumindest bei dem Teil, der Lesen und das allgemeine Textverständnis betrifft, muss man natürlich Deutsch können, und zwar nicht nur ein bisschen von der Umgangssprache, sondern ein bisschen mehr von der sog. Bildungssprache. Auch bei dem Mathematiktest muss man sprachlich verstehen, was in der Aufgabe verlangt wird, also wird das Lesen eigentlich doppelt und dreifach getestet. Das wird auch viel kritisiert, aber die Tester sind davon nicht abzubringen, sie halten das für eine absolut unentbehrliche “literacy”.

40% Migrationshintergrund

Jedenfalls besagen nun leider die offiziellen Statistik-Zahlen, dass von den kleineren Kindern inzwischen ca. 40 % einen  sog. Migrationshintergrund haben, also in der Regel Deutsch nicht als Muttersprache haben, viele haben Deutsch auch nicht als aktuelle Familiensprache, das ist eine neue Feinheit in Statistiken neben der sog. “nichtdeutschen Herkunftssprache”. Wenn die Zuwanderer alle aus Österreich oder der Deutsch-Schweiz kämen, wäre das natürlich kein Problem, aber dem ist nicht so. Sie kommen aus fernen Ländern, in denen Deutsch auch als Fremdsprache kaum gelehrt wird. Ein bisschen Englisch, das können etliche wohl, aber Englisch wird jedenfalls beim Grundschultest nicht getestet. Wenn ich mir vorstelle, man hätte mich zu Grundschulzeiten nach  Frankreich gebracht, mich dort ohne französische Sprachkenntnisse in die Schule geschickt und dann später einen solchen Test auf Französisch absolvieren lassen, derweil meine Eltern weiter nur Deutsch mit mir gesprochen hätten, so fürchte ich, dass meine Ergebnisse auch mager gewesen wären. Reines Rechnen mit Zahlen hätte ich ja noch hinbekommen, weil mir das irgendwie lag, aber die neuen Aufgaben enthalten ja so schrecklich viele Wörter, die man erstmal verstehen muss. Aber genau das macht man mit Kindern aus aller Welt, aus der ganzen EU, aus Russland, aus dem Balkan, dem Vorderen Orient, aus Afrika, Afghanistan und jetzt aus der Ukraine, ein Ende ist nicht abzusehen. Die Gründe für die Migration sind unterschiedlich, aber für diesen Test zählt das nicht, der Test ist unbarmherzig und stur.

Mit rein logischer Betrachtung kommt man auch auf die Idee, dass ein generell sinkendes sprachliches Niveau im Unterricht letztlich alle treffen muss, denn auch gute Schüler erhalten weniger Anregungen, wenn viele sprachlich Schwache in der Klasse sind.

Und dann besagt eben die nüchterne Statistik in Kapitel 8 des Berichts, dass die Ergebnisse der Migrantenkinder sich besonders stark verschlechtert hatten und im Durchschnitt weit hinter den anderen herhinken (z.T. bis zu 100 PISA-Punkten, das entspricht bei dem wirklichen PISA-Test dem Unterschied zwischen Finnland und Mexiko bei den Mittelwerten im Lesen),  wenngleich sich die Nicht-Migranten auch deutlich verschlechtert haben. Mit rein logischer Betrachtung kommt man auch auf die Idee, dass ein generell sinkendes sprachliches Niveau im Unterricht letztlich alle treffen muss, denn auch gute Schüler erhalten weniger Anregungen, wenn viele sprachlich Schwache in der Klasse sind. Umgekehrt werden die schwachen Schüler frustriert, wenn sie nicht mithalten können. Und die Lehrer können nicht zaubern.

Aber diese Ursache darf offiziell nicht zu laut gesagt werden. Vielmehr hat sich als einzig korrekte Terminologie eingebürgert, von einer ubiquitären “Heterogenität” zu sprechen, die irgendwie schleichend, unmerklich, unerwartbar und auf geheimnisvolle und unkontrollierbare Weise über uns gekommen ist so wie das lautlose Schmelzen der Gletscher und die Klimaerwärmung. Diese “Heterogenität” wird jetzt für alles und jedes verantwortlich gemacht, gerade so, als seien die Schulklassen vor 30 oder 50 Jahren noch ziemlich homogen gewesen. Das waren sie natürlich nicht, leistungsmäßig gab es immer riesige Unterschiede, und alle Noten von 1 bis 6 wurden zu allen Zeiten verteilt, arm und reich gab es auch schon immer, intelligente und unintelligente, gebildete und ungebildete Eltern auch.

Prof. Becker-Mrotzek: Lauter nichtssagende Primsätze.

Nun erschien vor wenigen Tagen am 24.11.2022 ein Artikel in der FAZ mit einem längeren Interview mit Prof. Becker-Mrotzek, der nicht irgendwer ist, sondern Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache in Köln und Mitglied in zahlreichen wichtigen Kommissionen, u.a. der StäWiKo der KMK. Er und sein Institut sind federführend bei dem BISS-Programm von Bund und Ländern, das es seit nunmehr 10 Jahren gibt und das sich ausdrücklich die “erfolgreiche Stärkung bildungssprachlicher Kompetenzen der deutschen Sprache” im schulischen und vorschulischen Bereich auf die Fahnen geschrieben hat. Hier ist eine 118 Seiten lange Liste der diversen Aktivitäten in den diversen Bundesländern, von fleißigen Leuten zusammengestellt:
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2019/2019_12_05-Bildungssprachliche-Kompetenzen.pdf

Man bemüht sich also, die erkannten Defizite anzugehen. Auf den Seiten 94-99 geht es um “Digitalität”, z. B. “DaZ digital” oder “Digitale Lernpfade, die in ein Lernmanagementsystem eingebunden sind.”

Das klingt so richtig zukunftsorientiert. Aber wie passt das alles zu dem schwachen Ergebnis der Tests? Genau das wollte Frau Schmoll in dem FAZ-Interview erfragen, und viele andere würde es auch brennend interessieren. Aber wie das so ist: Der Fragen gibt es viele, aber die Antworten verschwinden irgendwo im Nebel der Allgemeinplätze und Postulate. Bei Politikern ist das noch verständlich, die müssen ständig Dinge erklären, die sie selber nicht genau kennen, aber wenn ein gestandener und prominenter Institutsleiter kurz vor dem Rentenalter nach seinem Spezialgebiet befragt wird, könnte er ja aus seinen wissenschaftlichen Kenntnissen schöpfen und müsste nicht einmal Rücksicht auf die Politik nehmen. Aber davon ist nichts zu sehen.

Dieses “noch immer … zu viele” ist fast schon zynisch angesichts des Trends mit den Testergebnissen: Es werden immer mehr.

Schon die erste Frage “Warum ändert sich an diesem Befund seit Jahren nichts?” wird ausweichend beantwortet: Die wirksamen Maßnahmen, die man habe, seien ja noch gar nicht in der Breite eingesetzt worden, und zum anderen verändere sich die Schülerschaft (mehr mehrsprachige Kinder), wodurch der Lern- und Unterstützungsbedarf steige. Nun ist aber gerade diese mehrsprachige Schülerschaft doch das Hauptthema des Mercator-Instituts (Deutsch als Zweitsprache – DaZ) und ist auch ein Hauptgrund für das ganze BISS-Programm. In einer offiziellen Erklärung zum BISS-Programm

https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/deutschlandweit-starten-460-schulen-in-der-bund-laender-initiative-transfer-von-sprachbildung-lese.html

erklärt Herr Becker-Mrotzek ungerührt: “Noch immer (!) verfügen zu viele Schülerinnen und Schüler nicht über die nötigen sprachlichen Kompetenzen, um dem Unterricht folgen und später ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.” Dieses “noch immer … zu viele” ist fast schon zynisch angesichts des Trends mit den Testergebnissen: Es werden immer mehr.

Bereits die in Deutschland als schwach empfundenen Ergebnisse von PISA 2000 hätte man ja auf die vielen “mehrsprachigen” Schüler zurückführen  können, die es auch damals in großer Zahl gab. Das hat man aber nicht getan, man hat vielmehr die “PISA-inkompatiblen” Lehrpläne mit der “Inputorientierung” und der fehlenden “Literacy” sowie das “veraltete” Schulsystem verantwortlich gemacht. Immerhin: Seit 20 Jahren weiß man um das Problem, aber richtig bergauf geht es dennoch nicht.

Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet.

In der Schweiz konnte man eigentlich mit den PISA-Ergebnissen durchweg zufrieden sein, aber seltsamerweise hat sich auch dort ein gewisser Reformeifer breitgemacht mit ebenfalls schwächelnden Ergebnissen, siehe:

https://condorcet.ch/2022/11/immer-mehr-eltern-betrachten-die-schule-als-niedere-serviceleistung-sagt-der-ehemalige-gymilehrer-carl-bossard/

Wenn es konkret wird, dann wird besonders gern um ein Problem herumgeredet. Auf die Frage von Frau Schmoll nach den ausgebliebenen Effekten eines Sprachförderungsprogramms in Berlin in dreistelliger Millionenhöhe antwortet Herr Becker-Mrotzek mit dem Hinweis auf einige Hamburger Schulen. Dabei ist er Mitglied der Expertenkommission zur Verbesserung der Schulqualität in Berlin. Ich bin selbst in Berlin (West) zur Schule gegangen, aber meine Meinung zur gegenwärtigen Berliner Schulpolitik sollte ich hier nicht schreiben, weil das die Regeln der Höflichkeit verbieten. Wen es interessiert, der schaue in die Wahlprogramme der jetzt regierenden Parteien SPD, Grüne, Linke (auf Landesebene) und in den Koalitionsvertrag von 2021. Es wird ja in Kürze neu gewählt wegen administrativer Unfähigkeit bei der Wahl 2021. Zwei der drei Parteien wollen am liebsten die 5. und 6. Gymnasialklassen abschaffen, und der Koalitionsvertrag möchte in der “Regenbogenhauptstadt” die “lesbische Sichtbarkeit” erhöhen und wünscht mehr “Diversity- und Queerkompetenzen in allen pädagogischen Berufen”.

Die Kita soll es richten, was Sprache betrifft.

Die Heterogenität in den Schulen soll ausdrücklich erhöht (!) werden, auch in sog. Profilschulen, so als sei das eine große Tugend. Nicht untypisch für die Berliner Bürokratie: Als “zentralen Baustein einer neuen Qualitätsstrategie” möchte man ein neues Landesinstitut aufbauen,  das dann vermutlich auch wortreich um die Probleme drumherumreden wird. Die Gymnasien sollen “inklusiv” werden und das Probejahr sowie das “Abschulen” abschaffen. Die “Verbesserung der Sprachförderung durch den Ausbau der Sprachkitas” steht auch drin, aber von solchen nüchternen Themen wie schulische Leistungen oder Lesen, Schreiben, Rechnen in Grundschulen ist nicht die Rede. Die Kita soll es richten, was Sprache betrifft. Regierungen und politische Parteien haben eben eine Sichtweise auf die Dinge von “weiter oben” und nicht die “Froschperspektive” aus den Niederungen des einfachen Volkes. So werden Kernaufgaben der Schule letztlich ausgehöhlt. Und all das liegt schwarz auf weiß auf dem Tisch, auch Herr Becker-Mrotzek weiß es.

Was wird noch in dem Interview geboten? Hier eine kleine Anthologie von Postulaten des Herrn Becker-Mrotzek aus dem Interview:
“Alle Kinder mit Förderbedarf müssen konsequent ein Förder- und Bildungsangebot bekommen”,
“Der Bildungsauftrag der Kita müsste ausbuchstabiert werden”,
“Wir brauchen einen breiten Konsens über den Stellenwert der frühen Bildung”,
“Benötigt wird ein systematischer Schrifterwerb, der den Erstklässlern auch zeigt, wie unsere Schrift funktioniert.”
“Dann muss man noch wissen, dass Hauptwörter großgeschrieben werden und dass einige Wörter anders ausgesprochen als sie geschrieben werden. Wenn man Hund sagt, hört sich das d wie ein t an, Hunde spricht man mit d und schreibt es mit d. Das ist eigentlich schon die ganze Orthographie, die man zu beachten hat.”

Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Volksschullehrer vor 100 Jahren das mit dem Üben vielleicht auch schon wussten oder zumindest ahnten.

Das klingt alles nicht so, als müsse man ein hochrangiger institutsleitender Spezialist für den Spracherwerb sein, um das sagen zu können. Wissen das nicht alle Lehrer? Immerhin verrät er uns eine wichtige Erkenntnis: “Das muss man fortwährend beobachten und dann auch entsprechend üben. Ich glaube, dass das Üben von Lesen und Schreiben zu kurz kommt. Das Üben ist über lange Zeit gerade im Deutschunterricht diskreditiert (!) worden.”

So platt wie alte Fussballweisheiten.

Hört, hört! Haben wir hier eine wichtige Ursache für die Misere gefunden? Und wie kam das? Hatte vielleicht die pädagogische bzw. didaktische Wissenschaft das Üben diskreditiert? Ist es etwa von Schulbürokraten im Zuge von Sparmassnahmen wegrationalisiert worden? Oder waren es Außerirdische oder politische Extremisten? Egal, für diesen Satz sollten wir Herrn Becker-Mrotzek wirklich dankbar sein, und beherzigen sollte man ihn auch. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Volksschullehrer vor 100 Jahren das mit dem Üben vielleicht auch schon wussten oder zumindest ahnten. Für Fußballtrainer ist das alles wohl klar, sie wussten schon immer: “Der Ball ist rund, ein Spiel dauert 90 Minuten, und Trainieren ist unverzichtbar für den Erfolg.” Da kann niemand widersprechen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag
Wolfgang Kühnel

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