Wenn Kinder schon mit drei Jahren zählen können, sich im Kindergartenalter lieber mit Dinosaurierarten als mit Bauklötzen beschäftigen und in der Grundschule zu den Überfliegern gehören, steht schnell ein Verdacht im Raum: Das Kind ist hochbegabt! Nicht selten vermuten Eltern auch dann eine überdurchschnittliche Begabung, wenn ihr Kind sich in der Schule und bei den Hausaufgaben langweilt oder den Unterricht stört, weil es anscheinend unterfordert ist.
Ganz so einfach ist es aber nicht. Personen mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von 130 und mehr gelten als hochbegabt, ihre kognitive Leistungsfähigkeit ist also besonders hoch. Einen solch hohen IQ haben lediglich rund zwei Prozent der Bevölkerung. „Die Zahl 130 ist nicht in Stein gemeißelt, gilt aber als geläufige Definition einer Hochbegabung“, sagt Michael Wolf, fachlicher Leiter und Psychologe am Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland in Brühl.
Einen solch hohen IQ haben lediglich rund zwei Prozent der Bevölkerung.
Wie aber können Eltern erkennen, ob ihr Sprössling zu den wenigen Ausnahmen gehört, deren Gehirn zu ständigen Höchstleistungen in der Lage ist? „Um festzustellen, ob ein Kind besonders begabt ist, kommt man an einer ausführlichen Diagnostik inklusive wissenschaftlich-psychologischer Tests nicht vorbei“, erklärt Wolf.
Es gibt jedoch Merkmale, die, wenn sie sich häufen, auf eine Hochbegabung hinweisen können: Etwa wenn kleine Kinder einen deutlichen Entwicklungsvorsprung gegenüber ihren Altersgenossen haben und zum Beispiel ihr Wortschatz schon früh sehr groß ist. Oder wenn sie sich im Kleinkindalter selber Lesen und Schreiben beibringen, über eine ausgesprochen gute Beobachtungsgabe und ein ebenso gutes Gedächtnis verfügen und einen Hang zum Perfektionismus haben.
„Auch wenn Kinder sich schon früh für vermeintliche Erwachsenenthemen interessieren und spezielle Formen von Humor verstehen können, etwa Ironie und Sarkasmus, kann das auf eine Hochbegabung hinweisen“, sagt Wolf. Gleiches gelte für ein stark ausgeprägtes Interesse an bestimmten Themen – seien es Naturwissenschaften, Klassik-Kompositionen oder Automarken.
Der Psychologe warnt jedoch davor, überstürzt falsche Schlüsse zu ziehen. Insbesondere Checklisten im Internet führten schnell in die Irre – und seien meist vage formuliert. Bei Babys und Kleinkindern könne sich ein Entwicklungsvorsprung auch wieder „herauswachsen“, und selbst im Grundschulalter lasse sich nicht immer schon eine eindeutige Aussage zu einer eventuellen Hochbegabung eines Kindes treffen, sagt Wolf.
Tests sind aussagekräftig
„Im Alter von zwölf bis 14 Jahren ist die körperliche und geistige Entwicklung in der Regel so weit fortgeschritten, dass sich eine besonders hohe kognitive Leistungsfähigkeit valide feststellen lassen kann“, sagt Wolf. Kaum etwas lasse sich so gut messen wie Intelligenz, erklärt der Psychologe. Die Aussagekraft eines Intelligenztests sei entsprechend hoch. Aber: „Nur kombiniert mit umfassenden Beratungs- und Analysegesprächen mit Eltern und Kind, ergibt sich ein klares Bild.“
Viele Hochschulen bieten begabungspsychologische Beratungsstellen an.
Eltern, die bei ihrem Kind eine Hochbegabung vermuten, können sich bei verschiedenen Anlaufstellen beraten lassen. Oft können schon Kinderärzte erste Hinweise auf eine besondere Begabung geben und gegebenenfalls an einen spezialisierten Kinderpsychologen verweisen.
Auch Schulpsychologen eignen sich als Ansprechpartner, ebenso Universitäten: Viele Hochschulen bieten begabungspsychologische Beratungsstellen an. Der Verein Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) und die Karg-Stiftung haben sich die Förderung hochbegabter Kinder ebenso zur Aufgabe gemacht wie die Beratung von Eltern und Familien.
Etwa ein Drittel der Kinder, die im Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland getestet und beraten werden, sind tatsächlich hochbegabt, schätzt Wolf. Ein konkreter Beratungsanlass bestehe aber in fast allen Fällen: Wenn ein Kind in der Schule Probleme habe, sei nicht immer klar erkennbar, woran das liegt – und ob das Kind vielleicht tatsächlich unterfordert sein könnte.
Zumal nicht jeder Hochintelligente in der Lage sei, sein Potenzial vollumfänglich abzurufen. „Das trifft auf zehn bis zwölf Prozent der Hochbegabten zu. Sie sind sogenannte Underachiever, leisten in der Schule also weniger, als man angesichts ihres hohen IQs erwarten könnte.“
Hochbegabte sind meist keine Außenseiter
Die Prozentzahl zeigt: Dass viele Hochbegabte sich in der Schule langweilen oder besonders anstrengend verhalten, ist ein Mythos. „Bei Hochbegabung denken viele an Nerds wie Sheldon Cooper aus der TV-Serie ‚The Big Bang Theory‘. Solche Charaktere gibt es unter Hochintelligenten, aber längst nicht so oft, wie viele glauben“, sagt Wolf.
Das Ergebnis: Die Kinder sind in der Regel keine Außenseiter, sondern sozial gut integriert und angepasst.
Das Sozialverhalten, die Kindheit, Schulzeit und das Berufsleben besonders begabter Menschen verliefen meist genauso wie bei durchschnittlich Intelligenten auch. Der Marburger Intelligenzforscher Detlef Rost hat das im „Marburger Hochbegabtenprojekt“ belegt: Rost beobachtete über 25 Jahre hinweg 151 hochbegabte Kinder vom dritten Schuljahr an.
Das Ergebnis: Die Kinder sind in der Regel keine Außenseiter, sondern sozial gut integriert und angepasst. Sie sind nicht ängstlicher oder viel sensibler als ihre Altersgenossen. Und die meisten von ihnen kommen auch in einer Regelschule gut zurecht.
Davon ist auch Birgit Lehfeldt überzeugt. Dass besonders intelligente Kinder immer besonders gute Schüler sind, hält sie jedoch für einen Mythos. Als Pädagogin und Beratungslehrkraft für Fragen der Begabtenförderung in Schleswig-Holstein hat Lehfeldt regelmäßig Kontakt mit begabten Kindern und deren Eltern. „Damit Kinder ihr volles Potenzial abrufen können, spielen viele Faktoren eine Rolle – natürlich eine gute Förderung in Kita und Schule und auch das soziale und familiäre Umfeld.“
Kostenlose Begabtenförderung
Denn damit hochbegabte Kinder sich bestmöglich entwickeln und ihr Potenzial abrufen können, ist Förderung essenziell, die zum Entwicklungsstand des Kindes passt. Eltern könnten abseits der Schule vieles tun, um den Wissensdurst ihres Kindes zu stillen, sagt Lehfeldt.
Sie könnten zum Beispiel mit ihrem Kind den Zoo oder Museen besuchen, den Sprössling in der Musikschule anmelden oder ihm Bücher kaufen, die seinen individuellen Interessen entsprechen. „Viele Eltern fördern ihr Kind ohnehin auf diese Weise“, weiß Lehfeldt.
„In der Lehrerausbildung spielt das Thema Hochbegabung immer noch eine viel zu kleine Rolle“, sagt Lehfeldt.
Bei hochbegabten Kindern sei es sinnvoll, ergänzende Angebote zu nutzen – auch, um sie mit Gleichgesinnten in Kontakt zu bringen. Die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind zum Beispiel biete regelmäßig Gruppen für Kinder verschiedenen Alters an, in denen sich sowohl Kinder als auch Eltern austauschen können“, sagt die Pädagogin. „Auch Ferienfreizeiten und Sommerakademien für Hochbegabte sind eine sinnvolle Anlaufstelle.“ Für Kinder, deren Eltern dafür die finanziellen Mittel fehlen, gibt es auch einige kostenlose Angebote zur Begabtenförderung, etwa Stipendien. Eltern sollten in jedem Fall den Kindergarten oder die Schule einbeziehen, wenn bei ihrem Kind eine besondere Begabung festgestellt wurde. „In der Lehrerausbildung spielt das Thema Hochbegabung immer noch eine viel zu kleine Rolle“, sagt Lehfeldt. „Nicht jeder Pädagoge kann daher heute ein besonders begabtes Kind erkennen oder es optimal fördern.“
In Gesprächen mit Lehrern und Schulleitung können Eltern gemeinsam mit ihrem Kind überlegen, ob es zum Beispiel sinnvoll wäre, eine Klasse zu überspringen oder in bestimmten Fächern den Unterricht höherer Klassen zu besuchen. Auch Universitäten bieten leistungsstarken Schülern an, ihre Lehrveranstaltungen zu besuchen. Für die meisten Kurse gibt es sogar Leistungsnachweise, die sich auf das spätere, reguläre Studium anrechnen lassen.