Als Mutter würde sie sich Sorgen machen, sagte Dagmar Rösler jüngst vor den Medien, als sie über den Lehrermangel an den Schulen klagte. Rösler ist Präsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbands Schweiz, und ihre Aussage wirkte ähnlich konsternierend wie jene des Chefs der Elektrizitätskommission, der tags zuvor die Bevölkerung aufgerufen hatte, sich für den Winter mit Holz und Kerzen einzudecken.
An Ideen, wie der Misere in den Schulen entgegengewirkt werden kann, fehlt es derzeit nicht: Es brauche eine andere Lehrerausbildung, tiefere Hürden, höhere Hürden, mehr Lohn, mehr Vollzeit-Lehrer, mehr Entlastung, mehr Geld, eine Bildungsoffensive gar. Ähnlich wie bei der Energiekrise stellt sich allerdings auch beim Thema Schule die Frage, ob die Bildungspolitiker, Bürokraten oder Präsidenten von Lehrerverbänden, die nun mit neuen Rezepten daherkommen, die Richtigen sind, um die Probleme zu lösen. Schliesslich waren sie es, die in den letzten Jahren die Bildungspolitik bestimmt, Reformen beschlossen oder zumindest mitgetragen haben.
Nach der Pension wieder Klassenlehrer
Auch Alain Pichard hat seine Zweifel. Der Lehrer aus Biel weist seit langem auf Irrläufe in den Klassenzimmern hin und zählt zu den bekanntesten Kritikern der Schulreformen der jüngeren Vergangenheit: vom Lehrplan 21 über die Abschaffung der Kleinklassen bis zum frühen Fremdsprachenunterricht. Inzwischen ist Pichard auch zum Kantonspolitiker geworden. Dieses Jahr wurde der 67-Jährige für die Grünliberalen in den Berner Grossrat gewählt und sitzt nun in der Bildungskommission. Daneben gibt er weiterhin Schule.
Im Sommer 2021 trat er in den Ruhestand, doch es dauerte nicht lange, bis man ihn für Stellvertretungen anfragte. Schliesslich liess er sich dazu überreden, nochmals voll einzusteigen und eine Klasse zu übernehmen. Pichard unterrichtet nun an einer sogenannten Brennpunktschule – weniger euphemistisch: einer Ghettoschule mit hohem Ausländeranteil –, die von seiner Frau geleitet wird.
Wie beurteilt er die Alarmstimmung rund um den Lehrermangel? «Die Lage ist sicher ernst, vor allem für die Kinder der unterprivilegierten Schichten. Doch wir haben derzeit nur die Wahl zwischen schlechten und noch schlechteren Lösungen. So ist es sicher nicht ideal, wenn sich Schulen mit Hilfspersonen behelfen, die nicht über ein Lehrdiplom verfügen. Unter ihnen gibt es zwar grosse Talente, die einen guten Draht zu den Schülern haben, aber bei den Unterrichtsmethoden hapert es dann oft.»
Es geht um Kontrolle und darum, sich Aufträge zu sichern, als Lehrplanentwickler, Lernberater, Dozent an einer pädagogischen Hochschule oder anderes.
Handkehrum bilde man so viele Lehrer und Heilpädagogen aus wie noch nie, an Nachwuchs fehle es also nicht. Auch würden nicht so viele Lehrer aus dem Job aussteigen, wie oft behauptet werde. «Die Arbeitsbedingungen für Lehrer sind insofern vorteilhaft, als man den Beruf sehr gut mit der Familie, Hobbys oder langen Reisen vereinbaren kann. Und man verdient anständig.» Den Lehrern höhere Löhne zu zahlen, hält Pichard nicht für dringend: «Die Lehrer flüchten heute in Teilzeitarbeit, und bei höheren Löhnen würden noch mehr von ihnen reduziert arbeiten. Kurzfristig liegt der Hebel vor allem darin, dass man sie ermuntert, ihr Pensum zu erhöhen. In Bern liegt die durchschnittliche Anstellung der Lehrkräfte bei 60 Prozent!»
Lehrer wehren sich kaum
Für Pichard, den Praktiker mit mehr als 40 Jahren Lehrerfahrung, gründen die Hauptprobleme der Schule tief. «Man hat der Schule immer mehr Aufgaben aufgebürdet und sieht nun, dass es so nicht geht. Nach der ersten Pisa-Studie 2001, die zum ‹Schock› hochstilisiert wurde, entstand eine neue Allianz zwischen Politik, Verwaltung und Wissenschaft. Dort sitzen die Leute, die heute das Sagen haben, und für sie stehen nicht in erster Linie die Bedürfnisse der Schule und der Schüler im Vordergrund, sondern die eigenen Interessen. Es geht um Kontrolle und darum, sich Aufträge zu sichern, als Lehrplanentwickler, Lernberater, Dozent an einer pädagogischen Hochschule oder anderes. Mit Bildung lässt sich sehr viel Geld verdienen.»
Da stellt sich die Frage, warum diese «Allianz» offenbar weitgehend freie Hand hat und nicht mehr Widerstand von den Lehrern kommt – schliesslich sind sie es, welche die Reformen im Alltag umsetzen müssen. «Die Lehrer sind tendenziell utilitaristisch, und die jüngere Generation ist auch nicht mehr wirklich politisch engagiert», meint Pichard. Man arrangiere sich oder versuche, das System zu unterlaufen, um guten Unterricht geben zu können.
Niemand will zurück zum früheren System, wo man schwierige Kinder allzu schnell in Sonderklassen versorgt hat; wir müssen das Konzept weiterentwickeln.
Zurück zu den Kleinklassen
Doch nun regt sich Widerstand, ein klein wenig zumindest. Ausgerechnet der baselstädtische Lehrerverband – laut Pichard der am meisten obrigkeitsgläubige der Schweiz – verlangt mit einer Volksinitiative die Kleinklassen zurück. Der Basler Bildungsdirektor ist gar nicht erfreut über den Vorstoss der Lehrer, und auch Heilpädagogen und Dozenten für inklusive Didaktik wollen am Dogma der Integration festhalten.
Doch für Pichard ist völlig klar, dass es Kleinklassen braucht. «Niemand will zurück zum früheren System, wo man schwierige Kinder allzu schnell in Sonderklassen versorgt hat; wir müssen das Konzept weiterentwickeln. In Biel haben wir Kleinklassen, die in der Schule integriert und eng im Schulleben eingebaut sind. Dort funktioniert auch die Durchlässigkeit. Die Kinder machen mit beim Sport und sind an allen schulischen Anlässen dabei. Das verläuft nicht reibungslos, aber es ist entschieden besser, als alle verhaltensauffälligen oder lernbehinderten Kinder zusammen mit den anderen zu unterrichten.»
Leseschwäche und Frühfranzösisch
Ein weiteres grosses Ärgernis für Pichard ist das Fremdsprachenkonzept, das ebenso ideologisch gefärbt sei wie die integrative Schule. «Jeder fünfte Schüler erfüllt nach neun Schuljahren nicht einmal die niedrigsten Standards beim Lesen. Für ein Land wie die Schweiz ist das skandalös. Und was tut man? Man führt Frühfranzösisch ein.»
In sechs Kantonen fängt der Frühfranzösisch-Unterricht in der dritten Primarklasse an. Die Ergebnisse sind alles andere als befriedigend, die mit sehr viel Geld erstellten Lehrmittel erwiesen sich als untauglich. Warum ändert man das Konzept nicht, wenn es doch offenkundig nicht funktioniert? «Weil schon zu viel Geld investiert wurde, 100 Millionen Franken sind es gesamthaft – man muss sich das vorstellen!», sagt Pichard. «Jetzt will niemand zugeben, dass man einen Fehler begangen und das Geld in den Sand gesetzt hat. Und so bricht man das Frühfranzösisch nicht ab, was das Beste wäre, sondern fabuliert neu von einem gesamtschweizerischen Sprachenaustausch oder von Immersionsunterricht.»
Die Gesellschaft muss sich entscheiden, ob sie die Schule als Lernort oder als Betreuungsort haben will.
Weniger Lektionen sind mehr
Ginge es nach Alain Pichard, so müsste die Schule dem Motto «Weniger ist mehr» folgen. «Wir müssen zurückfahren mit den vielen Lektionen. Und wir müssen Lehrer hinstellen, die wirklich gut sind. Die Gesellschaft muss sich entscheiden, ob sie die Schule als Lernort oder als Betreuungsort haben will. Da sollte man auch etwas unkonventionell denken. Wenn die Schule Ziele verfolgt, die ausserhalb des Unterrichts liegen, muss sie Kooperationen eingehen. So könnte ich mir vorstellen, dass der Lernunterricht etwas später beginnt, die Schüler aber vor und nach der Schule betreut werden, beispielsweise von Sport- oder Kulturvereinen oder der Jugendarbeit. Für den eigentlichen Lernunterricht könnten wir dann mehr ausgebildete Lehrkräfte einsetzen. Ich denke da auch an Ganztagesschulen.»
Pichard will ein Sandkorn im Getriebe der Bildungsbürokratie bleiben, als Lehrer und auch als Politiker. Und er will in seinem reformkritischen «Condorcet-Blog», den er zusammen mit anderen Autoren betreibt, weiterhin den populären Mythen in der Bildungspolitik auf den Grund gehen und fragen: «Stimmt das überhaupt?»