Als sich die Kunde verbreitet hat, dass ich nach einem halben Jahr Rentnerdasein wieder im Schuldienst tätig bin – und zwar in dem Schulhaus, in dem ich vor 45 Jahren meine Lehrerkarriere startete und in der meine Frau als CO-Schulleiterin wirkt, gab es Leute, die Bescheid wussten: «Ja, der Pichard, er ist halt ein Vollblutlehrer, er kann es nicht lassen.» Wer meine Biografie kennt, der könnte solche Aussagen für durchaus plausibel halten. Das Problem: Sie stimmen nicht, überhaupt nicht. Ich brauche diesen Einsatz weder finanziell noch suche ich einen Ausweg aus einem geruhsamen Rentnerdasein.
Mich erreichten in den vergangenen Monaten viele Anfragen für Stellvertretungen, darunter auch einige Notrufe. Der Grund ist der Öffentlichkeit schon lange bekannt, wenn auch in seinen Dimensionen kaum bewusst. Der Lehrkräftemangel macht sich immer deutlicher bemerkbar. Und die Spitze ist noch gar nicht erreicht. In zwei Jahren werden allein im Kanton Bern 600 weitere Lehrkräfte pensioniert. Vor knapp 10 Jahren lag die Rate noch bei 50!
Leidtragende sind die Schülerinnen und Schüler der Primarstufe und der Sekundarstufe 1. In ihrer Not stellen die Schulleitungen Personal ein, die weder über ein Patent noch über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügen. An meiner ehemaligen Schule arbeiten derzeit zwei Lehrkräfte, die kaum Deutsch sprechen. Auf Ausschreibungen melden sich Mediamatikerinnen aus der Ostschweiz, eine Militärhistorikerin aus Serbien, ein entlassener Elektroingenieur und viele andere berufsfremde Leute.
Hinzu kommt, dass die Schulen gerade erst aus einem zweijährigen Albtraum herausfinden müssen. Zwei Jahre Coronamassnahmen, Lockdowns, Quarantänepflicht, Maskenobligatorium, Absagen von Skilagern und Schulanlässen, unzählige Stundenausfälle, Massentests, erkrankte Lehrkräfte, Homeoffice und verzweifelte Eltern brachten die Lehrkräfte unseres Landes an die Grenzen der Belastbarkeit. Und sie liessen auch teilweise stark verunsicherte Schülerinnen und Schüler zurück.
Die Kinder des Mittelstands werden diese Krise einigermassen überstehen. Die Unterstützung des Elternhauses, finanzielle Reserven, gute digitale Ausrüstung, Nachhilfestunden, Wohnortwechsel, Privatschulen – der Mittelstand weiss sich zu helfen.
Es sind wieder einmal die Kinder der unterprivilegierten Schichten, die in dieser Situation unter die Räder zu geraten drohen und keine Lobby haben. Ihnen gilt meine Solidarität. Sie gilt aber auch den Lehrkräften, die standhalten, ihr Pensum aufstocken, ihre Arbeitszeit ausdehnen und die ihnen anvertrauten Jugendlichen nicht im Stich lassen. Dies ist unter anderem auch der Fall im OSZ-Mett-Bözingen, einer Brennpunktschule in Biel. Die Lehrkräfte, die ich dort angetroffen habe, leisten Grossartiges und es ist eine Ehre, ihnen helfen zu dürfen. Das mag jetzt pathetisch klingen, aber ich halte diese Situation für die grösste Bedrohung der Chancengerechtigkeit in unserem Land. Es gibt Situationen, in denen nicht politische Galaschwätzer gefragt sind, sondern resiliente Berufsleute. Während der Coronazeit waren es Ärzte, Pflegekräfte, Verkäuferinnen, jetzt sind wir es, die Praktiker der Bildung.
In dieser prekären Situation sind alle Leute gefragt, denen die Bildung am Herzen liegt. Die PH-Bern hat bereits reagiert. Ähnlich wie in den sechziger Jahren, als ebenfalls ein Lehrkräftemangel herrschte und ganze Jahrgänge in halbjährige Praktikas geschickt wurden, werden jetzt Ausbildungsgänge verlängert, damit die PH-Studentinnen und -Studenten in den Schulen eingesetzt werden können. Das wird allerdings nicht reichen.
Wir brauchen auch die älteren pensionierten Lehrkräfte, sie sollten in der gegenwärtigen Situation mindestens einige Wochen ihres Rentnerdaseins opfern, um den Migrantenkids beizustehen, ihnen über diese kritische Phase zu helfen.
Sie sollten ihre geschützte Werkstatt einige Monate verlassen und versuchen, ihre didaktischen Konzepte nun in der schulischen Alltagsrealität auszuprobieren.
Mein Appell geht allerdings auch an die PH-Dozentinnen und -Dozenten, an die Lehrplanentwickler, die Redaktoren der Bildungsblätter, die Funktionärinnen und Funktionäre, alles ehemalige Lehrkräfte, die uns seit Jahren mit unausgegorenen, praxisfremden Vorgaben Stirnrunzeln verursacht und belustigt haben. Sie sollten ihre geschützte Werkstatt einige Monate verlassen und versuchen, ihre didaktischen Konzepte nun in der schulischen Alltagsrealität auszuprobieren. Wenn sie Erfolg haben, wäre es für sie die beste Werbung, wenn sie scheitern, können sie in Anspruch nehmen, einen äusserst wertvollen solidarischen Einsatz geleistet zu haben. Und sie werden zudem mit etwas belohnt, das der Gymnasiallehrer Sandro Trunz folgendermassen ausdrückte: «Es ist cool zu sehen, welche Entwicklung viele dieser Kids machen, wenn sie richtig geführt werden, wenn man sich für sie interessiert und etwas von ihnen verlangt. Du erzielst hier in kürzester Zeit sichtbare Effekte. Und du spürst ihre Dankbarkeit. Ich möchte zurzeit nicht an einem Gymnasium arbeiten. Ich mache hier einen eminent nützlichen und wichtigen Job. Das ist auch eine Belohnung.» (https://condorcet.ch/2022/04/das-kann-ich-den-kids-nicht-antun/ )
Einem ausgebildeten Gymnasiallehrer, der sich bereit erklärt, an der Sekundarstufe 1 zu unterrichten, einen Lohnabzug von 10% wegen nicht adäquater Papiere aufzubrummen, ist ohnehin schon absurd. In der gegenwärtigen Situation ist diese Verordnung geradezu fahrlässig.
Und die Rituale, in denen Schulinspektorinnen und Schulpflegemitglieder während ihres Kontollbesuchs in den Schulen einfach die verlangten Konzepte auf ihr Existieren hin abhaken, könnte man getrost durch zweitätige Besuche in allen Klassenzimmern der Schulhäuser ersetzen. Ein Realitätscheck schadet nie. Und die im Einsatz stehenden Lehrkräfte und Schulleitungen haben das Recht, eine Zeitlang von diesem hohlen Prozedere in Ruhe gelassen zu werden. Sie haben Wichtigeres zu tun.
Eine erste und leicht zu vollziehende Massnahme könnte das Kantonsparlament in Bern vollziehen. Einem ausgebildeten Gymnasiallehrer, der sich bereit erklärt, an der Sekundarstufe 1 zu unterrichten, einen Lohnabzug von 10% wegen nicht adäquater Papiere aufzubrummen, ist ohnehin schon absurd. In der gegenwärtigen Situation ist diese Verordnung geradezu fahrlässig.
Natürlich müssen sich die politisch Verantwortlichen fragen, wie es zu dieser prekären Situation hat kommen können, die man ja schon seit Längerem vorhergesagt hat. Aber jetzt ist nicht die Zeit für solche Diskussionen. Es braucht dringend Massnahmen, welche die gegenwärtige Lage mildern.
In der aktuellen Krise schlägt die Stunde der Schulpraktiker. Für fragwürdige Schulexperimente, für unnötige Zertifizierungsübungen, für administrativen Leerlauf und für das Herumschlagen mit notorischen Nörglern haben die Schulen jetzt wirklich keine Zeit. Hoch willkommen jedoch sind alle, die tatkräftig mithelfen, den Lehrermangel auf sinnvolle Weise zu überbrücken. Alain Pichard macht es vor, was pensionierte Lehrkräfte tun können. Er steigt wieder in den Schuldienst ein und zeigt mit seinem Beispiel, dass es mehr als schöne Worte braucht. Lehrerinnen können den Schulkindern zuliebe ihre Pensen vorübergehend leicht erhöhen, wo dies die familiäre Situation erlaubt. Pädagogische Hochschulen haben vor ihre Studierenden vorzeitig in die Klassen zu schicken und es ist zu hoffen, dass professionelle Didaktiker zur Unterstützung der jungen Leute von Projekten freigestellt werden. Vieles wird bereits getan, manches ist am Anrollen.
Und was tun lautstarke Bildungspolitiker in dieser wichtigen Phase? Einige schweigen, und das ist nicht einmal das Dümmste. Doch ihre Aufgabe wäre es eigentlich, all die Hemmnisse in den Schulen abzubauen, welche das tägliche Unterrichten erschweren. Dringend nötig wäre ein schonungsloses Überprüfen umstrittener Reformen und aufwändiger administrativer Massnahmen der letzten Jahre. Und nicht zuletzt wäre es auch die Aufgabe einer mutigeren Bildungspolitik, den Ursachen des Lehrermangels auf den Grund zu gehen. Wie Alain Pichard schreibt, hat die Lehrerschaft jetzt dafür keine Zeit. Doch für verantwortungsbewusste Bildungspolitiker liegen die Aufträge auf der Hand.