«Kann man denn auch nicht lachend sehr ernsthaft sein?», heisst es in Gotthold Ephraim Lessings «Minna von Barnhelm».[1] Lachend ernsthaft sein – eine wunderbarbare dialektische Grundhaltung. Gegensätzliches verbinden, vordergründig Widersprüchliches vereinen – und daraus Synergien gewinnen. Dieses Prinzip sei das Geheimnis guter Lehrerinnen und wirksamer Pädagogen, sagt die berühmte Rutter-Studie «15 000 Stunden. Schule und ihre Wirkung auf Kinder».[2] Solche Lehrpersonen würden fachliche Strenge mit mitmenschlichem Einfühlungsvermögen verbinden und seien darum so erfolgreich. Sie geben dem anspruchsvollen Unterricht eine heitere Note. Lachend ernsthaft sein, das kann viel bewirken.
Freiheit und Ordnung zugleich
Die Schule kennt manche solcher Gegensatzpaare. Auf den ersten Blick erscheinen sie wie Feuer und Wasser. Berühmt ist Immanuel Kants vielzitierte Frage: «Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?»[3] Die beiden Begriffe widersprechen sich – je nach Perspektive, aus der man argumentiert. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, und so bedingen sie sich. Jede Freiheit bedarf einer gewissen Sicherheit, eines Rahmens, innerhalb dessen sie sich bewegen kann. Und jede Sicherheit schafft auch Freiheit, weil sie einen Rahmen stellt, innerhalb dessen man wieder frei sein kann. Gute Lehrerinnen und Lehrer geben den Kindern darum Sicherheiten, ohne ihnen die Freiheit zu nehmen. Und sie geben ihnen so viel Freiheit, dass sie nicht im Unsicheren mäandrieren. «Ohne Ordnung», sagt Albert Einstein, «kann nichts bestehen, ohne Chaos aber – oder eben ohne Freiheit – kann nichts entstehen.»
Gute Lehrerinnen und Lehrer geben den Kindern darum Sicherheiten, ohne ihnen die Freiheit zu nehmen.
Anders formuliert: Kinder und Jugendliche sollen zur Autonomie geführt werden, doch sie brauchen dazu auch Strukturen, die sie stützen, ein stabiles Geländer, das ihnen Halt und Sicherheit vermittelt. Es ist die vital präsente Lehrperson, es ist ein anregendes und führendes Gegenüber. „Pädagoge“ entspringt ja dem griechischen paid-agogein, „Kinder führen“. Führen, nicht nur betreuen und begleiten.
Einseitigkeiten im pädagogischen Alltag
Darum erstaunt es, wenn Schulgemeinden auf Einseitigkeiten setzen und das Dialektische des pädagogischen Berufs verkennen. So fragt eine Luzerner Stadtgemeinde bei der Suche nach einer neuen Lehrperson explizit: Siehst du dich «als Coach und Lernbegleiter*in und nicht als Wissensvermittler*in»? Wie wenn es im Schulzimmer nicht beides bräuchte und beides zu den Gelingensfaktoren guten Lernens gehörte?
Solches Polaritätsdenken vergisst, dass Schule keine Entweder-oder-Institution ist, sondern vom Sowohl-als-Auch lebt. Kinder empfangen vermutlich die stärksten Impulse von Lehrerinnen, die einfühlsam begleiten und gleichzeitig systematisch Wissen und Können aufbauen, also Inhalte vermitteln. Solche Lehrer verbinden zielgerichtete Konsequenz mit einer humanistischen Grundverpflichtung.
Solche Pädagogen holen die Jugendlichen nicht dort ab, wo sie als junge Menschen stehen. Aber sie wecken in ihnen vielleicht den Wunsch, dorthin zu kommen, wo sie als Lehrer und Vorgesetzte schon sind!
Dorthin kommen, wo die Vorbilder schon sind!
Ein anderes Beispiel: Die Schule solle Kinder und Jugendliche dort abholen, wo sie stehen. Das unterschreiben alle, und als didaktisches Prinzip ist es auch richtig. Doch als alleiniger Fokus formuliert, scheint es zu wenig; es fehlt die komplementäre Perspektive.
Dieses Dialektische findet sich bei manchen Schriftstellern, wenn sie von ihren Lehrerinnen und Lehrern erzählen. So schwärmt Thomas Hürlimann von seinem Physiklehrer an der Stiftsschule Einsiedeln, Pater Kassian: «Er war mitreissend. […] Er war ein exzellenter Lehrer, weil er uns mit seiner Leidenschaft ansteckte.» Solche Pädagogen holen die Jugendlichen nicht dort ab, wo sie als junge Menschen stehen. Aber sie wecken in ihnen vielleicht den Wunsch, dorthin zu kommen, wo sie als Lehrer und Vorgesetzte schon sind! Viele haben solchen Lehrpersonen und Vorbilder erlebt.
Das Klassenkollektiv als komplexes Sozialgebilde
Wer in den Unterricht zoomt und in das pädagogische Parterre hineinhorcht, erkennt eines sehr schnell: Der schulische Alltag ist höchst anspruchsvoll. Nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, auch für die Lehrperson. In der Regel hat sie es – im Gegensatz zum Arzt oder Psychotherapeuten – nicht mit einem individuellen Gegenüber zu tun, sondern mit einem Kollektiv. Schulklassen sind ein äusserst komplexes Sozialgebilde und in ihrer Dynamik vielfach nur schwer vorhersehbar.
Die heutige Heterogenität eines Klassenverbandes macht die Aufgabe noch anspruchsvoller. Zu vieles entzieht sich der direkten Steuerung, zu vielschichtig ist das soziale Gefüge eines Klassenverbandes, zu sehr unterscheidet sich das pädagogische Geschehen von einem industriellen Output-Verfahren, als dass es ethischen Ansprüchen und moralischen Dilemmasituationen ausweichen könnte. Die alltägliche Dialektik!
Zur guten Lehrperson gehören das Gegenhalten, Intervenieren, Konfrontieren. Lernen erfolgt auch am Widerstand.
Der Schulalltag ist geprägt vom Dialektischen
Wer unterrichtet, muss darum auf zwei Beinen stehen, meistens auf zwei gegensätzlichen: Erziehung und Unterricht lassen sich beispielsweise nicht auf Empathie allein reduzieren. Zur guten Lehrperson gehören das Gegenhalten, Intervenieren, Konfrontieren. Lernen erfolgt auch am Widerstand: das zweite Standbein.
Doch propagiert wird meist nur eines: «Lehrer müssen empathisch sein!», heisst es. Sicher! Die Realität aber verlangt mehr; der Alltag erfordert das Dialektische: Empathie und Widerstand; verstehen und nicht mit allem einverstanden sein. Achtsam sein und gleichzeitig Konzentration und Disziplin verlangen, das Kollektiv im Auge behalten und jeden Einzelnen im Blick haben. Die Lehrerin arbeitet im widersprüchlichen Feld von Freiheit und Ordnung; das Wirken des Lehrers bewegt sich zwischen Sozialisation und Individuation, zwischen kultureller Integration und Vermitteln von Lerninhalten sowie Einüben von Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des Scheiterns.
Spannkraft und Energie fürs Mögliche finden
Dieses Dialektische lässt sich nicht auflösen. Lehrpersonen müssen es aushalten, reflexiv handhaben und daraus die pädagogische Spannkraft und Energie fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Das ist nicht immer leicht, der Idealfall nie Realität, aber er bleibt als Aufgabe. Darum wohl hätten Lehrerinnen und Lehrer den „schönsten, schwierigsten und schwersten Beruf der Welt“, schreibt Thomas Hürlimann in seinem heiter-klugen Essay «Die pädagogische Provinz».[4] Sie müssen in ihrer anspruchsvollen Aufgabe Gegensätzliches verbinden. Eben: Lachend ernsthaft sein.
[1] Gotthold Ephraim Lessing (1969), Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück. Zürich, Schulthess & Co., S. 74.
[2] Michael Rutter et al. (1980), 15 000 Stunden. Schule und ihre Wirkung auf Kinder. Weinheim/Basel: Beltz Verlag.
[3] Immanuel Kant (1977), Über Pädagogik (1803), in: Ders.: Werkausgabe, Bd. 12. Hrsgg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. A 32.
[4] «Die pädagogische Provinz», in: Thomas Hürlimann (2008), Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand. Zürich: Amann Verlag, S. 109f.