5. Oktober 2024

Bildung und Demokratiefähigkeit

Demokratie braucht gebildete Bürgerinnen und Bürger. Das war der Schlachtruf der Helvetik. Sie revolutionierte das Bildungswesen. Gefragt war Lesekompetenz. Heute nimmt sie bei den Jugendlichen wieder ab. Eine Gefahr für unsere Demokratie?, fragt Concorcet-Autor Carl Bossard.

Condorcet-Autor Carl Bossard

Eine Studie der Universität Zürich gibt zu denken: Fast 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung konsultieren keine Nachrichten über Politik. Das ist für unsere direkte Demokratie ein Alarmsignal. Nachrichten oder „News“, wie sie heute heissen, lesen junge Erwachsene im Alter zwischen 19 und 24 Jahren nur noch während rund sieben Minuten – dies via Smartphone und im Tages-Durchschnitt gemessen. Wer Social-Media-Kanäle wie Instagramm oder TikTok benutzt, greife kaum auf journalistische Texte und publizistische Inhalte zurück. Das sei problematisch, heisst es im «Jahrbuch Qualität der Medien».[i]

Mehr Staatskundeunterricht gefordert 

Die Nachrichten-Abstinenz nimmt spürbar zu. Die Studie spricht von Deprivation oder von Mangelversorgung. Das hat Folgen. «News-Deprivierte», wie die Forscher es nennen, also uninformierte Staatsbürgerinnen und -bürger, beteiligen sich deutlich weniger an Abstimmungen und Wahlen.[ii] Es ist die brisante Frage politischer Teilhabe. Dass sie im Berner Bundeshaus Besorgnis auslöst, überrascht nicht. Gesellschaftliche Debatten und politische Prozesse brauchen informierte Bürgerinnen und interessierte Bürger.

Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt.

Die Politik reagiert. Und sie reagiert in gewohnter Manier. Man fordert von der Schule «mehr und verstärkten Staatskundeunterricht».[iii] Erneut sollen es Lehrerinnen und Lehrer richten. Wie wenn die Bildungspolitik die Schulen während der letzten Jahre inhaltlich nicht entgrenzt und sie ins fachliche Vielerlei gedrängt hätte. Jedes gesellschaftlich relevante Problem wurde flugs zu einem curricularen Inhalt umformuliert und in den Unterricht getragen – vom Frühfranzösisch bis zur Integration. Es ist immer die Addition, die helfen soll: diesmal mehr Medienkunde und mehr Staatskunde! Ein Problem geht dabei vergessen: die schwindende Lesekompetenz vieler junger Leute. Sie ist ein verdrängtes Faktum.

Schweizer Schüler: schwach im Lesen

Die Lesefreude nimmt bei den Jugendlichen ab – ebenso wie die Leseleistung generell. Seit Jahren sinkt sie. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland! Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Und dies im Land mit den höchsten Kosten pro Schüler![iv] Das ist besorgniserregend.

Wir wissen es seit Jahren: Mindestens 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule nach neun Jahren als funktionale Analphabeten oder Illiteraten. Die Bildungspolitik schweigt. Das Systemversagen im teuersten Bildungssystem der Welt scheint sie nicht zu stören. Dabei gehört Lesen zu den Kernkompetenzen eines jeden. Sie bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.

Konzentriertes Lesen, Bild: zVg

Wenn Verstehen zur Schwerstarbeit wird

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das «Deep Reading» nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen. Dazu kommt, dass diese elektronischen Geräte – anders als gedruckte Bücher – kaum materielle Orientierung im Text ermöglichen. Dies schmälert das kognitive Weiterkommen und führt zu Verstehens- wie auch zu Akzeptanzproblemen.

Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität.

Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird so für manche Schülerinnen und Schüler zur Schwerstarbeit und die Aufgabe einer differenzierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht.

Sich vor Desinformation schützen

Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen erheblichen Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht.

Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen.

Unwidersprochen bleibt auch die Tatsache: «Nur wer in konzentrierter Lektüre verschiedene Lesarten eines Textes erkennen und miteinander abgleichen kann, wer Widersprüche in ihm erkennt oder Widersprüche zum eigenen Wissen und den eigenen Überzeugungen, der schützt sich selbst wirkungsvoll vor den vielfachen Versuchen alltäglicher Desinformation.»[v] Das aber setzt Lesefähigkeit voraus.

Vom Wert des Lesens

Philipp Stapfer, erster Bildungsminister der Helvetischen Republik: Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen

Wir wissen um den Zusammenhang zwischen Bildung, Wirtschaftsleistung und Wohlfahrt. Der amerikanische Bildungsökonom Eric Hanushek und sein deutscher Kollege Ludger Wössmann weisen seit Jahren darauf hin.[vi] Diesen Bezug gibt es auch zwischen Bildungsniveau und Demokratiefähigkeit. Das wusste auch die helvetische Regierung von 1798.

Nur ein gebildetes Volk kann demokratisch mitbestimmen. Davon waren die politischen Pioniere um 1800 überzeugt; dafür kämpften sie: Jedes Kind sollte lesen und schreiben können. Der helvetische Bildungsminister Philipp Albert Stapfer (1766-1840) gab dem Auf- und Ausbau der Schulen darum höchste Priorität. Die Helvetik (1798-1803) kannte den Wert des Lesens und einer gut ausgebildeten Lesefähigkeit – dass dieser Wert auch heute noch intensiv gepflegt werden muss, geht im digitalen Zeitalter leicht vergessen.

 

 

 

[i] Jahrbuch Qualität der Medien (2022). Zunahme der News-Deprivation mit negativen Folgen für den demokratischen Prozess.Hrsg. vom Fög. Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich, S. 1.

[ii] Ebda, S. 4.

[iii] Vgl. Rafael von Matt, Interesse an Informations-Journalismus schwindet. Echo der Zeit vom 24.10.2022.

[iv] SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 73.

[v] Fridtjof Küchemann, Eine Frage gesellschaftlicher Teilhabe, in: FAZ, 24.10.2022, S. 1.

[vi] Vgl. u.a. Ludger Wössmann (2009), Wirksame Bildungsinvestitionen. Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

 

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2 Kommentare

  1. Konzentriertes Lesen und die gründliche Auseinandersetzung mit Texten ist eine zentrale Voraussetzung für kritisches Denken und die politische Mündigkeit. Das Hinführen unserer Jugend zu Büchern geschieht schon in frühen Kinderjahren mit dem Erzählen von spannenden Geschichten. In der Mittelstufe ist es der Realienunterricht, der mit attraktiven Themen die Welt ins Schulzimmer bringt und den Wortschatz enorm bereichert. Und auf der Oberstufe wurde bis vor wenigen Jahren den kulturbildenden Fächern Geschichte, Geografie und Biologie viel Aufmerksamkeit geschenkt.
    Doch der schwierig ausmessbare schulische Kulturbereich ist mit dem neuen Sammelfach “Zeiten, Räume, Gesellschaften” arg unter Druck geraten. Nur magere drei Wochenstunden werden für das überfüllte Containerfach im neuen Lehrplan eingesetzt. In der Praxis reicht es für den Bereich Geschichte meist nur für eine Wochenlektion und mit der fachliche Ausbildung mancher Lehrpersonen ist es nicht weit her. Unter diesen Umständen muss man sich nicht wundern, wenn der Geschichts- und Geografieunterricht in vielen Klassen langweilig ist. Wie sollen Jugendliche Interesse für politische Themen entwickeln, wenn sie nie auf spannende Weise erfahren haben, wie gesellschaftliche und technische Entwicklungen in den letzten zweihundert Jahren verlaufen sind? Jugendliche suchen das Dramatische in vergangenen Ereignissen und entdecken später, dass auch die aktuelle Gegenwart voller bedeutender Nachrichten ist. Mit Staatskunde- und Medienunterricht allein kann das politische Interesse der Jugend kaum geweckt werden. Es braucht ein eigenständiges Fach Geschichte, in welchem gut ausgebildete Lehrpersonen in mindestens zwei Lektionen pro Woche attraktiven Unterricht bieten.

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