21. November 2024

Die Krux mit den Studien: Diesmal – die Sorge um die Generation Alpha

Rüdiger Maas, 42 deutscher Psychologe hat das Verhalten der Eltern-Generation der Millenials und ihrer Kinder, der Generation Alpha untersucht. Zu behütet, sozial auffällig und sprachlich defizitär: Die Studie zeichnet ein erschreckendes Bild der unter 10-Jährigen. Condorcet-Autor Alain Pichard hinterfragt die Methodik der Studie und kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier wieder einmal ein neuer Erregungsvorschlag in einer sonst schon dystopischen Stimmung betrieben wird.

Alain Pichard, frisch pensionierter Lehrer, Mitglied der Condorcet-Redaktion.
Bild: fabü

Wenn mich die Coronazeit eines gelehrt hat, dann dies: «Werde zunächst einmal misstrauisch, wenn der Satz fällt: «Eine Studie zeigt, dass…» Und wenn er von Journalisten geäussert wird, dann ist grösste Skepsis angesagt. John Ioannidis, Epidemiologe an der Stanford-University erwähnte kürzlich die unglaubliche Zahl von dass 330’000 Studien, die seit Beginn der Coronakrise publiziert worden seien. «Die meisten dieser Arbeiten waren jedoch von geringer Qualität, oft falsch und manchmal höchst irreführend. Viele Menschen ohne technisches Fachwissen wurden über Nacht zu Experten und retteten auf diese Weise die Welt.» (Tablet Magazin 9.9.21).

Rüdiger Maas, Psychologe und Philosoph, Autor des Buches “Generation lebensunfähig”: Noch nie so ungklückliche Kinder.

Neuerdings frage ich in solchen Situationen nicht nur nach, ob es die behauptete Studie auch tatsächlich gibt oder von wem sie stammt, sondern mache mir auch Gedanken über die Anlage dieser Untersuchung bzw. über ihre Repräsentativität. Der Psychologe und Philosoph Rüdiger Maas erforscht seit 2012 mit seinem Team unter anderem generationenbedingtes Verhalten und gründete hierzu in Augsburg das Institut für Generationenforschung. Schwerpunkte der Forschung liegen auf der gegenseitigen Beeinflussung der Generationen, etwa in der Erziehung. Seine «Generation Alpha»-Studie untersuchte Sprache, Sozialverhalten, Motorik sowie den Medienkonsum. Er kam so zu ziemlich erschreckenden Ergebnissen:

  1. Sprachliche Auffälligkeiten im Kindergarten: Nur 7 Prozent der Kinder sprechen so deutlich, dass es die Betreuerinnen nicht als Auffälligkeit definieren. Im Hort sei die Beherrschung der Grammatik zu 78 Prozent auffällig.
  2. Im Kindergarten werden bei 87 Prozent Häufigkeiten von motorischen Auffälligkeiten beobachtet.
  3. Auffälligkeiten im sozialen Bereich: Beim Schliessen von Freundschaften zeigen 67 Prozent im Kindergarten Auffälligkeiten. Beim Lösen von Konflikten 73 Prozent, im Schulalter 87 Prozent.
  4. 56 Prozent der 4- bis 5-jährigen Kinder zeigen kein altersentsprechendes vertieftes Spielen.

Für viele Medien ist dies natürlich wieder einmal ein willkommener – sprich klicksproduzierender – Erregungsvorschlag.

Sie werden von Eltern grossgezogen, die so unsicher sind wie keine andere Generation vor ihr

«In Deutschland gab es noch nie so viele unglückliche Kinder», titelte die Süddeutsche Zeitung. Der Südwestrundfunk schreibt «Die traurigsten Kinder aller Zeiten». Die Zeit berichtet: «Eltern nehmen ihre Kinder viel zu ernst»

Und in der Sonntagszeitung vom 15.11. 21 konnte Herr Maas denn auch in einem Interview völlig unbedrängt von jeglichen kritischen Fragen des NZZ-Journalisten Furger seine Studienbefunde wiederholen und teilweise auch ziemlich grell unterstreichen: «Sie werden von Eltern grossgezogen, die so unsicher sind wie keine andere Generation vor ihr».

Nun ist es ja nicht so, dass es all diese Beobachtungen und besorgniserregenden Befunde nicht gibt, sie irgendwie erfunden seien. Die Kindergärtnerinnen und Primarlehrerinnen unseres Landes melden uns tatsächlich ähnliche Einschätzungen und belegen sie mit Einzelbeispielen. So hat mir letzthin eine seriöse und engagierte Kindergärtnerin erzählt, dass sie ein Kind habe, dass nicht wisse, wie man eine Treppe hinuntersteige.

Noch nie so viele traurige Kinder?

Die Frage ist aber erlaubt, wie wissenschaftlich diese These in seiner ultimativen Pauschalität belegt ist. Lennart Schalk, Leiter des Instituts für Unterrichtsforschung und Fachdidaktik der Pädagogischen Hochschule Schwyz, zweifelt an der Repräsentativität der Studie. Bei anonym ausgefüllten Online-Fragebögen seien Aussagen über Repräsentativität jedoch schwierig, sagt Schalk: «Es müsste eine gezielte Auswahl sein. Eine repräsentative Studie hinzubekommen, erfordert einen sehr hohen Aufwand.» (https://www.srf.ch/kultur/sorge-um-die-generation-alpha-was-laeuft-schief-bei-der-juengsten-generation).

Bei anonym ausgefüllten Online-Fragebögen seien Aussagen über Repräsentativität jedoch schwierig, sagt Schalk: «Es müsste eine gezielte Auswahl sein. Eine repräsentative Studie hinzubekommen, erfordert einen sehr hohen Aufwand.»

In einem klugen und sehr ausgewogenen Beitrag auf der Webseite von SRF  liefert der Journalist Franz Kasperski einen Einblick in die Methodik der Untersuchung:

  1. Studienleiter Rüdiger Maas und sein Team liessen in einem ersten Schritt qualitative Interviews mit rund 70 Lehrpersonen, Erzieherinnen und Erziehern führen. Diese erzählten darin, was ihnen an den betreuten Kindern auffällt.
  2. Daraus wurde in einem zweiten Schritt ein Fragebogen erstellt, der von 1231 Pädagoginnen und Grundschullehrern anonym ausgefüllt wurde, die so 22’511 Kinder beurteilten und deren Auffälligkeiten benannten.
  3. Als Vergleichsgruppe wurden über 600 Eltern zu ihrem Erziehungsverhalten befragt.

SRF 18.10.21

In der Wissenschaft wäre eine derartige Aussage natürlich völlig inakzeptabel.

Michael Winterhoff: Ähnliche Aussagen

Schalk attestiert der Studie zwar, dass durchaus ein grosser Aufwand dahinter zu stehen scheine: “Deshalb will ich das auch nicht alles schlechtreden, aber in dieser Studie wird viel durcheinander gewürfelt, wo man vorsichtiger sein müsste. Zum Beispiel dürfte das Medienverhalten eines Zweijährigen anders sein als das eines Zehnjährigen, sie werden aber in einer generellen Aussage über die gesamte Generation Alpha zusammengefasst.”

Die Dokumentation der Studie auf der Homepage des Instituts für Generationenforschung ist – vorsichtig ausgedrückt – suboptimal. Selbst Rüdiger Maas gibt nach Angaben von Lennart Schalk eine «gewisse Unschärfe» zu, verwies darauf, dass er jetzt zunächst die Daten vermarkten müsse, bevor sie ausreichend dokumentiert würden. In der Wissenschaft wäre eine derartige Aussage natürlich völlig inakzeptabel.

Rüdiger Maas: “Generation lebensunfähig”. Ab 16. November 2021 im Handel.

Generationenforschung ist eh ein belastetes Unterfangen. Dass eine ganze Generation schlimm und besorgniserregend ist, scheint ein bei allen Studien immer die Quintessenz  zu sein. So gilt bereits die Vorgängergeneration «Z» als «verwöhnt» und «süchtig» nach ihrem Smartphone und die Kinder der «Generation Y», wissen nicht, was sie eigentlich wollen. Auch die Generation X gilt als verwöhnt, die den Wohlstand ihrer Boomer-Eltern geniessen. Mit dem Thema Generationen und Generationenunterschiede lassen sich sehr gut Bücher und Workshops verkaufen und auch ganze Beratungsunternehmen führen. Die wissenschaftliche Evidenz, die methodische Qualität der Studien ist äusserst fragwürdig. So füllte bis vor kurzem der Psychiater Michael Winterhoff ganze Säle mit derartigen Aussagen.

Heute am 16. November erscheint die Buchpublikation von Rüdiger Maas. Titel: «Generation lebensunfähig». Franz Kaperski mahnt: Trotz aller Kritik bietet die Studie besonders für Eltern Denkanstösse, wie man sein Kind besser unterstützen kann. Sie beschreibt Phänomene und widerspiegelt Alltagsbeobachtungen, die zu breit aufgestellt sind, als dass man sie einfach wegwischen könnte.»

Der Condorcet-Blog wird dran bleiben!

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Wenn der Computer unterrichtet

Seit mehr als 40 Jahren wird über Informationstechnik in Schulen diskutiert. Seit November 2022 kommt als Thema generative künstliche Intelligenz (KI) wie ChatGPT dazu. Dabei sind weder KI-Systeme noch Sprach-Bots neu. Mit Weizenbaums “Eliza” konnte man schon 1966 chatten, Kybernetik als Begriff und Methode für automatisierte Datenverarbeitung publizierte Norbert Wiener 1948. Aber das Silicon Valley braucht ein neues “big thing” (Brühl 2023). In der Schule sind solche Tools eher kontraproduktiv statt lernförderlich. Condorcet-Autor Ralf Lankau spricht in diesem Artikel das eigentliche Kernproblem der schulischen Digitalisierung an: Wollen wir den Unterricht an Algorithmen delegieren?

Wenn die Kernproblematik ausgeblendet wird

Er hat schon viele Studien gelesen. Auch die neuste Untersuchung der Dienststelle für Volksschulbildung in Luzern (Büro Barbara Häring GmBH, 64 Seiten) hat er sich angetan: Sein Fazit: Immer die gleiche Rhetorik, immer die bekannten Resultate, immer am Kern vorbei. Unbeachtet bleiben die Grundwidersprüche im Bildungssystem. Ein Lehrstück bürokratischen Leerlaufs – findet Condorcet-Autor Carl Bossard.

Die Flucht aus dem Schulzimmer liegt im Systemischen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert