In Bonjours Rezension kommt er wieder einmal zum Vorschein: der unüberbrückbare Graben zwischen der Pädagogik der freien Entfaltung und der auf Leistung getrimmten Normierungspädagogik. Auf der einen Seite die notenfreie, individualisierte, vom Kind her gedachte, kreativitätsfördernde, eine positive Stimmung induzierende Reformschule, auf der andern Seite die outputorientierte, auf Leistungsmessung ausgerichtete, an Kompetenzforderungen gebundene, von wirtschaftlicher Nützlichkeit dominierte Zwangs- und Paukschule des Staates.
Die Verfahren, die den Mess- und Kontrollwahn erst möglich machen, wurden von demselben Wissenschaftszweig entwickelt, der den Schulen nun den Spiegel des einseitigen Leistungsdrills vorhält.
Wenn Bonjour den Kinderpsychiater Bonney als Gewährsmann für die notwendige Korrektur einer dem Messwahn verfallenen Pädagogik anführt, entbehrt dies nicht einer gewissen Ironie: Denn ausgerechnet der Psychologie verdanken wir die Messverfahren zur Eruierung der kognitiven Leistungsfähigkeit, die Messung der Intelligenz mit dem IQ, die Bestimmung der schulischen Kompetenz mit PISA, die standardisierten Tests der Testinstitute, die Ausrichtung der Lehrpläne auf messbare Resultate, die statistisch basierten Ländervergleiche der Schulen. Die Verfahren, die den Mess- und Kontrollwahn erst möglich machen, wurden von demselben Wissenschaftszweig entwickelt, der den Schulen nun den Spiegel des einseitigen Leistungsdrills vorhält und sie als eine Maschinerie sieht, die Lernende ins schulische Unglück stürzt.
Bonjour zitiert die oft gehörte Feststellung, dass «Denken und Lernen eng verbunden sind mit Emotionen». Oft werden die Forschungen zum Thema «Emotion und Lernen» in pädagogischen Schriften simplifizierend zum Dogma verkürzt: «Positive Gefühle führen zu besserem Lernen». Tatsächlich sind die Forschungsresultate wesentlich komplexer und differenzierter, wie ein Blick in die Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005) zeigt.1
Emotionen sind ein Einflussfaktor unter vielen im schulischen Lernen.
Aus den Artikeln von Andreas Krapp und Tina Hascher geht hervor, dass Emotionen als ein Einflussfaktor unter vielen im schulischen Lernen zu sehen sind, dass es ausserordentlich schwierig ist, den Anteil der Emotionen am Gelingen des Lernprozesses im Zusammenspiel der andern Variablen (Motivation, Begabung, Lerngegenstand, äussere Lernbedingungen, etc.) wissenschaftlich sauber zu isolieren, um sichere Erkenntnisse zu erhalten, die auch ausserhalb der Laborsituation im Klassenzimmer gültig sind. Pikanterweise haben auch negative Emotionen positive Effekte: «Während negative Gefühle analytisches Denken fördern, erleichtern positive Affekte die Anwendung intuitiv-holistischer Denkmuster».2 Kommt hinzu, dass von Lehrpersonen induzierte positive Stimmungen jeweils nur bis 20 Minuten Wirkung zeigen und dann abflachen.
Die Liste von Werken, welche die Schule kritisieren, Reformprojekte propagieren und in die sich das Buch Bonneys einreihen lässt, ist lange und wirft auch Schatten. Um nur einige zu nennen:
Alexander S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill (1969). (Das demokratische Schulexperiment, viel diskutiert und umstritten),
Jürg Jegge (1976): Dummheit ist lernbar (Buch mit Kultstatus über «aussortierte Jugendliche» und erst zurückgezogen, als Jegge des sexuellen Missbrauchs bezichtigt wurde),
Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken (1993) (Als Vorzeigeprojekt die Odenwaldschule, die später als Kinderschänderinstitut entlarvt wurde),
Remo Largo Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken. (2010) (Die Sicht des Kinderarztes)
Richard David Precht (2013): Anna, die Schule und der liebe Gott (Pauschale Abrechnung mit der traditionellen Schulform als nicht kindergerecht).
Zu dieser Realität gehören freie Entfaltungsmöglichkeiten ebenso wie auferlegte Leistungsanforderungen. Die Schule muss deshalb gleichzeitig fördern und fordern.
Tatsache ist, dass Kinder und Jugendliche nun einmal im hier und jetzt, in einer gegebenen Realität leben und darauf vorbereitet werden müssen. Zu dieser Realität gehören freie Entfaltungsmöglichkeiten ebenso wie auferlegte Leistungsanforderungen. Die Schule muss deshalb gleichzeitig fördern und fordern. Sie bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen individueller Zuwendung und vorgeschriebenem Anpassungsdruck, einem Sowohl als Auch, was einer Gratwanderung entspricht, die nie ganz widerspruchsfrei ist. Insbesondere ist die Aufgabe, allen Individuen, auch denjenigen mit psychisch-sozialen Auffälligkeiten stets ausnahmslos gerecht zu werden, eine grosse Herausforderung. Die Reformer hingegen leisten sich das Privileg, den Aspekt der Anpassung an gesellschaftliche Zwänge eher auszublenden und sich auf eine bestimmte Klientel speziell auszurichten.
Die Reformer hingegen leisten sich das Privileg, den Aspekt der Anpassung an gesellschaftliche Zwänge eher auszublenden und sich auf eine bestimmte Klientel speziell auszurichten.
Der erwähnte Graben zwischen Reformpädagogik und staatlicher Schulrealität findet sich wieder in der Bildungspolitik. Linksliberale Kreise stehen der Standardisierung und Kompetenzorientierung kritisch gegenüber, sie befürworten eine breite Bildung mit dem Ziel eines offenen, autonomen Persönlichkeitsideals, die finanziellen Mittel werden als Fördermittel gesehen (Fördermassnahmen, Fächerangebote, bauliche Verbesserungen, Betreuungsdienste). Bürgerliche Kreise wollen eine Schule, die auf berufliche Nützlichkeit ausgerichtet ist, die finanziellen Mittel sollen an die erfolgversprechenden Massnahmen gekoppelt werden (Digitalisierung, regelmässige Tests, Lehrerfortbildung, Verpflichtung der Lehrpersonen auf eng gesteckte Ziele).
Die gegensätzlichen Lager treffen sich jedoch in einem Punkt: dem Leiden an und der Unzufriedenheit mit dem schulischen Mainstream. Sie sind sich auch einig darin, dass nur Innovation und Qualitätsnachbesserung Abhilfe schaffen können. Der Graben zeigt sich erst wieder, wenn es um die konkreten Massnahmen geht, die ergriffen werden müssten: Standardvorgaben oder inhaltliche Freiheit? Konzentration auf nützliche Inhalte oder breites Angebot mit Freiräumen? Leistungskurse oder Alters- und Niveaudurchmischung? Frontalunterricht oder Lernateliers? etc.
Bonjours Rezension mündet nicht überraschend in die Forderung, den Eltern bei der Schulwahl mehr finanzielle Freiheit zu lassen, damit private Schulprojekte, und damit auch seine eigene Privatschule, breiteren Bevölkerungskreisen offenstehen.
1 Krapp, Andreas Emotion und Lernen – Beiträge der Pädagogischen Psychologie. Einführung inden ThementeilZeitschrift für Pädagogik 51 (2005) 5, S. 603-609urn:nbn:de:0111-opus-47707
2 Hascher, Tina Emotionen im Schulalltag: Wirkungen und RegulationsformenZeitschrift für Pädagogik 51 (2005) 5, S. 610-625urn:nbn:de:0111-opus-47719
Lasst uns Lehrpersonen endlich unseren Job machen und hört auf, uns immer wieder siebenmalgescheit hineinschnorren zu wollen – dies meine ultimative Ansage an all die selbsternannten Bildungsexperten hinter ihren unaufgeräumten Schreibtischen.