23. Dezember 2024

Der schiefe Turm von PISA: eine Podiumsveranstaltung mit Urs Moser und Carl Bossard

Nach einer längeren coronabedingten Pause starteten die Ostschweizer Kinderärzte wieder ihre stets hochkarätig besetzte Veranstaltungsreihe zu aktuellen Bildungsthemen. In der ersten Veranstaltung dieses Jahres kreuzten der Bildungsforscher und Statistiker Urs Moser und Condorcet-Autor Carl Bossard die Klingen. Alain Pichard war an diesem Anlass dabei und berichtet für unseren Blog.

 

Dr. Jürg Barben, Mitinitiator der Vortragreihe der Ostschweizer Kinderärzte

Es waren einmal mehr illustre Gäste, die Dr. Jürg Barben am Mittwoch, 7. Juli, in der Aula der PH St. Gallen begrüssen durfte. Man konnte gespannt sein, was sich der Empiriker Urs Moser und der Pädagoge Carl Bossard zu sagen hatten. Der Untertitel «Schüler und Lehrer im (Test-)Stress» sei, so Barben, bewusst provokativ gewählt. Und Arno Noger, FDP-Politiker und ehemaliger Gymnasialrektor in St. Gallen, bekräftigte diese These. Schule könne zu Stress führen. Denn der Macht der Tests könne man sich nicht entziehen und keine Schule wolle dabei schlecht abschneiden.

Dr. Urs Moser, Institut für Bildungsevaluation: PISA misst nur, was sich messen lässt.

Urs Moser, Mitglied der Geschäftsleitung des Instituts für Bildungsevaluation, war natürlich gefordert, zumal er in der nationalen Projektleitung PISA mitwirkte. Er entwarf mit seinem Team zahlreiche Testverfahren, darunter auch die bekannten Stellwerktests. Vorerst erklärte er den Anwesenden noch einmal in Kürze das Wesen und die Ziele der PISA-Tests. Es handle sich um standardisierte Überprüfungen der Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft. Und jedes Mal würden auch Kontexte und Hintergrundmerkmale der Ergebnisse erforscht. In der Schweiz, so haben diese Untersuchungen ergeben, herrsche trotz des Wohlstands eine grosse soziale Ungleichheit, was sich auch auf die Schulleistungen auswirken würde. Die Tests, von der Wirtschaftsorganisation OECD in Auftrag gegeben, seien auf Vergleichbarkeit ausgerichtet, orientierten sich an Kompetenzen und nicht an nationalen Lehrplänen und erfreuten sich immer grösserer Beliebtheit. Zurzeit nähmen 65 Länder an diesen Tests teil.

PISA als Katalysator

In mehreren Folien präsentierte Moser die Schweizer Ergebnisse der PISA-Tests, darunter die von vielen Bildungsakteuren als schockierend empfundenen unterdurchschnittlichen Fähigkeiten beim Leseverständnis. Noch vor 30 Jahren habe dies niemand richtig gewusst. PISA messe nur, was sich messen liesse. Trotzdem korrelierten gute PISA-Resultate mit dem jeweiligen Wohlstand eines Landes. PISA sei auch ein Katalysator für Reformprojekte gewesen, über deren Sinn oder Unsinn er sich aber ausschwieg. Immerhin stellte er auch fest, dass PISA-Resultate falsch interpretiert oder falsch genutzt würden. Nur ein geringer Anteil der Bildungsinhalte könne überhaupt standardisiert und gemessen werden.

Da die Familien ihre Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit ihrer sozialen Position treffen, löst dies vor allem bei den Gymnasiumsübertritten Stress aus, besonders bei Kindern, die den Anforderungen nicht gewachsen seien.

Urs Moser: Stress ist systemimmanent.

Dann wandte sich Moser dem insinuierten Stress zu und meinte, Stress löse PISA vor allem bei den Bildungspolitikern aus, die durch mangelhafte Resultate in einen Rechtfertigungsdruck kämen. Die PISA-Tests lösten hingegen bei den Schülerinnen und Schüler kaum Stress aus, sie seien ja auch folgenlos. Ansonsten, so Moser, sei Stress in der Schule systemimmanent. In den Schulen werde stets getestet, es werde über Zugänge und Karrieren entschieden und Fremdsprachenlernen ohne Tests sei prinzipiell ja gar nicht möglich. Da die Familien ihre Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit ihrer sozialen Position träfen, löse dies vor allem bei den Gymnasiumsübertritten Stress aus, besonders bei Kindern, die den Anforderungen nicht gewachsen seien. Allerdings sei der Graben zwischen öffentlicher Wahrnehmung und seriösen Untersuchungen markant. Die Healt Behaviour-Studie (2018) zeige, dass sich drei Viertel der Jugendlichen während ihrer Schulzeit kaum oder nur wenig gestresst fühlten. Im Übrigen sei auch ein Grossteil der Eltern trotz aller medialen Erregungsausschläge mit der Schule recht zufrieden. Süffisant kommentierte Moser auch die empirisch belegte Tatsache der unterschiedlichen Gymnasiumsquoten in der Schweiz. «Wenn Sie Ihr Kind unbedingt an das Gymnasium schicken wollen, und das möglichst stressfrei, dann sollten Sie nach Genf zügeln (Gymnasialquote 34,5%), dies im Gegensatz zur Innerschweiz (12,5%).» Und –  ganz Empiriker – diese unterschiedlichen Gymnasialquoten verhielten sich umgekehrt proportional zu den PISA-Leistungen. Dort schneide die Stadt Genf regelmässig ganz schwach ab.

Die Lehrer sollten neben ihren eigenen Tests einmal im Jahr – als eine Art «Justierung» – auch einen national abgestimmten und standardisierten Test machen.

Die Lehrer sollten neben ihren eigenen Tests einmal im Jahr – als eine Art «Justierung» – auch einen national abgestimmten und standardisierten Test machen. Das helfe, die Leistungen der Lernenden besser einzuschätzen. Zum Lehrplan meinte Urs Moser, dass er ja auf den Unterricht kaum Auswirkungen habe. Die meisten Lehrkräfte unterrichteten wie vorher.

Carl Bossard: Kalte PISA-Logik verdrängt die pädagogischen Mikroprozesse.

Mit Carl Bossard, Condorcet-Autor und Gründungsrektor der PH-Zug, trat nun ein entschiedener Kritiker des übertriebenen und standardisierten Testens an das Mikrophon. Die kalte Logik von PISA, so Bossard, gefährde die Beziehungsebene und die pädagogischen Mikroprozesse wie beispielsweise das Aufbauen mit dem Verstehen, das Konsolidieren mit dem Festigen und das Anwenden des Gelernten. Das verstärkte Testen verändere den Unterricht, reduziere ihn auf Standards und führe zu einer Verarmung im pädagogischen Dreieck mit den Mikroprozessen des Lernens. Bildung habe mit Würde zu tun und vor allem mit Beziehung. Dazu zitierte er den Autor Albert Camus, in dessen autobiografischem Werk «Der erste Mensch»  M. Bernard, Camus’ Lehrer, den Begriff der Bildung geradezu verkörperte. Ein Mann, der seinen Beruf liebte und dessen Schüler «Gegenstand höchster Achtung» gewesen seien.

Die Sprache verrät den Geist: Bildung wird so «McDonaldisiert» (Prof. Theo Wehner), die Lehrpersonen werden zu «Vollzugsbeamten und die Schüler zu Vollzogenen»

PISA und die dahinterstehende Ideologie lenkten den Blick der Bildung auf die Makroprozesse der Organisation. Es sei viel von Qualitätsmanagement und Digitalisierung die Rede, von Management und Benchmarking, weg von der Input- und hin zur Output-Steuerung. Schulen müssten, so die Doktrin, effizient und effektiv werden. Damit würden Abläufe trivialisiert und standardisiert. Die Sprache verrate den Geist: Bildung werde so «McDonaldisiert» (Prof. Theo Wehner), die Lehrpersonen würden zu «Vollzugsbeamten und die Schüler zu Vollzogenen», wie der sensible Lehrerpoet Peter Bichsel vor Kurzem festgestellt habe. Bossard zitierte aus dem Schreiben eines jungen Lehrers, der beklagte, dass er die ganze Zeit beurteilen müsse. Die Kinder würden ständig in Kompetenzraster gezwängt, der Unterrichtsinhalt sei zu einem unzusammenhängenden Sammelsurium verkommen, es fehle die Musse, der Aufbau.

Bossard liess durchblicken, dass er keineswegs gegen Evaluation und Überprüfungen sei. Sie gehörten zu den Bildungsprozessen. Aber mit der zunehmenden Testmanie, die sich nicht nur durch PISA ausdrücke, sondern sich auch in den zahlreichen Kompetenzrastern, Sprachstandserhebungen und Beobachtungsbögen manifestieren, gehe der Blick auf das Ganze verloren. Bossard beobachtet eine Art Dekonstruktion des Ganzen. Mit Entsetzen blicke er auf die umfangreichen Beobachtungsbögen in den Kindergärten, welche die Kinder schon früh vermessen wollten: auf Buchstaben und ganze Sätze, auf Zahlen. Eltern bekämen Panik; das generiere den berühmten elterlichen Förderungswahn. PISA und die Leistungsmessungen hätten die Lernleistungen der Kinder aber nachweislich nicht verbessert. Er verwies darum auf den bekannten Bildungsphilosophen Gert Biesta, der eindringlich gefragt hat: «Messen wir tatsächlich das, was wir wertschätzen, oder messen wir nur das, was leicht messbar ist, und bewerten dann das, was wir messen können?»

Albert Camus in “Der erste Mensch”: “Ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.”

Wirkung entstünde aus dem gemeinsamen Nachdenken. Schulleitung und Lehrkräfte entwickeln gemeinsame Kriterien zur Unterrichtsqualität. Die Schulleitung müsse ihre Lehrkräfte vor bürokratischen Übergriffen schützen und sich weigern, unsinnige Vorgaben ausführen zu lassen. Im Mittelpunkt jeder Schule stünde die Frage: «Was ist uns für unsere Kinder und Jugendlichen pädagogisch gemeinsam wichtig?» Bossard schloss mit Albert Camus, der nach der Verleihung des Nobelpreises seinem Lehrer geschrieben hat: «Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie mir, dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.»

Der Abend endete in der obligaten Fragerunde an die Referenten, die immer wieder dazu benutzt wurde, noch eigene Co-Referate oder längere Stellungnahmen zu formulieren.

Alain Pichard

 

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