„Wer den Gebrauch der Freiheit fürchtet, ist ihr heimlicher Gegner.“ So schrieb Hans Saner, Philosoph und persönlicher Assistent von Karl Jaspers.[i] Es ist ein eindrücklicher Satz. Und Saner fügte bei: „Viele möchten Freiheit gewähren, wenn sie nur wüssten, dass keiner Gebrauch davon macht.“
Umstellung auf „Output-Steuerung“
Wer in die Schullandschaft blickt und die vielen Reformen der vergangenen Jahre betrachtet, erkennt schnell, was sich radikal verändert hat: Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was sie inhaltlich zu unterrichten haben. Heute wird detailliert dekretiert und genau geregelt, was die Schülerinnen und Schüler am Ende können müssen – und teilweise auch verordnet, wie das zu erreichen sei. Festgelegt werden (Einzel-)Kompetenzen, und zwar ausserordentlich kleinparzelliert. Im Fach Musik beispielsweise wird von einem Kind gefordert: „Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren“.
Mehr Effizienz
Das bedeutet, so sagt die Wissenschaft, einen Paradigmenwechsel: Die staatliche Strategie stellt von der „Input-“ auf die „Output-Steuerung“ um. So soll die die Effizienz schulischer Bildungsarbeit erhöht und der Unterricht am operationalisierten Output gemessen werden. Nun werden bereits fünfjährige Kindergärtler auf Buchstaben getestet und auf Zahlen überprüft.
Zu viele Direktiven lähmen den Geist und hemmen Spontaneität wie Kreativität.
Der pädagogische Alltag ist regulierungsversessen
Lehrerinnen und Lehrer konstatieren darum den Verlust von beruflicher Freiheit und den Vormarsch einer reglementierenden Verwaltung; sie will sicher sein und die Qualifikationsziele mit einer Vielzahl von Vorschriften und Regelungen erreichen. Das geht eben nur mit umfangreichen Vorgaben. Erinnert sei an den fülligen Lehrplan 21. Er zählt 470 Seiten und umfasst 363 Kompetenzen, unterteilt in über 2300 Kompetenzstufen. Doch zu viele Direktiven lähmen den Geist und hemmen Spontaneität wie Kreativität. Die Faustregel: je dicker und dichter das Regelwerk, desto beschränkter und begrenzter die Freiheit.
In den Tentakeln administrativer Fesseln
Die vielen Vorgaben verlangen Absprachen und Koordinationen im Team; sie führen zu strukturell bedingter Mehrarbeit – dies bei zunehmend heterogeneren und anspruchsvolleren Klassen. So erstaunt es nicht, dass „viele Lehrpersonen ihr Pensum reduzieren, um sich vor Überlastung zu schützen“, wie Christian Hugi, der Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, nüchtern konstatiert.[ii] Das führt beispielsweise im Kanton Zürich dazu, dass im Moment noch rund 550 Stellen fürs neue Schuljahr unbesetzt sind.
So verwundert es nicht, dass jede sechste Lehrperson bereits im ersten Jahr kündigt und die Hälfte der neuen Lehrkräfte spätestens nach fünf Jahren das Schulzimmer wieder verlässt, wie eine Studie zeigt.
Viele fühlen sich gefangen in den Tentakeln administrativer Fesseln mit ihrer lähmenden Wirkung. Sie beklagen das Korsett künstlich konstruierter Komplexität heutiger Schulwelten. „Alles ist so eng strukturiert“, erklärt eine 31-jährige Aussteigerin.[iii] Und ein erfahrener Lehrer resümiert seine Unterrichtsjahre mit „Schule in Ketten“: Es würde immer strenger normiert.[iv] So verwundert es nicht, dass jede sechste Lehrperson bereits im ersten Jahr kündigt und die Hälfte der neuen Lehrkräfte spätestens nach fünf Jahren das Schulzimmer wieder verlässt, wie eine Studie zeigte. Der Lehrermangel spitzt sich zu.
Freiheit hat ein Korrelat: Verantwortung
Freiheit sei für die Bildung „die erste und unerlässliche Bedingung“, schrieb der Reformer des preussischen Bildungswesens und Theoretiker der Freiheit, Wilhelm von Humboldt.[v] Vermutlich wusste der grosse Bildungsreformer: Wer mit Schülerinnen und Schülern unterwegs ist, braucht Freiheit. Er braucht sie zum Unterrichten wie den Morgenkaffee zum Aufwachen. Freiheit als Elixier! Doch es ist nicht die ungebundene, unkontrollierte Freiheit, sondern die Freiheit von unnötigen Pro-forma-Vorschriften und formalen Vorgaben, von Normen und Fesseln. Es ist nicht die Freiheit zum pädagogischen Dolcefarniente, gar zum Schlendrian oder Minimalismus, nein, es ist die Freiheit zur Wahl des méthodos, des Weges zum Ziel.
Gemeint ist die Freiheit zur Gestaltung des schulischen Auftrags und zum pädagogischen Wirken mit den Kindern und Jugendlichen – zugunsten der Klasse, für die eine Lehrerin, ein Lehrer verantwortlich zeichnet.
Gemeint ist die Freiheit zur Gestaltung des schulischen Auftrags und zum pädagogischen Wirken mit den Kindern und Jugendlichen – zugunsten der Klasse, für die eine Lehrerin, ein Lehrer verantwortlich zeichnet. Und dieser letzte Punkt enthält das entscheidende Korrelat zur Freiheit: Verantwortung. Freiheit und Verantwortung bilden ein Junktim – sie sind so etwas wie zwei wichtige Säulen guten Unterrichts und guter Schulen. Sie dürfen sich nicht entkoppeln, denn ohne persönliche Verantwortung degeneriert Freiheit zur Willkür.
Das Humane lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen
Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Darum darf Freiheit in den Schulen nicht ersticken. Man muss sie immer wieder aus dem Sand freischaufeln, sonst bleibt sie nichts als versäumte Wirklichkeit. Für die meisten Lehrpersonen ist Freiheit eine Grundbedingung. In der Freiheit liegt der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.
Nur so können Lehrerinnen und Lehrer situativ richtig reagieren, spontan auf die Kinder eingehen und aus dem Moment heraus Kreatives entstehen lassen. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorschriften; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich anspringt, können wir nicht ins Numerische outsourcen oder über bürokratische Fesseln steuern.
Humane Energie kommt aus Freiheit
Eine wirksame Bildungspolitik müsste mehr an den Menschen glauben und weniger an Systeme und Strukturen. Gute Lehrerinnen, gute Lehrer mit Einfühlungsvermögen und fachlicher Leidenschaft sind das A und O der Schule. Sie brauchen aber Freiheiten – nicht primär Vorschriften. Sie brauchen Vertrauen – und keinen Druck durch Dekrete. Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und operativ engen Vorgaben, wie sie eine aktuelle Bildungspolitik verordnet.
Einen Freiheitskonflikt austragen ist immer noch besser, als wenn Lehrpersonen in der Konformität friedlich verkümmern, wie es der Philosoph Hans Saner einst ausgedrückt hat.
Politik und Verwaltung müssten darum den Lehrpersonen wieder mehr Freiheiten ermöglichen und sie gleichzeitig ermutigen, davon Gebrauch zu machen. Das erfordert Mut, weil Freiheit immer auch missbraucht werden kann. In diesem Fall müssten Schulleitungen intervenieren. Schnell und unzimperlich. Einen Freiheitskonflikt austragen ist immer noch besser, als wenn Lehrpersonen in der Konformität friedlich verkümmern, wie es der Philosoph Hans Saner einst ausgedrückt hat.[vi]
[i] Hans Saner (1996), Die Anarchie der Stille. Basel: Lenos Verlag, S. 154.
[ii] René Donzé, Zürcher Lehrer sollen mehr arbeiten, in: NZZaS, 23.05.2021, S. 12.
[iii] Pascal Sigg/Sabine Kuster, Drang nach Freiheit: Warum viele junge Lehrer wieder aussteigen, in: St. Galler Tagblatt, 21.06.2016.
[iv] Walter Meier (2015), Schule in Ketten. Sachroman. Muri b.Bern: Eigenverlag.
[v] Wilhelm von Humboldt (2006), Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart: Reclam, S. 22.
[vi] Hans Saner (1979), Zwischen Politik und Getto. Über das Verhältnis des Lehrers zur Gesellschaft. Basel: Lenos und Z-Verlag, S. 27.
Dieser Satz „Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren“ beinhaltet definitiv keine Obertöne – wie die ganze Komposition des Lehrplans nicht. Beschwingt, heitere und fröhliche Gefühle (ital. allegro), welche im Klassenzimmer äusserst wichtig sind, löst dieses kleinkarierte Werk nicht aus.
Ich weiss, dass Musik nicht alles ist – aber es sollte überall Musik drin sein. Und wenn Lehrpersonen bald keine Persönlichkeiten mit wunderbaren Obertönen sein können und auch keinen „freejazzigen“ Unterricht mehr gestalten können, dann platzen bald ihre immer mehr überspannten und eingeengten Gefühlsnerven. Darunter leiden zwangsläufig auch die SchülerInnen. Ich wünsche mir keine Funktionäre in der Schule, welche vor lauter Pflichtbewusstsein und Bürokratie nur noch elektronische Alarmsignale (ohne die feinen Obertöne) verbreiten. Lassen wir uns nicht verunsichern und verängstigen!
Ich wünsche mir eine Schule, die den Begriff „Kultur“ mehr in den Vordergrund stellt. Musikkultur für das Zusammenspiel und Lesekultur für die geistige Entfaltung – und etwas mehr Bescheidenheit, wie dies Goethe schon ausdrückte:
„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“
Der kleinkarierte Lehrplan stützt sich auf die Annahme, Bildung sei über unzählige Tests und Vorgaben effektiver von aussen steuerbar. Letztlich fehlt vielen Bildungsverantwortlichen das Vertrauen, dass Lehrerinnen und Lehrer fähig sind, auch ohne 2300 detailliert beschriebene Kompetenzschritte klare Grundaufträge zu erfüllen.
Wirkungsvoller wären gut ausgewählte verbindliche Inhalte, die an allen Schulen eine wesentliche Rolle spielen und daneben grössere Freiräume für individuelle stoffliche Akzente der Lehrpersonen. Was wir zurzeit an unseren Schulen haben, ist ein Dauergehetz in vielen Klassen beim Abarbeiten der Kompetenzziele, denn die auf den Lehrplan ausgerichteten Lehrmittel sind randvoll mit Aufträgen.
Carl Bossard erinnert mit Recht daran, dass Lehrerinnen und Lehrer die besten Leistungen erbringen, wenn sie grossen Gestaltungsspielraum haben und nicht zu Ausführenden degradiert werden. Eine liberale Berufsauffassung, eng verbunden mit einem starken Verantwortungsgefühl, setzt auf mündige Lehrerpersönlichkeiten mit pädagogischer Leidenschaft und Empathie. Doch diese Freiheit geht verloren, wenn neue didaktische Strömungen brave Coaches engagierten Lehrerinnen und Lehrern in den Klassenzimmern vorziehen.
Wir müssen wieder den Mut zu mehr Freiheit in den Schulen finden. Das birgt gewisse Risiken, aber es ist viel besser als diese ängstliche Art des Steuerungs- und Kontrollwahns, wie er sich zurzeit in vielen Schulen zeigt. Gefordert sind dabei die Lehrerverbände, welche endlich ihre gewerkschaftlichen Aufgaben nicht nur in Lohnfragen, sondern ebenso sehr beim Einsatz für ein überzeugenderes Lehrerbild erfüllen müssen. Da besteht ein gewaltiger Nachholbedarf.