21. November 2024

Schulpflicht in Windeln?

Professorin Margrit Stamm formuliert kritische Gedanken zur Frage, ob Kinder zu früh eingeschult werden. Nachdem schon Condorcet-Autor Alain Pichard die Probleme bei der Lehrstellensuche wegen der früheren Einschulung dargelegt hat, wirft dieser Beitrag einen differenzierten Blick in den Kindergarten und enthält auch einen konstruktiven Vorschlag.

Margrit Stamm: Das Alter als Kriterium ist ein Rückschritt.

Gerade mal vier Jahre alt sind die Kleinen, wenn die Schulpflicht ruft und sie zum ersten mit Mal mit Leuchtstreifen und Umhängetasche den Weg in den obligatorischen Bildungsraum antreten sollen. So steht es im Harmos-Konkordat, wobei nicht von kleinen Kindern, sondern von «Schülerinnen und Schülern» gesprochen wird und mit «eingeschult» der Kindergarten gemeint ist. Dieser bahnbrechende Entscheid hat vor zehn Jahren hohe Wellen geworfen, und er tut es auch heute noch. Von Verschulung des Kindergartens ist die Rede, dass der Ernst des Lebens nach vorn geschoben und den Kleinen eine wichtige Zeit ihrer Kindheit ohne Schulstress rauben würde.

Die neue Schulpflicht ist mit zwei Achillesfersen verbunden, mit dem «Wann» und dem «Wie». Das Auffälligste am Wann ist die Fixierung der Schulpflicht auf das Alter, d.h. auf den Stichtag vom 31. Juli. Deshalb sprechen manche Fachleute nach wie vor von «Kindergartenreife». Allerdings ist der Begriff irreführend, denn er gibt einen biologischen Reifungsstand vor, der so nicht existiert. Das Alter als Kriterium für den obligatorischen Kindergarteneintritt ist ein Rückschritt.
Kinder unterscheiden sich in keinem Alter sozial, emotional und kognitiv so stark voneinander wie zwischen drei und sechs Jahren.
Um diese problematische Vorgabe sorgen sich manche ängstliche Eltern, mahnende Kinderärzte und besorgte Kindergartenlehrkräfte. Dass durchschnittlich etwa 20 Prozent der Eltern ihr Kind vom frühen Schuleintritt zurückhalten und manche Kindergartenlehrpersonen auf entwicklungspsychologisch bedingte Schwierigkeiten verweisen, kann man zwar als Dramatisierungen abtun, sie sind es aber nicht. Kinder unterscheiden sich in keinem Alter sozial, emotional und kognitiv so stark voneinander wie zwischen drei und sechs Jahren. Der frühe und obligatorische Kindergarteneintritt ist deshalb für manche eine Überforderung, für andere kommt er zur rechten Zeit oder gar zu spät.
Tatsache ist, dass das freie Spiel von einem «Unterricht» nach einem detaillierten Zeitplan verdrängt wird.
Überforderung durch zunehmende Verschulung.

Die zweite Achillesferse ist das Wie. Dass viele Väter und Mütter das Obligatorium als Überforderung erachten und Verhaltensauffälligkeiten gemäss dem Verband Kindergärten Zürich (VKZ) zunehmen, hat mit der zunehmenden Verschulung des Kindergartens zu tun – und damit auch mit der Frage, was man unter Schulvorbereitung versteht. Tatsache ist, dass das freie Spiel von einem «Unterricht» nach einem detaillierten Zeitplan verdrängt wird. Bestimmte Bildungsbereiche («Fächer») werden nacheinander abgearbeitet und systematisch Arbeitsblätter eingesetzt. Die Lernstände der Kinder werden in mehrseitigen Fragebögen mit standardisierten Beurteilungspunkten klassifiziert und miteinander verglichen. Nicht nur manche Lehrkräfte sträuben sich gegen diese neue Pflicht, sondern auch Eltern, die sich als Versager empfinden, sobald das Kind etwas nicht kann, das der Kindergarten von ihm erwartet.

«Unser Sohn hat noch Windeln» oder «Unsere Tochter kann sich nicht selbständig anziehen» sind Gründe für einen Rückstellungswunsch seitens der Eltern, wahrscheinlich aber nicht die wichtigsten. Eine Hauptursache dürfte eher die sein, dass das Kind noch sehr verträumt ist, am liebsten spielt und seinen Tag vertrödelt. Eltern haben deshalb Angst, im Kindergarten würde die Neigung ihres Sprösslings zum Problem.
Mit Blick auf das Wann ist die biologistische Sichtweise des Schuleintrittsalters um eine flexibilisierte Lösung zu ergänzen, die sich auf die Erfahrungen der Eltern abstützt und die Meinungen von Kindergartenlehrkräften sowie Kinderärzten einbezieht.
Der obligatorische Eintritt in den Bildungsraum sollte neu gedacht werden. Mit Blick auf das Wann ist die biologistische Sichtweise des Schuleintrittsalters um eine flexibilisierte Lösung zu ergänzen, die sich auf die Erfahrungen der Eltern abstützt und die Meinungen von Kindergartenlehrkräften sowie Kinderärzten einbezieht. Auch das Wie braucht eine Korrektur. Der Kindergarten muss einen eigenständigen Bildungs- und Erziehungsauftrag haben, der das Lernen durch das Spiel in seinen vielfältigen Variationen und die Förderung von Kreativität in den Mittelpunkt stellt.
Wenn solche Neuausrichtungen des Kindergartens als Schulvorbereitung verstanden werden, kann ich mich mit diesem Begriff anfreunden. Dazu gehören selbstverständlich Sprachförderung und die Einführung in Zahlen und Mengen. Jenseits eines Turbokindergartens erwerben Kinder in einem solchen Setting die für die spätere Schullaufbahn wichtigsten Fähigkeiten, die im Lehrplan 21 «überfachliche Kompetenzen» heissen. Dazu gehören die Förderung von Lernlust und Neugier, Selbstvertrauen, Eigenverantwortlichkeit, Gemeinschaftsfähigkeit sowie Hartnäckigkeit und Frustrationstoleranz. Solche Fähigkeiten sind das wichtigste, was Erwachsene den Kindern mit auf den Weg geben können.
Prof. Margrit Stamm
Dieser Artikel erschien zuerst im Nebelspalter und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin publiziert.
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