23. April 2024

Christian Gotthilf Salzmann – Philanthropische Pädagogik

1806 erschien in Deutschland eine pädagogische Schrift mit dem merkwürdigen Titel «Ameisenbüchlein», die dem schon 1780 erschienenen «Krebsbüchlein» folgte. Ihr Autor, Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811), gehört zu den grossen Aufklärungspädagogen des 18. Jahrhunderts: Basedow, Campe, Wolke, Resewitz, Rochow, Felbiger und Pestalozzi, denen die moderne Schule ihre entscheidenden Fundamente verdankt. Unser Haushistoriker Peter Aebersold stellt uns diesen weithin unbekannten Bildungspionier vor.

Unwissenheit als gesellschaftlicher Missstand

Als junger Prediger hatte Salzmann ein offenes Auge für die Missstände seiner Zeit, die er auf die allgemeine Unwissenheit vor allem der Erzieher zurückführte. Die Ursachen sah er im mangelnden guten Vorbild, im Mangel an Aufsicht und in Fehlern der Erziehung. Er glaubte, dass hier die Schule allein Besserung schaffen könne und begann sich dem Erziehungswesen zuzuwenden. Im «Krebsbüchlein oder Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder» beschrieb Salzmann, wie falsche Erziehungsmethoden zu verbreiteten Misshandlungen der Kinder und einem allgemeinen «Krebsgang» der Gesellschaft führen. Nach dessen Erscheinen wurde Salzmann von Basedow als Lehrer am Dessauer Philanthropin, einem reformpädagogischen Erziehungs- und Bildungsinstitut, eingeladen.

Als das Dessauer Philanthropin einging, gründete er ein eigenes Philanthropin auf einem Landgut in Schnepfenthal. Er wurde dabei vom Fürsten von Gotha unterstützt. Viele Fürsten hatten durch die pädagogischen Schriften der Aufklärung erfahren, dass die Förderung der Schule dem Staate zunutzen komme. In Schnepfenthal mit bis zu 50 Schülern konnten Salzmann und seine Mitarbeiter eine lautere und liebevolle Stimmung schaffen, bei der kaum je Streit und Zwistigkeiten ausbrachen. Der Geist der Erziehung mit der gegenseitigen Förderung durchdrang alle menschlichen Beziehungen. Trotz des umfangreichen Lehrprogramms herrschten Frohsinn und Ungezwungenheit.

Die vernünftige, naturgerechte Erziehung der Erzieher

Von Salzmanns zahlreichen Erziehungsschriften wie «Konrad Kiefer oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Kinder» (eine Nachbildung von Rousseaus «Emil») ragt das Ameisenbüchlein als Höhepunkt hervor. Im «Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher» ist Salzmanns erzieherische Gesinnung und seine Unterrichtsmethode ausführlich und klar dargestellt. Vieles, was darin nur Postulat war, wurde später verwirklicht. Aber es bleibt doch noch manches, wozu diese Aufklärungspädagogik als Wegweiser dienen könnte. Das Ameisenbüchlein beginnt mit folgendem Wahlspruch, der alle übrigen Gedanken zusammenfasst: «Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muss der Erzieher den Grund in sich selbst suchen». Mit dem «Geschäft der Erziehung» soll sich nur befassen, wer diesen Wahlspruch von ganzem Herzen glaubt annehmen zu können. Salzmann war jedoch bewusst, dass der Erzieher nicht für alle Mängel seines Zöglings verantwortlich ist, vor allem wenn er ihn nicht von früher Kindheit an um sich haben konnte.

Salzmanns «Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher»

 

Ein echter Pädagoge soll sich für die Fehler und Untugenden seiner Zöglinge verantwortlich fühlen, indem er zu erkennen versucht, worin er eventuell dem Kind zu schlechtem Betragen Anlass gibt: Reizt sein Verhalten die Opposition im Kinde? Erreicht sein Unterricht die Kinder nicht, weil sie ihm nicht zu folgen vermögen und deshalb zu schwatzen beginnen? Wendet er nicht die nötige Freundlichkeit auf, die das Gemüt der Kinder heiter und aufnahmefähig macht? Sich solche Fragen zu stellen, heisse, den Weg der Selbsterkenntnis zu beschreiten: «Der Anfang der Weisheit ist die Selbsterkenntnis.»

Man solle den Kindern die Freude an der Arbeit, die Lust, sich nützlich zu beschäftigen, und die Sehnsucht, einmal gemeinnützig wirken zu können, schon frühzeitig vermitteln.

Die Erziehung zum Menschen

Erziehung umschreibt er im «Ameisenbüchlein» als «Entwicklung und Übung der jugendlichen Kräfte.» Der Mensch solle alle seine Möglichkeiten auszuschöpfen suchen: «Erzieht man das Kind zum Menschen, so werden alle seine Kräfte entwickelt und geübt.» Hierbei folge man am besten der Ordnung der Natur, indem jedem Entwicklungszustand die ihm angepasste Betätigung möglich gemacht werde. Man solle den Kindern die Freude an der Arbeit, die Lust, sich nützlich zu beschäftigen, und die Sehnsucht, einmal gemeinnützig wirken zu können, schon frühzeitig vermitteln. Nur eine gute Erziehung könne das Fundament der Moral bilden, deshalb müsse die Tugend erlernt und geübt werden. Wer die Menschheit verbessern wolle, müsse die Erziehung verbessern. Zu Salzmanns Erziehungsmethoden gehörte die Kräftigung des Körpers als Vorbedingung zu einer gesunden Geistesbildung: «Mein Körper ist mir doch wahrlich das nächste, und diesen gesund zu halten, muss meine erste Wissenschaft sein.» In Schnepfenthal wurde täglich eine Gymnastikstunde durchgeführt. Dazu kamen gemäss Lehrplan im Sinne der «Arbeitsschule» kalte Bäder, Gartenarbeit und handwerkliche Betätigung.

Zur Erziehung einer echten Sittlichkeit muss der Erzieher jeglichem Zwang (auch der Prügelstrafe) entsagen.

Unterricht aus der Werkstatt “Natur”.

Schulung der Geisteskräfte an der Natur

Die Schulung der Geisteskräfte muss nicht im theoretisch-abstrakten, sondern im Bereich des Sinnlich-Anschaulichen beginnen. Indem die Kinder beobachten lernen, wird auch das Denken gefördert. Das Beobachtungsmaterial soll nicht aus Büchern, sondern aus dem «Buche der Natur» entnommen werden. Blumen und Bäume, Vögel und Fische, Wälder und Wiesen und ein Naturalienkabinett über Jahreszeiten, Wetter, Gestirne usw. sind ein Reservoir für einen anschaulichen Unterricht, bei dem die Aufmerksamkeit der Kinder kaum erlahmt. Zur Naturbetrachtung und Sprachschulung gehören auch die Werkzeuge, denen sich die Menschen bei ihrer Arbeit bedienen, darunter auch der Handarbeitsunterricht, der schon ab der ersten Schulstufe einsetzen kann. Mit dem spielerischen Unterricht (im Freien) kommt man der Lebhaftigkeit der Kinder entgegen.

Zur Erziehung einer echten Sittlichkeit muss der Erzieher jeglichem Zwang (auch der Prügelstrafe) entsagen, weil er das Kind nicht innerlich zu bilden und zu formen vermag: «Der Erzieher soll den Zögling dahin zu bringen versuchen, dass er selbst das Gute wolle und es tue, nicht deswegen, weil es ihm von anderen geboten und das Gegenteil verboten wird, weil er von der Befolgung des Gebots Belohnung, von der Übertretung Strafe zu erwarten hat, sondern weil er selbst es will.» Salzmann wollte durch das gute Vorbild erziehen und seine erste Forderung an den Erzieher lautete: «Erziehe dich selbst!» Solange der Mensch sich selbst erzieht, besitzt er jene seelische Elastizität und Aufgeschlossenheit, die ihm den Zugang zum Herzen des Kindes verschaffen kann.

Tafel zur «Erziehung der Erzieher»

Seine wichtigsten Imperative an den jungen Lehrer sind von einem hohen erzieherischen Ethos getragen. Sie lauten: 1. Suche gesund zu sein, 2. Sei heiter und suche die Heiterkeit zu bewahren, 3. Lerne mit Kindern sprechen und umgehen, 4. Lerne dich mit Kindern beschäftigen, 5. Bemühe dich, dir deutliche Kenntnisse der Natur zu erwerben, 6. Lerne die Erzeugnisse des menschlichen Fleisses kennen, 7. Lerne die Hände brauchen, 8. Suche dir eine Fertigkeit zu erwerben, um die Kinder zur innigen Überzeugung von ihren Pflichten zu bringen, 9. Handle immer so, wie du wünschest, dass deine Zöglinge handeln sollen.

Für Salzmann ist der Beruf des Lehrers eine Tätigkeit für das Menschenwohl in der Welt. Wer wie der Erzieher den Menschen veredelt, bewirkt das Wertvollste, weil daraus alles Wertvolle überhaupt hervorgeht. In der Geschichte der Pädagogik, als einer einzigen Kette von Bestrebungen der «Menschenveredelung», gehört Salzmann zu den Besten, die die Menschenliebe zur Grundlage der Erziehung gemacht haben.

Verwandte Artikel

Beat Kissling bespricht die Be-Kenntnisse des Condorcet-Autors Riccardo Bonfranchi

Der langjährige Schweizer heilpädagogische Praktiker, Wissenschaftler und Lehrerbildner Riccardo Bonfranchi legt mit seiner Publikation “Phänomenologie der Geistigen Behinderung – Be-Kenntnisse eines
Heilpädagogen” eine Collage reichhaltiger Erfahrungen, Einsichten und theoretischer Reflexionen zum tieferen Verständnis dieses kleinen, besonders vulnerablen Teils der Bevölkerung vor. Darin entfaltet er Schritt für Schritt ein Verständnis für die vielfältigen Facetten dessen, was „geistige Behinderung“ wirklich beinhaltet. Das Buch richtet sich an ein breites, auch nichtfachliches Publikum. Beat Kissling hat es gelesen und stellt uns die Be-Kenntnisse vor.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert