Es war abzusehen, dass mit dem Corona-Lockdown die Fantasien von Digitalisierungsbefürwortern und -kritikern ins Kraut schießen. Die einen deuten den Ausnahmezustand als die Sternstunde für den Durchbruch der Digitalisierung und die anderen als den Untergang der Bildung. Dabei sollte zunächst klar sein, dass nicht „Bildung“ digitalisiert werden kann, sondern nur Bedingungen, Funktionen, Inhalte und Aktivitäten, die schulisches wie außerschulisches Lernen ermöglichen.
In der Diskussion wird oft übersehen, dass es sich bei dem Lockdown tatsächlich um einen Ausnahmezustand gehandelt hat und nicht um den Beginn einer neuen Ära. Die Digitalisierungsbefürworter geißeln ein angebliches „Schulversagen“, weil die Schulen nicht genügend vorbereitet waren. Wie sollten sie auch, die Situation, vor der sie standen, gab es noch nie. In keinem Land waren die Institutionen auf einen solchen Lockdown vorbereitet – auch das Gesundheitswesen nicht – und überall musste ad hoc und ohne große Reflexionszeit so reagiert werden, dass es zum Regime der Pandemiebewältigung passte.
Doch keine Institution wurde in den vergangenen Monaten so kritisiert wie die deutschen Schulen. Das ist notorisch.
Doch keine Institution wurde in den vergangenen Monaten so kritisiert wie die deutschen Schulen. Das ist notorisch so und braucht eigentlich keine Krise. Doch was sich zeigte, war nicht das „Hurra der Schulkritik“. Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen wie Eltern wünschten sich während der Krise den Normalzustand zurück. Das hatte seinen guten Grund, die Verlässlichkeit der Bildungsinstitutionen ist eine feste und zuverlässige Größe in der Lebensplanung, im sozialen Leben und im demokratischen Zusammenhalt.
Ein mühsames Experiment
Mit dem Lockdown wurden die Schulen geschlossen und der Unterricht ausgelagert. Die Schließung von Schulen ist in Notzeiten auch früher schon vorgekommen, etwa während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch dann wurde kein Unterricht erteilt. Erstmalig fand in der Corona-Krise trotz Schließung Unterricht statt, was ohne digitale Medien nie möglich gewesen wäre. Was ausgelagert und von den Eltern, oft von den Müttern, betreut wurde, war das bestehende schulische Programm und das Experiment in Sachen „Selbstorganisation“ erwies sich als ausgesprochen mühsam.
Trotz Corona fahren in vielen Regionen Deutschlands die Schulen wieder hoch – mit voller Schülerstärke. Dabei sind viele wichtige Maßnahmen gar nicht gewährleistet, klagt der Bundeselternrat. Und Maskenpflicht gilt längst nicht überall.
Bilanz nicht einfach negativ
Die Schulen mussten sich von heute auf morgen umstellen und in kurzer Zeit Lösungen für eine Situation finden, die niemand vorhergesehen hat und auf die niemand vorbereitet war. Bemisst man die Erfahrungen daran und geht von den gegebenen Bedingungen aus, dann fällt die Bilanz nicht einfach negativ aus.
Neue Formen der Aufgabenstellung und der Lernbetreuung mussten gefunden werden, obwohl längst nicht alle Schulen und Haushalte über genügend IT-Infrastruktur verfügten, die die notwendigen Sicherheitsstandards erfüllen. Auch die Eltern mussten Lösungen finden, denn für die wochenlange Kombination von Privatleben, Homeoffice, drohendem Arbeitsstellenverlust und „Unterricht zu Hause“ war die Wohnungssituation nicht eingerichtet. Auch deswegen wurde die Auslagerung sehr schnell zum Problem.
Weitgehend unaufgeregt und meistens sehr professionell.
Krise, kein Testfall
Geht man also von den Anstrengungen aller Seiten aus und summiert nicht einfach nur die unvermeidlichen Fehler, dann kann auch festgehalten werden, dass der Umgang mit den neuen Problemen weitgehend unaufgeregt und meistens sehr professionell erfolgt ist. Die Schulen haben getan, was sie konnten und sind dabei offenbar nicht schlecht gefahren.
Aber das heißt nicht, sie können sich mit dem „Normalzustand“ beruhigen und hätten die Corona-Krise gleichsam zur erfolgreichen Auslagerung der Digitalisierung genutzt. Was da auf die Schulen zukommt, muss als langfristige Aufgabe verstanden werden, für die die Krise gerade kein Testfall gewesen ist, weil dafür Ad-hoc-Lösungen keine Grundlage sind.
Lehrpläne, Lehrmittel und Stundentafeln werden bei der digitalen Weiterentwicklung der Schulen ebenso wenig verschwinden wie Berechtigungen, Leistungsbeurteilungen oder Präsenzunterricht.
Lehrpläne, Lehrmittel und Stundentafeln werden bei der digitalen Weiterentwicklung der Schulen ebenso wenig verschwinden wie Berechtigungen, Leistungsbeurteilungen oder Präsenzunterricht. Alles das lässt sich mit digitalen Tools verbinden, anreichern oder ersetzen und so im schulischen Sinne verbessern. Entscheidend ist: Welche Funktionen der Schule sich damit in einem konkreten Kontext besser verwirklichen lassen. Pointiert gesagt: Die Schule passt sich die Digitalisierung an – nicht umgekehrt.
Pädagogische Schönwetterprosa
Deswegen greift auch die Kritik der Digitalisierungsgegner zu kurz. Die leidenschaftliche pädagogische Schönwetterprosa von der „guten Beziehung“ zwischen Lehrpersonen und Lernenden gilt nur da, wo die Konflikte geringer sind als die Harmonie. „Gute Beziehungen“ lassen sich wünschen und begünstigen – aber niemals verordnen oder erzwingen. Falsche Gegensätze sollte man vermeiden, die persönliche Ansprache der Lernenden widerspricht nicht der Verwendung digitaler Medien im Unterricht.
Die persönliche Ansprache der Lernenden widerspricht nicht der Verwendung digitaler Medien im Unterricht.
Aus didaktischer Sicht gibt es auf allen Schulstufen digitale Lernressourcen, die dem klassischen Unterricht und seinen Möglichkeiten überlegen sind. Dies gilt für Naturwissenschaft, Geschichte, Mathematik, Sprache, Sport, Gestalten und Musik, genau genommen für jedes Fach. Die Beschäftigung mit digitalen Medien widerspricht auch nicht der Demokratie. Die sorgfältige Analyse von Tweets, gerade wenn sie von präsidialen Handys stammen, kann helfen, die politische und moralische Urteilskraft zu stärken. Fake News, Propaganda und Lügengeschichten gibt es bekanntlich nicht erst seit heute.
Da gibt es weder nur digital oder nur Präsenz noch einen „goldenen Mittelweg“ – wenn, dann braucht es eine funktionsbezogene Balance.
Das alles verlangt keine Revolution und bringt auch keinen Untergang mit sich. Medien und insbesondere digitale Medien im „Distance-“ oder „Präsenzmodus“ sind auf allen Schulstufen von ihrer inhaltlichen und didaktischen Funktion, sowie dem schulischen Kontext her zu denken, zu konzipieren und nutzbar zu machen. Da gibt es weder nur digital oder nur Präsenz noch einen „goldenen Mittelweg“ – wenn, dann braucht es eine funktionsbezogene Balance.
Wenn aus den Erfahrungen des Lockdowns eine Lehre für schulischen Unterricht gezogen werden soll, dann wird man sich die Frage stellen müssen: Wie viel Kompetenzen und Ressourcen, bzw. Autonomie brauchen die Schulen vor Ort, um digitale Medien zur Erfüllung des Berufsauftrags zu nutzen. Möglicherweise wird man nach reiflichen Überlegungen und Blicken über die Landesgrenzen zum Schluss kommen, dass das politische Prinzip der „Subsidiarität“ im Bildungswesen eine zweckdienliche Vorbereitung auf regionale Lockdowns sein wird.
Prof. Dr. Damian Miller lehrt Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Prof. em. Dr. Dr. h. c. Jürgen Oelkers ist emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich.