21. Dezember 2024

Monumentale Missverständnisse

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Er ist auch Mitglied der GBW und ein prominenter Kritiker der Kompetenzorientierung. In seinem Beitrag macht er sich Gedanken über die Demolierung von Denkmälern und fragt nach dem Geschichtsbild der Akteure. Sein Beitrag erschien zuerst in der NZZ (Dienstag, 16.6.20).

Ist das der richtige Umgang?

Wer immer in den Verdacht gerät, am Kolonialismus partizipiert und rassistisch gedacht zu haben, muss hinab: ins Museum, ins Meer, in den Müll. Doch ist das der richtige Umgang mit Vergangenheit?

Es gebe, schrieb Friedrich Nietzsche einmal, ein Übermass an historischem Sinn, bei dem das Lebendige zu Schaden komme. Nicht ohne Grund hatte sich der Philosoph damit vor allem gegen eine monumentalische Geschichtsschreibung gewandt, die glaubte, den vermeintlichen Heroen der Vergangenheit Denkmäler setzen zu müssen und im andächtigen Starren darauf zu verharren. Zumindest einige dieser Standbilder werden nun gestürzt; wer immer in den Verdacht gerät, am Kolonialismus partizipiert und rassistisch gedacht zu haben, muss hinab: ins Museum, ins Meer, in den Müll. Am besten aber wäre es – die Aktivisten lassen daran keinen Zweifel –, unsere Gegenwart restlos von solchen inkriminierten Monumenten zu befreien.

Denkmalsturz in den USA.
Photo: TAZ

Man kann diesen Aktionen einiges abgewinnen. Die Demolierung von Denkmälern gehört zum politischen Geschäft, nach jeder Revolution, nach jedem Umsturz wurden die steinernen Repräsentanten des alten Regimes geschleift. Auffallend ist, dass sich solche Eruptionen des Hasses gegen Statuen, Gemälde, Bücher und Filme zunehmend inmitten der Kontinuität von Demokratien entladen, ausgelöst durch einen erschreckenden Anlass, befeuert von den sozialen Netzwerken. Die Tradition aller toten Geschlechter, so Karl Marx, ein Zeitgenosse Nietzsches, lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden – verständlich, sich davon befreien zu wollen. Marx könnte übrigens der Nächste sein, der wegen seiner rassistischen Bemerkungen vom Sockel gestossen werden wird.

Abbruch eines Lenindenkmals: Nicht zuletzt wir selbst sind das Resultat dieser Irrtümer.

Ganz froh will man ob dieses Furors nicht werden. Der Bildersturm, aus welchen religiösen oder ideologischen Motiven er auch entfesselt wird, ist Ausdruck eines Ressentiments, einer ohnmächtigen Wut, die sich einmal in den Rausch der Macht verwandeln will. Hinter dieser Symbolpolitik steckt ein paranoid gebannter Blick auf die Vergangenheit, bereit, alles wieder und immer wieder zu durchleuchten, stets auf der Suche nach Ideen, Taten und Werken, die dem heutigen Wissensstand und aktuellen ethischen Standards nicht genügen, um dann die Toten mit einer triumphalen Geste der moralischen Überlegenheit noch einmal zu töten. Der Glaube, dass es für die Vergangenheit nur ein einziges Kriterium gebe, an dem sie gemessen werden darf, führt zu einer fatalen Geschichtsblindheit und bleibt ex negativo jener verklärenden Haltung verhaftet, über die sich Nietzsche mokierte.

Der Glaube, dass es für die Vergangenheit nur ein einziges Kriterium gebe, an dem sie gemessen werden darf, führt zu einer fatalen Geschichtsblindheit.

Der Hochmut, der sich in der Annahme zeigt, dass alle Geschlechter vor uns irrten, ist ein monumentales Missverständnis. Nicht zuletzt wir selbst sind das Resultat dieser Irrtümer. Wir werden weder zu besseren Menschen, noch schaffen wir eine bessere Welt, wenn wir diese von allen Dokumenten reinigen, die uns daran erinnern könnten, dass die Geschichte keine moralische Anstalt ist. Eine minimale Bildung, die in der digitalen Informationsgesellschaft rarer denn je geworden ist, genügte, um all die verwitterten steinernen oder bronzenen Könige, Fürsten, Feldherren, Condottieri, Eroberer, Entdecker, Händler, Dichter und Denker dort zu belassen, wo sie nun einmal stehen.

Doch keine Weltgeschichte ohne Ironie. Warum nur Denkmäler stürzen, warum nicht auch welche errichten? Erst vor kurzem erhielt eine linksextreme Splittergruppe die Erlaubnis, in einer deutschen Stadt eine originale Lenin-Statue aus den dreissiger Jahren aufzustellen. Der Revolutionär hat ein blutiges Terrorregime errichtet und die Fundamente für eine der grausamsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts gelegt – in diesem Fall spricht das offenbar nicht gegen ein monumentales Gedenken, der mediale Sturm der Entrüstung zumindest blieb aus. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Das Coronavirus hat die Aufstellung vorerst verhindert. So gnädig wird die Natur mit uns nicht immer verfahren.

Paul Liessmann

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