Die Unschärfe dieses Kompositums[1] wird ersichtlich beim Vertauschen der zusammengesetzten Begriffe. Dabei ergibt sich Orientierungskompetenz. Ohne weitere Erklärung ist unmittelbar einsehbar, was damit gemeint ist: die Kompetenz sich zu orientieren. Die Kompetenzorientierung wäre dann die Orientierung an der Kompetenz.
„Was ist Kompetenz?“
Abgesehen davon, dass Orientierung a) Wissen voraussetzt, ist b) nicht klar, wie Kompetenzorientierung genau zu interpretieren ist. Die grösste Unsicherheit allerdings resultiert aus der Unschärfe des Kompetenz-Begriffs. Was ist Kompetenz?
Gemäss Wikipedia geht der Begriff in der Pädagogik u.a. auf Wolfgang Klafki zurück:
„Im erziehungswissenschaftlichen Kompetenzbegriff sind (…) sachlich-kategoriale, methodische und volitionale Elemente verknüpft, einschliesslich ihrer Anwendung auf ganz unterschiedliche Gegenstände …“[2]
Anderer Ansicht ist Franz E. Weinert. Für ihn sind Kompetenzen
„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen (…) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“[3]
Für Eckhard Klieme wiederum geht es beim Begriff der Kompetenz
„… darum, Grunddimensionen der Lernentwicklung in einem Gegenstandsbereich (einer „Domäne“, wie Wissenspsychologen sagen, …) zu identifizieren. Kompetenzen spiegeln die grundlegenden Handlungsanforderungen, denen Schülerinnen und Schüler in der Domäne ausgesetzt sind.“[4]
Noch mehr Klarheit bringt ein Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik:
„Kompetenzen sind in der Pädagogik erlernbare, kognitiv verankerte und daher wissensbasierte Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auf eine erfolgreiche Bewältigung zukünftiger Anforderungen in Alltags- und Berufssituationen abzielen.“[5]
„Kompetenzen sind (…) allgemein betrachtet ein unscharfer Oberbegriff …”
Angetreten, die schulische Wissensvermittlung zu ersetzen, basiert die Kompetenzorientierung offenbar auf Wissen, ist sie doch gemäss vierter Definition „wissensbasiert“. Also abgesehen davon, dass es somit ohne Wissen keine Kompetenzen gibt, liegt noch ein zweiter Hase im Pfeffer: Der Eindruck, der sich spätestens anlässlich der vierten Definition von Kompetenz einstellt, wird durch besagtes Online-Lexikon bestätigt: „Kompetenzen sind (…) allgemein betrachtet ein unscharfer Oberbegriff …“ Darauf machte bereits Benedikt Weibel, ehemaliger Generaldirektor der Schweizerischen Bundesbahnen, in einer Kolumne in der “Schweiz am Sonntag” aufmerksam: „Es fällt auf, dass viele namhafte Wissenschaftler die Meinung vertreten, es gäbe gar keine allgemein anerkannte Definition dafür. Und einige lehnen den Begriff überhaupt ab.“[6]
„Nach aussen scheint die Kompetenzorientierung umgesetzt, intern herrschen Pragmatismus und oft Ablehnung.“
Die damaligen Mitglieder der Eidgenössischen Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) folgten wie viele andere europäische Bildungsministerien der Anregung durch die OECD[7], einen neuen nationalen, auf Kompetenzen basierenden Lehrplan zu entwerfen, und zwar ohne vorgängige Rücksprache mit dem Volk und trotz der völligen Unschärfe des Kompetenz-Begriffs und dessen Abhängigkeit von Wissen. Man fühlt sich hier unweigerlich an Jesus’ letzte Bitte erinnert: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“[8] Übertragen auf die Bauwirtschaft würde dieses Vorgehen bedeuten, dass ein Wolkenkratzer auf einem Fundament gebaut würde, von dem niemand weiss, woraus es eigentlich besteht. Der Einsturz wäre mit grosser Wahrscheinlichkeit vorprogrammiert. Beim kompetenzorientierten Lehrplan21 ist das Scheitern ein schleichender Prozess: „Nach aussen scheint die Kompetenzorientierung umgesetzt, intern herrschen Pragmatismus und oft Ablehnung.“[9]
Abgesehen von der Unschärfe des Begriffs der Kompetenz und dem Wissen als deren Voraussetzung liegt ein dritter Hase im Pfeffer. Dieser springt einem ins Auge beim Vergleich mit der Privatwirtschaft. Die Anzahl der Kernkompetenzen einer Verkäuferin beträgt in etwa 6.[10] Beim Verkaufsleiter sind es circa deren 10.[11] Auch in der Altenpflege werden ungefähr 10 Kernkompetenzen vorausgesetzt.[12] Bei der Tischlerin ist die Rede von etwa 8. Um Unterkompetenzen zu berücksichtigen sollen die Zahlen mit vier multipliziert werden. Somit beträgt die Anzahl erforderlicher Kompetenzen bei den erwähnten Berufen zwischen etwa 20 und 40. Silke Dahmen, Karriereberaterin und Psychotherapeutin, veranschlagt ferner die Anzahl Kompetenzen, derer wir in Zukunft bedürfen zur Bewältigung beruflicher und privater Herausforderungen, mit 14.[13] Im Vergleich dazu werden von SchulabgängerInnen 3´500 Kompetenzen erwartet…
3´500 Kompetenzbeschreibungen zur Leistungsbeurteilung sind in der Folge auch im schulischen Umfeld gänzlich unzweckmässig.
Natürlich sind all diese Zahlen willkürlich, da, wie oben aufgezeigt, keine allgemeingültige Definition für Kompetenz existiert. In der Folge ist es auch eine subjektive Ermessenfrage, bis auf welche Ebene Kompetenzbeschreibungen heruntergebrochen werden. Der Grund dafür, dass die Anzahl privatwirtschaftlicher Kompetenzformulierungen für unterschiedliche Berufe jedenfalls überschaubar ist, besteht in der Notwendigkeit der Praktikabilität. Auf der Grundlage Tausender Kompetenzbeschreibungen lassen sich weder Mitarbeiter- bzw. Vorstellungsgespräche noch Audits [14] durchführen. 3´500 Kompetenzbeschreibungen zur Leistungsbeurteilung sind in der Folge auch im schulischen Umfeld gänzlich unzweckmässig. Immerhin einen Vorteil bietet die offenbar völlig aus dem Ruder gelaufene Kompetenzorientierung im Lehrplan21. Sie behindert den Schulbetrieb für alle Lernenden gleichermassen und leistet dadurch einen Beitrag zur Chancengleichheit.
[1] zusammengesetztes Wort
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kompetenz_(P%C3%A4dagogik)
[3] https://lehrerfortbildung-bw.de/u_sprachlit/deutsch/gym/bp2004/fb1/01_ueberblick/kompetenz.htm
[4] https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/978-3-7799-4612-0.pdf
[5] https://lexikon.stangl.eu/7006/kompetenz/
[6] http://www.benediktweibel.ch/kolumnen/index.php?&id=116
[7] Organisation for Economic Co-operation; die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
setzt sich ein für die Marktwirtschaft. Siehe https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=oecd
[8] Lukasevangelium 23,34; https://www.bibelstudium.de/articles/3223/vater-vergib-ihnen.html
[9] https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2018/01/GH_05_2017_S29-31.pdf
[10] https://www.vertriebsmanager.de/ressort/6-kompetenzen-die-jeder-vertriebler-verhandlungen-braucht-1834915728
[11] https://vertriebszeitung.de/was-ein-vertriebsleiter-alles-koennen-muss-die-10-wichtigsten-kompetenzen/
[12] https://www.ausbildungspark.com/berufsbilder/altenpfleger/
[13] https://www.karriere-blog.de/diese-faehigkeiten-benoetigen-sie-um-im-beruf-erfolgreich-bleiben/
[14] „Ein Audit ist eine wichtige Massnahme im Rahmen des Qualitätsmanagements. Während eines Audits erfolgt die Überprüfung von Prozessen, Produkten oder Systemen auf Einhaltung von Vorgaben oder Richtlinien. Audits können intern oder extern durchgeführt werden.“ Siehe: https://www.security-insider.de/was-ist-ein-audit-a-799396/
Im September 2006 setzte die D-EDK eine sechsköpfige Projektgruppe ein, um die Grundlagen für den Lehrplan – unter Ausschluss der Lehrer und der Öffentlichkeit – zu erarbeiten. Die Projektgruppe ging über eine blosse Harmonisierung der bestehenden Lehrpläne der Kantone hinaus und erarbeitete ein Konzept für einen völlig neuen Lehrplan mit einem neuen Unterrichtsverständnis, der “Kompetenzorientierung nach Weinert”. Die Projektgruppe begründete ihre neue Lehrplankonzeption damit, dass sich “moderne” Bildungssysteme und Lehrpläne an Kompetenzen orientieren würden.
“Mit der Kompetenzorientierung ergibt sich eine veränderte Sichtweise auf den Unterricht. Lernen wird verstärkt als aktiver, selbstgesteuerter, reflexiver, situativer und konstruktiver Prozess verstanden”.
– Grundlagen für den Lehrplan 21, D-EDK März 2010
Die Kompetenzorientierung auf der “Unterrichts”stufe ist das “selbstgesteuerte Lernen”, das als kompetenzfördernd bezeichnet wird. Tatsächlich kann kein gemeinsamer Unterricht mehr
stattfinden, weil alle Schüler auf einem anderen, individuellen Wissensstand sind.
Hans-Günter Rolff: “Für den konstruktivistischen Unterricht sind selbstgesteuertes Lernen und kooperative Lernformen unabdingbar. Das selbstgesteuerte Lernen nimmt im kompetenzorientierten Unterricht eine wesentliche Rolle ein, denn durch ausschliesslich lehrergesteuerten Unterricht haben die Schüler kaum die Möglichkeit, sich Kompetenzen anzueignen.”
https://de.wikipedia.org/wiki/Lehrplan_21