Felix Hoffmann - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 19 Feb 2023 22:12:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Felix Hoffmann - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Persönlichkeitstypen in der Bildungspolitik https://condorcet.ch/2023/02/persoenlichkeitstypen-in-der-bildungspolitik/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=persoenlichkeitstypen-in-der-bildungspolitik https://condorcet.ch/2023/02/persoenlichkeitstypen-in-der-bildungspolitik/#comments Sun, 19 Feb 2023 21:53:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=13139

Anlässlich der Landratssitzung vom 9. Februar 2023 wurde über die Motion von Anita Biedert, SVP, «Verzicht auf Französischunterricht an der Primarschule» debattiert. Die Motionärin erläuterte ihr Anliegen argumentativ fundiert, taktisch geschickt und zugleich sympathisch unterhaltsam. Anhand der zahlreichen Wortmeldungen der BefürworterInnen und GegnerInnen von Frühfranzösisch lassen sich mit ausschliesslichem Bezug auf die erwähnte Debatte fünf Politikertypen herausschälen.

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«Die Leute haben zwar meist keine Ahnung, dafür aber in der Regel eine ganz dezidierte Meinung.»

1. Roman Brunner, SP

Er gehört bei diesem Sachgeschäft zum reflexgesteuerten Politikertypus. Und wie das bei Reflexen so ist, geht der Impuls nicht vom Gross-, sondern vom Kleinhirn aus. Dies ist bei Brunner jeweils der  Fall, wenn er «Starke Schule» hört. Dann kommt losgelöst von der Sache, ein kategorisches NEIN!

Der Hintergrund dieses Reflexes besteht darin, dass die «Starke Schule» den ehemaligen SP-Bildungsdirektor Urs Wüthrich zu Fall brachte, indem sie vor acht Jahren die FDP-Frau Monica Gschwind in den Regierungsrat hievte. Jenen Sturz und den damit einhergehenden Stopp einiger von Wüthrich eingeleiteter Schulreformen kann die alte Garde der SP bis heute nicht verwinden. Dies umso mehr, als dass die «Starke Schule» in der Bildungspolitik äusserst erfolgreich agiert. Es gibt jedoch insbesondere in der Jungmannschaft dieser Partei auch Akteure, die jenem Reflex nicht unterliegen. So haben Jan Kirchmayr und zwei weitere SP-Leute Wesentliches zur Beförderung von Biederts Vorstoss beigetragen.

Brunner argumentiert zu Recht mit der Bedeutung von Französisch als zweite Landessprache und der Nähe des Baselbiets zu Frankreich und dem Jura. Doch entpuppt sich seine Argumentation als reine Rhetorik, die an der Wirklichkeit des Französischunterrichts auf der Primarstufe zerschellt:


Lernziele Passepartout A2.1

Leseverstehen
32.8%

Hörverstehen
57%

Sprechen
10.8%

Quelle: Schlussbericht zum Projekt‚ Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen, S. 88

Französischsprachige Gebiete und das Baselbiet können noch so nahe beieinanderliegen. Mit solch schlechten Leistungen insbesondere beim Sprechen ist ein Austausch zwischen Deutschschweizern und Welschen jedenfalls kaum möglich. Denn wer nicht sprechen kann, vermag sich nicht verständlich zu machen, was Sprachgrenzen zur Folge hat.

Wenn Brunner von einem «Angriff auf den Französischunterricht» spricht, kennt er die erwähnte Wirklichkeit nicht und/oder er missversteht Biederts Anliegen. Ihre während der Landratsdebatte in ein Postulat umgewandelte Motion dient ja gerade dem Französischunterricht in unserem Kanton. In dem Sinne nämlich, dass dieser wieder besser werden soll zur Überwindung von Sprachgrenzen.

2. Beatrix von Sury, Die Mitte

Von Sury begegnet Biederts Anliegen mit wenig Theatralik aber mit umso mehr Empörung. Sie artikuliert ihre Emotionen nicht nur mit der Intonation ihrer Stimme, sondern gleich zu Beginn auch verbal mittels eines energischen und mit viel Emphase unterlegten «Je suis outrée!» (Ich bin empört!). Von Sury empfindet das Postulat offensichtlich als Feldzug gegen ihre eigene Muttersprache und letztlich als Angriff auf ihr Ego. Die Autorin Alexandra Herdt meint in diesem Zusammenhang: «Nur unser Ego kann etwas persönlich nehmen und sich verletzt fühlen.»[1] Von Sury gehört somit beim vorliegenden Geschäft zur politischen Gattung der Ichbezogenen. Sachpolitik allerdings lässt sich schlecht betreiben auf der persönlichen Schiene. Letztere erschwert die Sicht auf die Sache. Wie schon bei Brunner ist auch bei Von Sury eine Kränkung ursächlich für die ablehnende Haltung gegenüber Biederts Postulat. Aufgrund ihrer Emotionalität verkennt sie dessen Intention, die tatsächlich in der Verbesserung des Französischunterrichts besteht. Die ihrer Muttersprache dadurch entgegengebrachte Wertschätzung entgeht Von Sury vollkommen vor lauter Empörung.

3. Thomas Eugster, FDP

Er kann dem Typus des klassischen Sachpolitikers zugerechnet werden. Ruhig und unprätentiös kommt er gleich zu Beginn seines angenehm bündigen Plädoyers zum Kern der Sache, nämlich einer erfolgreichen Französischvermittlung, die gegenwärtig nicht gewährleistet ist. Denn das Postulat will einzig, dass dieser Umstand anerkannt und seitens der Politik entsprechend gehandelt wird zur Verbesserung des Französischunterrichts. Anstelle blendender Rhetorik lässt Eugster in seiner Argumentation Sachwissen durchblicken, nicht zuletzt mittels seiner Bemerkung, wonach Fremdsprachen im schulischen Umfeld erst ab einem gewissen Alter effizient und nachhaltig gelernt werden können.

Dazu Jasone Cenoz, Professorin für angewandte Linguistik: «These results indicate that students who started learning English in grade 6 (10-11 years old) present a higher degree of proficiency in English than students who have been exposed to the same number of hours of instruction but started learning English in grade 3 (7-8 years old). »[2]

Selbstverständlich gilt dies für alle Fremdsprachen, so auch für Französisch. Im Bericht des Wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit der Uni Fribourg ist zu lesen: «Im schulischen Kontext zeigt sich derselbe Startvorteil für ältere Lernende. Sie lernen schneller als die jüngeren. Ein Ein- und Überholen durch die Frühbeginner wird in den momentan verfügbaren Studien im Allgemeinen nicht nachgewiesen.»[3] Und sogar Georges Lüdi, der eigentliche Vater des Frühfranzösisch, gesteht im Nachhinein: «Internationale Studien haben in der Tat nachgewiesen, dass innerhalb des klassischen Fremdsprachenunterrichts ‹Frühstarter› am Schluss der Schulzeit ohne zusätzliche Massnahmen bezüglich ihrer Sprachkompetenzen kaum mehr messbare Vorteile haben.»[4] In der Zeitung «Le Temps» vom 23. Juni 2014 lässt er sich diesbezüglich wie folgt verlautbaren: «Les enfants n’apprennent pas mieux en étant très jeunes, contrairement à ce que l’on prétend. Les élèves du secondaire comprennent mieux la grammaire, le lexique, la syntaxe.» Es spricht für Lüdi, dass er die Grösse hatte, seinen Irrtum, was die Fremdsprachenvermittlung auf der Primarstufe betrifft, öffentlich einzugestehen.

4. Linard Candreia, SP

Mit viel Pathos stellt der SP-Vertreter die Behauptung auf, die Schülerschaft sei motiviert, Französisch zu lernen. Damit drückt er sich gleich am Anfang seines Votums den Stempel des politischen Träumers auf. Denn im bereits unter 1 erwähnten «Schlussbericht» ist nachzulesen: «Ein Vergleich der Motivation zum Lernen der ersten Fremdsprache auf Basis der Schülerfragebogenitems über die Sprachregionen hinweg zeigt deutlich, dass die Motivation zum Französischlernen im Passepartout-Raum generell eher tief ist… Zudem findet nur ca. die Hälfte der Schüler/innen den Französischunterricht interessant, und fast 2/3 geben an, dass sie den Französischunterricht (eher) nicht freiwillig besuchen würden.»[5]

Mit seinem idealistischen Optimismus offenbart Candreia eine Ferne zur Realität des Französischunterrichts, die bezogen auf die Schweiz nicht viel grösser sein könnte als die zwischen Scuol und Genf. Und um nicht von seinen Träumereien aufwachen zu müssen, will er auch nichts wissen von Studien und Evaluationen. Dan McCafferty, der verstorbene Sänger der britischen Hard-Rock-Band Nazareth, würde auf so viel Realitätsverweigerung mit leidender Tenorstimme erwidern: «Dream on!»[6]

Mit der Erwähnung des Begriffs der Mehrsprachigkeit weckt Candreia die Assoziation mit der «Mehrsprachigkeitsdidaktik» der Passepartout-Lehrmittel. Die Ironie besteht hier darin, dass enorm vielen Lernenden der Französischunterricht insbesondere wegen jener Passepartout-Lehrmittel verleidet ist. Diese werden auf der Primarstufe nach wie vor von zu vielen Lehrpersonen eingesetzt mit der Folge, dass Schülerinnen und Schüler nach vier Jahren Unterricht über keine nennenswerten Französischkenntnisse verfügen, was diese sehr genau und zurecht frustriert registrieren. Im erwähnten Schlussbericht heisst es diesbezüglich: «…denn ein beachtlicher Teil der Schüler/innen erreicht am Ende der Primarstufe auch ein elementares Niveau (A1.2) bei den Sprachkompetenzen nicht.»[7] Gemäss Passepartout-Lehrplan sollte wohlbemerkt das Niveau A2.1 erreicht werden!

Es ist bekannt, dass die Passepartout-Ideologie ein negatives Lernverhalten generiert. Auf dem Konstruktivismus beruhend, negiert sie die Notwendigkeit der Wortschatz- und Grammatikvermittlung sowie der Fehlerkorrektur. Fremdsprachen konstruieren sich von selbst im Sprachbad, und zwar ohne Anstrengung der Lernenden. So jedenfalls der Aberglaube der Passepartout-Ideologen. Da es mit lediglich zwei, drei Wochenlektionen kein Sprachbad gibt, schwimmen die Schülerinnen und Schüler im Trockenen. So kommt es, dass viele Französischlehrkräfte der Sekundarstufe nach theoretisch vier Jahren Französischunterricht auf der Primarstufe nochmals von vorne beginnen. Abgesehen davon, dass sie in drei Jahren mit weniger Französischlektionen nicht gleichviel Stoff behandeln können wie zuvor mit mehr Stunden während vier Jahren, müssen sie nun zunächst einmal von Null auf eine Arbeitshaltung vermitteln und zusätzlich gegen über Jahre eingeschliffene Fehler ankämpfen, die sich jedoch kaum noch ausmerzen lassen.

Wer sich übrigens jenseits der Träumerei und Rhetorik einen auf Fakten basierenden Überblick verschaffen möchte über das Scheitern des Frühfremdsprachenunterrichts und der Mehrsprachigkeitsdidaktik, sei eine Zeitleiste der Condorcet-Autoren Urs Kalberer, Alain Pichard und Felix Schmutz empfohlen.[8]

«Es genügt nicht, keine Ahnung zu haben, man muss auch anderer Meinung sein.»

5. Yves Krebs, GLP

Frustrierte Französischlernende holt man weder mit Joe Dassin oder Serge Gainsbourg noch mit Michel Sardou hinterm Ofen hervor. Dafür bedarf es guter Lehrmittel und ausreichend qualifizierter Französischlehrkräfte. An beidem mangelt es auf der Primarstufe. Vor allem aber müssen Lernende, um sich erfolgreich Fremdsprachen anzueignen, in einem Alter sein, in dem sie ihre Muttersprache bereits gut beherrschen und einigermassen Bescheid wissen über deren grammatische Strukturen, was bei Lernenden auf der Primarstufe in der Regel nicht der Fall ist. Dies löst bei vielen Lernenden verständlicherweise Frustration aus. Wenn man sich denn unbedingt der Musik bedienen möchte, lässt sich jener Frust trefflich zum Ausdruck bringen mit einem Titel von Johnny Hallyday: «J’en ai marre». Musik spielt in einem modernen Fremdsprachenunterricht zwar durchaus eine Rolle, sie ist aber eher marginal.

Dank des Unterhaltungswerts seines Vortrags, der Anklänge an einen Schnitzelbank der Basler Fasnacht aufweist, schafft es Krebs immerhin in die Kategorie des politischen Kabaretts.

Die Wirklichkeit

Es folgen anonymisierte Sätze von AchtklässlerInnen nach 5½ Jahren Französischunterricht bzw. nach rund 450 Lektionen:

«Je ne arrivé weil j’ai famieli-fété. Tu a arrivé à lundi êt vous allé à la l’école. Comme tu il?» «Je Film prefère regarde. Weil Je ne pa ma arm. Je film préférér à horror êt romantiqu. Ma aimes e Mondpferd. To la film ville êt garçong reiten to la cheval. êt une ville arrive hexen.» «J’ai ne Zeit. Nous können aber alle patinge dans 14 heures. Es-tu einverstanden? Xoxo LG» «Je ne pris pas de temps pour nous Picknick, desole. J’ai des temps au Lundi, mais nous jouez des volleball, ect-ce bon? LG» «J’aime de livre, mais les film éte more interesant au le livre. Ma livré prévéré est percy Jakson. Ma film prevere est Avengers Endgame. Pour le film: Le enemiagagnée, est le petit héros fair une reise de temp.»[9]

«Je freue mich avec du Brief.» «J´ais aller le weekend la parque. Ma ohne une pistoler o morter quelcuen.» «Ma bonne jour start 9:00 a le Europark.» «Je aller zum Kühlschrank.» «Nous visite baucoub activits et nous avons fon.» «Mon journée perfect deservés de gagner parc que c’est le reve de tout les hommes.» «Moi journé de rêve ce le test.» «Dabord nous allé avec le train pour les ganzen Eropapark et vois les differend Languages dans Europapark.»[10]

Diese Liste liesse sich beliebig erweitern. Sie ist ein Aufruf an den Landrat und die BKSD, sich endlich den Realitäten zu stellen. Insbesondere diejenigen Landrätinnen und Landräte, die Anita Biederts Postulat ablehnten in der irrigen Meinung, sie würden sich dadurch stark machen für den Französischunterricht, müssten erkennen, dass sie gegen ihr eigenes Interesse stimmten. So könnten sie immerhin nachträglich Verantwortung übernehmen. Hilfreich hierfür wäre, wenn es gelänge, die Sache an sich über persönliche Befindlichkeiten zu stellen bzw. sich kundig zu machen. Trotz in dieser Angelegenheit schadet ausschliesslich den Lernenden.

Die angekündigte Evaluierung des Frühfranzösisch kostet den Kanton Fr. 200’000.–. Sie wird in etwa zwei bis vier Jahren Erkenntnisse bestätigen, die seit bald zwei Jahrzehnten vorliegen. Bis die notwendige Gesetzesänderung spruchreif ist, werden weitere Jahre verstreichen. Zum Zeitpunkt der Abschaffung des Frühfranzösisch werden alles in allem schätzungsweise sechs bis 10 Jahre ins Land ziehen. In dieser Zeit werden weitere Schülergenerationen daran gehindert, einer der schönsten Sprachen erfolgreich zu lernen zugunsten des nationalen Zusammenhalts, des interkulturellen Austauschs und zugunsten der Wirtschaft. Das Angebot an Französischlehrkräften wird bis dann noch prekärer sein – aus den Passepartout-Schülergenerationen wird diese Sprache kaum jemand studieren können –, sodass man Französisch mit einiger Wahrscheinlichkeit nur noch als Wahlfach wird anbieten können. On sera outré! Dann allerdings zu Recht.

Während der letzten 20 Jahre wurden dermassen viele Fehlentscheidungen in der Schweizerischen Bildungspolitik gefällt, verbunden mit einem kontinuierlichen Leistungsabfall der Lernenden und einem zunehmenden Lehrkräftemangel. Der Grund hierfür ist vielleicht darin zu erkennen, dass zu viele reflexgesteuerte und ichbezogene PolitikerInnen, Rhetoriker, Kabarettisten und Träumer mit zu wenig Ahnung zu viel zu sagen haben.

Die seit Jahren dauernde Debatte um den Frühfremdsprachenunterricht dreht sich im Wesentlichen um die Frage, ob 1 + 1 gleich 3 oder vielleicht nicht doch eher 2 ist. Währenddessen lassen Schülerinnen und Schüler ihre Aufsätze, Vorträge, Zusammenfassungen, Bewerbungen und Prüfungen mittels ChatGPT schreiben, wobei die Bildungspolitik noch nicht einmal angefangen hat, darüber nachzudenken.

«Leider haben Ahnungslose meist auch keine Ahnung davon, dass sie keine haben.»

Anita Biedert: erläuterte dem Baselbieter Kantonsparlament ihre Motion «Verzicht auf Französischunterricht an der Primarschule». Ihr 18-minütiges Plädoyer kann hier nachgehört werden.

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Lehrpläne: Eine kurze Geschichte https://condorcet.ch/2021/04/lehrplaene-eine-kurze-geschichte/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=lehrplaene-eine-kurze-geschichte https://condorcet.ch/2021/04/lehrplaene-eine-kurze-geschichte/#comments Tue, 27 Apr 2021 04:18:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=8370

Es ist nicht alles neu, was Condorcet-Autor und Sekundarlehrer Felix Hoffmann über den Lehrplan 21 schreibt. Aber gut fünf Jahre nach den verlorenen Abstimmungen analysiert er die Entwicklung und stellt fest: Die Gegner von damals hatten in vielen Punkten recht. Die Konsequenz? Mut zum Ausscheren!

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“Die Internetverbindungen werden breitbandiger, doch die Ansichten enger; die Häuser grösser und die Familien kleiner. Wir vermehren unseren Besitz und verlieren unsere Werte. Wir hetzen uns ab zur Steigerung des Lebensstandards und vergessen dabei zu leben… Paradoxien sind allgegenwärtig und Teil des Lebens. So werden bei steigenden Krankenkassenprämien vermehrt Leistungen beansprucht, auf dass sich die Versicherung lohnt, wodurch jedoch die Prämien steigen. Und ausgerechnet im Bereich der Bildung, wo es ums Lernen und Denken, um Wissen und Kompetenzen sowie um den Mut zur Selbstentfaltung geht, herrschen in der Politik Gleichschaltung, Feigheit, Inkompetenz, Denkfehler, Autoritarismus, Beratungsresistenz.”

Die hier erwähnten Paradoxien finden sich im Originalwortlaut auf: https://www.biek-ausbildung.de/meditation-achtsamkeit/das-paradox-des-lebens/

“Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben.”

Bertrand Russell (http://zitate.net/politik-zitate?p=29)

Menschen, die solche Reformen ablehnen, seien dem Fortschritt grundsätzlich feindlich gesinnt.

TINA – There Is No Alternative

Wie immer bei grossangelegten Schulreformen im Top-down-Prinzip wird auch die Kompetenzorientierung im nationalen Lehrplan 21 (LP21) seitens der exekutiven Bildungspolitik als alternativlos dargestellt. Veränderungen im Schulbetrieb entsprächen dem gesellschaftlichen Wandel. «Menschen, die solche Reformen ablehnen, seien dem Fortschritt grundsätzlich feindlich gesinnt.»[1] Derartige Vorverurteilungen sind offensichtlich nötig, denn als Reaktion auf den autoritär erzwungenen Paradigmenwechsel im Deckmäntelchen einer nationalen Schulharmonisierung – unter diesem Vorwand wurde er der Bevölkerung verkauft – hagelt es Kritik von allen Seiten, insbesondere auch von linker bzw. linksliberaler Seite. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und schulisch-pädagogischem Umfeld melden sich zu Wort.[2]

Mehrheitlich verschwurbelt

Die wichtigsten Kritikpunkte in Kürze:

  1. Dem LP21 fehlt die demokratische Legitimation, denn Konsultation ist nicht Partizipation.[3]
  2. Ungleich klassischer Lehrpläne legt der LP21 keine Stoffinhalte und Lernziele fest, vielmehr plant und steuert er den Unterricht. Damit entmündigt er die Lehrkräfte und führt zu einer Entprofessionalisierung des Lehrberufs.
  3. Auf rund 550 Seiten wird das Verb können 4’753mal verwendet: «Die Schülerinnen und Schüler können…» Der LP21 verkommt dadurch zur unerträglich monotonen Litanei.
  4. Man würde es nicht für möglich halten, aber die Monotonie wird noch gesteigert durch die fast 4’000malige Verwendung des Begriffs Kompetenz.
  5. Die Kompetenzorientierung ist alter Wein in neuen Schläuchen, da es in der Schule schon immer um die Anwendung erworbenen Wissens ging, also um Fähigkeiten.
  6. Der LP21 strapaziert den Erziehungsauftrag der Schule und greift somit in die Persönlichkeit von Schülerinnen und Schülern ein.
  7. Zu viele Kompetenzbeschreibungen sind abstrakt verklausuliert und mit Fremdwörtern gespickt, sodass sie zumeist unverständlich sind.
  8. Die über die Massen strapazierte Thematisierung von Kompetenzen wird ad absurdum geführt durch die Inexistenz einer allgemeingültigen Definition zum Kompetenzbegriff.
  9. Der LP21 belässt die Hoheit über die Stundentafeln bei den Kantonen und unterwandert dadurch das Ziel der Chancengerechtigkeit.[4]
  10. Die unterschiedlichen Einführungszeitpunkte der Fremdsprachen in diversen Kantonen hintertreiben die Harmonisierung der kantonalen Bildungssysteme zur Herstellung interkantonaler Kompatibilität.
  11. Der LP21 respektiert eine thematische Trennung der Fächer Geschichte und Geografie und fusioniert diese dennoch zum Fach Räume, Zeiten und Gesellschaften.
  12. Er widerspricht sich auch darin, dass er die Methodenfreiheit der Lehrkräfte angeblich anerkennt, aber dennoch deren Unterricht reglementieren will.[5]
  13. Das im LP21 propagierte Selbstorganisierte Lernen widerspricht entwicklungspsychologischen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen.

Nicht so in der Bildungspolitik. Hier wird ausschliesslich befohlen, bestimmt, dekretiert, erzwungen, angeordnet, von oben nach unten durchgedrückt.

Die Bildungspolitik verharrt im Autoritarismus des 20. Jahrhunderts

Februar 2014: «Gemäss Kommunikation der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) (…) müssen die HarmoS-Kantone den Lehrplan 21 unverändert umsetzen.»[6]

Demokratie lebt von Partizipation, die jeden dazu einlädt, sich einzubringen. Insofern kommt es bei uns in allen gesellschaftlichen Themenfeldern zu wiederkehrenden und teilweise lebhaften Wettkämpfen unterschiedlicher Ideen, über die bald mehr bald weniger leidenschaftlich debattiert wird. Solche konstruktiven Auseinandersetzungen führen zuweilen zu einem gesellschaftlichen Konsens, der Mehrheitsbeschlüsse erübrigt. Nicht so in der Bildungspolitik. Hier wird ausschliesslich befohlen, bestimmt, dekretiert, erzwungen, angeordnet, von oben nach unten durchgedrückt usw. Sind die autoritär verfügten Konzepte auch noch so schlecht, zuweilen gar schädlich, nutzen auch die besten Argumente nichts. Bildungspolitische Konzepte lassen sich offenbar weder hinterfragen noch verhandeln. Für notwendige Verbesserungen bedarf es stets des ultimativen demokratischen Mittels der Initiative. Und selbst solche werden zuweilen listig ausmanövriert, sollte deren Ergebnis der bildungspolitischen Obrigkeit nicht genehm sein, siehe weiter unten.

Christoph Eymann (LDP), ehemaliger Vorsteher des Baselstädtischen Erziehungsdepartements: Links wie rechts ticken sie gleich.

Den autoritären Charakter der Bildungspolitik mit den historisch totalitären Wurzeln der Linken zu erklären, die bildungspolitisch traditionell in der Verantwortung steht, greift zu kurz. Denn kaum stehen PolitikerInnen anderer Parteien Bildungsdirektionen vor, ticken sie gleich wie ihre SP-KollegInnen. Christoph Eymann und dessen Nachfolger Conradin Cramer aus Basel sind hier nur zwei Beispiele. Ein anderer Erklärungsansatz besteht in der Projektion des für den Schulbetrieb typischerweise hierarchischen Verhältnisses zwischen Lernenden und Lehrenden auf die bildungspolitisch exekutive Ebene. So betrachtet, wären die BildungsdirektorInnen die Lehrenden bzw. der ganze Rest der Gesellschaft die unmündigen und ahnungslosen Lernenden mit stark beschnittenen partizipatorischen Möglichkeiten.

Welche Lehrkraft möchte schon für ihre Fächer zig Seiten abstrakt verklausulierter Kompetenzformulierungen lesen mit hundertfacher Nennung der Begriffe können und Kompetenz, ohne anschliessend zu wissen, was sie ihren Schutzbefohlenen beibringen soll.

Die unerbittliche Macht des Faktischen

Der Widerstand gegen den LP21 scheitert fast überall an der Urne, da die Stimmbevölkerung unterschiedlicher Kantone verständlicherweise daran glaubt, die Harmonisierung der nationalen Schullandschaft verteidigen zu müssen, was ja auch vernünftig wäre, hätte es sich denn tatsächlich je darum gedreht. Doch auf dem harten Boden der Unterrichtsrealität jenseits von bildungspolitischem Wunschdenken bestätigt sich die Berechtigung der Kritik am LP21. Welche Lehrkraft möchte schon für ihre Fächer zig Seiten abstrakt verklausulierter Kompetenzformulierungen lesen mit hundertfacher Nennung der Begriffe können und Kompetenz, ohne anschliessend zu wissen, was sie ihren Schutzbefohlenen beibringen soll, dafür aber Gefahr zu laufen, sich mit Eltern anlegen zu müssen wegen eines neuerdings völlig überdrehten Erziehungsanspruchs der Schule.

Wie so oft bei Reformdebakeln der Bildungspolitik wird zur Gesichtswahrung aller Beteiligten nun der sogenannte Versandungsprozess eingeläutet.

Wie so oft bei Reformdebakeln der Bildungspolitik wird zur Gesichtswahrung aller Beteiligten nun der sogenannte Versandungsprozess eingeläutet. Hierzu wird im September 2016 der LP21 offiziell zur Mustervorlage erklärt. Im Widerspruch zur versuchten Harmonisierung der nationalen Bildungslandschaft kann ihn nun jeder Kanton nach eigenem Gutdünken abändern.[7] Damit wird nachträglich ausgerechnet der Köder von der Angel genommen, mit dem die Stimmbevölkerung unterschiedlicher Kantone zuvor für den LP21 gewonnen wurde. Die Frage, ob die Degradierung des nationalen Lehrplans auch vorgenommen worden wäre, wenn er als tauglich gewertet würde, erübrigt sich. Mit dieser Lösung bleibt der LP21 offiziell bestehen, zugleich wird zumindest die Möglichkeit geboten, die öffentlichen Schulen vor dessen Umsetzung zu schützen.

Lehrplan wie ein Flugzeugträger. Fährt mit Volldampf, aber ohne Ziel.

Die Geister, die man rief

Doch der LP21 entpuppt sich als überdimensionierter Flugzeugträger, der sich nicht mehr einfach so stoppen lässt. Er fährt ohne Ziel, dafür aber mit Volldampf. Schweizweit wurden für Hunderte Millionen von Franken kompetenzorientierte, aber untaugliche Schulbücher und, darauf aufbauend, unsinnige Weiterbildungslehrgänge gekauft, also rechtsverbindliche Verträge abgeschlossen. In Anlehnung an den LP21 bieten diese Lehrwerke zu wenig Stoffinhalte und in der Folge kaum Übungsmöglichkeiten. Es ist diesbezüglich die Rede von Sightseeing Pädagogik[8], bei der manches gestreift, aber nichts eingehend behandelt wird. Kompetenzen lassen sich so paradoxerweise kaum entwickeln mit diesen kompetenzorientierten Schulbüchern. Lehrkräfte müssen sie reichhaltig und aufwändig mit eigenen Unterrichtsmaterialien ergänzen. Nicht wenige legen sie ganz beiseite. So meint Dagmar Rösler vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) auf die Frage, wie man bei Kindern beurteilen wolle, ob diese bestimmte Kompetenzen hätten oder nicht: «Das ist so ein bisschen auch unsere grösste Frage, auf die wir leider noch keine Antwort bekommen haben.»[9] Mit der Leistungsbeurteilung fällt damit einer der wichtigsten Aspekte des Unterrichtens durch die allzu groben Maschen der Kompetenzorientierung.

Hinzukommt, dass die durch die offizielle Degradierung des LP21 gewonnene Handlungsfreiheit nur von wenigen kantonalen Bildungsdirektionen genutzt wird zur Korrektur von Fehlentscheidungen. Die steil hierarchisch organisierte Bildungslandschaft ist Befehle von oben gewohnt und völlig überfordert mit Autonomie und Selbstverantwortung. Autonom und selbstorganisiert sollen gemäss LP21 nur Kinder und Jugendliche sein. Doch von der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) ist nichts mehr zu hören. Man könnte meinen, sie wolle am liebsten nichts mehr mit der Kompetenzorientierung zu tun haben. Schliesslich war auch sie bloss Befehlsempfängerin und übernahm das Konzept auf Geheiss der OECD[10], ohne es in seinen Konsequenzen je erfasst zu haben.

Und so fährt der Flugzeugträger führungslos weiter ins Ungewisse, und um ja nicht eigenständig aus der Reihe zu tanzen, hat kaum ein Kanton den Mut, abzuspringen, … ausser einem.

Was soll schlecht sein auf einer Insel?

Das kleine gallische ‘Dorf’ in der Nordwestschweiz namens Baselland

Obwohl Angst bekanntlich ein schlechter Ratgeber ist, herrscht auch in der Baselbieter Bildungs- und Kulturdirektion (BKSD) die Befürchtung: Unterwerfen wir uns nicht dem kompetenzorientierten Gruppenzwang, verkommt Baselland zur Bildungsinsel. Dabei ist man sich der Bedeutung des metaphorischen Begriffs nicht klar: Was soll schlecht sein an einer Insel der Bildung, umgeben von einem Ozean auf Papier verschriftlichter Kompetenzen?

Betreffend die kompetenzorientierte Passepartout-Ideologie beispielsweise bekamen all diejenigen Lehrkräfte Recht, die ihren Unterricht nicht einmal in einer Anfangsphase am mittlerweile ausgelaufenen Sprachbad ausrichteten.

Die Frage ist weitaus mehr als nur rhetorischer Natur. Denn insbesondere in der Bildungslandschaft lohnt sich die Maxime des eigenen Wegs. Betreffend die kompetenzorientierte Passepartout-Ideologie beispielsweise bekamen all diejenigen Lehrkräfte Recht, die ihren Unterricht nicht einmal in einer Anfangsphase am mittlerweile ausgelaufenen Sprachbad ausrichteten. Beide involvierten Verlage sind dabei, ihre zwischenzeitlich in Verruf geratenen Lehrbücher zu überarbeiten, wobei sie sich verabschieden von der kompetenzorientierten Mehrsprachigkeits-Ideologie mit der ihr eigenen Verachtung für Grammatik, Wortschatz, Üben und Lernen an sich. Bei Bernhard Kobel, Geschäftsführer beim Schulverlag plus, hört sich dies folgendermassen an: «Wir wissen (…), dass bei der Einführung Fehler gemacht und viele Lehrpersonen vor den Kopf gestossen wurden, als ihnen ExpertInnen erklärten, dass eine neue Ära im Fremdsprachenunterricht angebrochen sei und sie alle ihre Erfahrungen vergessen müssten (…) Da ist noch das nicht funktionierende Sprachbad … Nun, wir sind nie der Illusion erlegen, dass ein paar wenige Unterrichtsstunden pro Woche für ein Sprachbad reichen. Deshalb schütten wir es gerne aus …»[11]

Von rund 180 Lehrpersonen, die neue Lehrmittel bestellt haben, haben sich noch zwei für Clin d’oeil entschieden.

Eine Verstopfung ist dem Mann sicher bei so viel Kreide, falls er nicht vorher daran erstickt. Der Verlag wäre gut beraten, seinen Lehrwerken nicht nur, wie angekündigt, einen Inhalt, sondern auch gleich neue Titel zu verpassen, denn ist der Ruf erst ruiniert, kommt der Konkurs ganz ungeniert. Damit soll keine Schadenfreude zum Ausdruck kommen, sondern ein durchaus plausibles Szenario: «Nun zeigen Zahlen aus dem Kanton Baselland, dass auf der Sekundarstufe die bisherigen umstrittenen Lehrmittel kaum mehr bestellt werden. Von rund 180 Lehrpersonen, die neue Lehrmittel bestellt haben, haben sich noch zwei für Clin d’oeil entschieden und elf für New World. Eine ähnliche Entwicklung ist in Basel-Stadt zu beobachten.»[12] Entschliesst sich auch der Kanton Bern für die Lehrmittelfreiheit, was wahrscheinlich ist, wird es eng für den Verlag.

Mut zum Ausscheren

Bei Schulreformen der jüngsten Zeit geht es um Kennzahlen wie Umsatz und Gewinn privatwirtschaftlicher Unternehmen statt um die Bedürfnisse von Lernenden.[13] Von daher ist gewiss, dass von der Zeit Recht bekommt, wer sich von Beginn an gegen pädagogisch kontraproduktive Reformen stellt. Bei der ausschliesslichen Kompetenzorientierung des LP21 wird sich dies nicht anders verhalten.

Erfahrungsgemäss dauert es acht bis zehn Jahre, bis sich die Unzulänglichkeit einer von Bildungsdirektionen erzwungenen Reform nicht länger unter den Teppich kehren lässt. Nach weiteren zwei bis vier Jahren werden solche Reformen von den nachfolgenden BildungsdirektorInnen klangheimlich versenkt. So geschehen mit der Orientierungsschule Basel (OS).

Was nun erfahrene Lehrkräfte innert weniger Nachmittage erledigen, brachten die damit Betreuten des AVS in drei Jahren nicht fertig.

Auf diesem Hintergrund wäre es mit Bezug auf den ausschliesslich kompetenzorientierten LP21 wünschenswert gewesen, hätte die BKSD gleich zu Beginn mehr Mut zum Ausscheren gehabt. Stattdessen lieferte sie sich über das Amt für Volksschulen (AVS) einen jahrelangen und Ressourcen verschleissenden Machtkampf mit den Unterrichtenden, wobei bis heute nicht klar ist, wer bei diesem Gezerre eigentlich den Lead hatte, die BKSD oder das AVS. Ungewiss ist auch, woran die für die Lehrpläne Verantwortlichen im AVS scheiterten. Kannten sie den Unterschied zwischen Stoffinhalten und Kompetenzen nicht oder war ihnen ihr Auftrag nicht klar? Tatsache ist, dass die Baselbieter Lehrpläne für etliche Fächer nach mehreren Rückmeldeschlaufen und Ratingkonferenzen noch immer überarbeitet werden müssen, und zwar im Auftrag des Bildungsrats. Was nun erfahrene Lehrkräfte innert weniger Nachmittage erledigen, brachten die damit Betreuten des AVS in drei Jahren nicht fertig. Doch eins ums andere.

Kompetenzraster Deutsch: Inhalte sind den Kompetenzen untergeordnet.

Denkfehler

Im Juni 2018 gelingt es der Starken Schule beider Basel anlässlich der damaligen Abstimmung, Stoffinhalte und Lernziele im Baselbieter Lehrplan zu verankern, und zwar mit einer Mehrheit von fast 85%. Als Kompromiss einigte man sich in der Folge auf den zweigeteilten Lehrplan Volksschule Baselland: «Er besteht aus den beiden Lehrplanteilen A «Stoffinhalte und Themen» und B «Kompetenzbeschreibungen».[14] Ermöglicht wurde dies durch die bereits oben erwähnte Degradierung des Lehrplan 21 zur Mustervorlage im September 2016.

Sich nach wie vor im kompetenzorientierten Gruppenzwang wähnend, musste sich die BKSD nach dem klaren Volksverdikt 2018 von der Starken Schule ausgetrickst fühlen. Ihre mutmassliche Überlegung: «Packen wir tatsächlich den ganzen Wulst an Kompetenzformulierungen in den Lehrplanteil B, wird keine Lehrkraft sich diesen je anschauen. Also müssen wir sie entgegen dem Volksentscheid auch im Lehrplanteil A unterbringen. Das Resultat: Beide Lehrplanteile umfassen Kompetenzbeschreibungen. Im Teil A sind sie zusätzlich wahllos vermengt mit teilweise schwierig bis gar nicht auffindbaren Stoffinhalten.

Der Denkfehler besteht in der Annahme, Kompetenzbeschreibungen bekämen im Lehrplanteil A auf wundersame Weise plötzlich eine Relevanz.

Der Vater des vermeintlichen Gedankens der BKSD ist die Einsicht, dass Kompetenzformulierungen für unterrichtende Lehrkräfte irrelevant sind, was auf die grosse Mehrheit aus rein pragmatischen Gründen auch tatsächlich zutrifft. Der Denkfehler besteht in der Annahme, Kompetenzbeschreibungen bekämen im Lehrplanteil A auf wundersame Weise plötzlich eine Relevanz. Doch die Irrelevanz der ausschliesslichen Kompetenzorientierung gründet nicht in irgendwelchen Lehrplanteilen, sondern in sich selbst. So wird denn auch bei privatwirtschaftlichen Testverfahren wie dem «Multicheck» Stoffwissen abgefragt, welches zuvor anhand von Stoffinhalten eingeübt wurde.

Schluss

Wie üblich bei Reformen in der Bildungspolitik war auch der LP21 ein Schuss aus der Hüfte. Er wurde ohne vorgängige Evaluationen, Abklärungen oder Pilotstudien flächendeckend durchgedrückt, ohne dass auch nur die geringsten Erfahrungswerte vorgelegen haben. Seither gibt es auch keinerlei Controlling zur Qualitätssicherung. Dem Experiment mit völlig offenem Ausgang und ungewissen Folgen sind hunderttausende junger Menschen ausgesetzt. Lässt sich dies anders umschreiben als mit verantwortungslos?

Durch die Macht des Faktischen dazu angeleitet, das Richtige zu tun, liegt es an den Lehrkräften, Verantwortung zu übernehmen, wo sie an übergeordneter Stelle verweigert wird. Mit anderen Worten wird im Unterricht folglich ignoriert, was nicht praktikabel oder schädlich ist.

Wie sonst nirgendwo können im exekutiven Bildungsbereich der öffentlichen Schulen die schrägsten Wirrköpfe die absonderlichsten Ideen durchsetzen, ohne je um die Konsequenzen zu wissen. Aufgrund der für die Bildungspolitik typischen Gesichtsbewahrungsfrist von 10 – 15 Jahren, wird auch nie einer von denen je zur Rechenschaft gezogen. Durch die Macht des Faktischen dazu angeleitet, das Richtige zu tun, liegt es an den Lehrkräften, Verantwortung zu übernehmen, wo sie an übergeordneter Stelle verweigert wird. Mit anderen Worten wird im Unterricht folglich ignoriert, was nicht praktikabel oder schädlich ist.

Die ehemalige Basler SP-Ständerätin, Anita Fetz, meinte in Bezug auf den LP21 im Einspruch «…eine überambitionierte Maus [hat] einen Dokumentenberg geboren, … Auch der Titel hat mit dem 21. Jahrhundert nichts zu tun. Sondern mit der Anzahl der Kantone, deren Lehrpläne gleichgeschaltet werden sollen. Es ist also nicht auszuschliessen, dass er irgendwann einmal nur noch Lehrplan 5 heissen wird.»[15] Mit dem kantonseigenen Lehrplan Volksschule Baselland ist er bereits jetzt nur noch der Lehrplan 20.

«Inkompetente Leute können mangels Kompetenz ihre Inkompetenz nicht erkennen; das ist nicht nur ihre persönliche Tragik, sondern oft auch eine große Belastung für die Gesellschaft.»[16]

Gjergj Perluca

emer. Prof. für Physik

 

[1]  https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/einspruch-tut-not-neuerscheinung-aus-der-schweiz.html

[2]  Zwei spannende und aufschlussreiche Textsammlungen finden sich in den beiden Ausgaben des Einspruch. Bestellungen: Alain Pichard, Neuenburgstrasse 138, 2505 Biel, arkadi@bluemail.ch oder Yasemin Dinekli, Brunngasse 3, 8708 Männedorf, yasemin.kanele@web.de

[3]  Für die Punkte 1-6 siehe Walter Herzog: https://www.svp.ch/wp-content/uploads/140107HERZOG-Kritik-Lehrplan-21-korr1.pdf

[4]  Für Punkte 9-11 siehe: https://www.lvb.ch/docs/magazin/2013-2014/02-November/06_inform1314-02-Stellungnahme_LP21.pdf

[5]  https://www.youtube.com/watch?v=gy2t5PJEimM

[6]  http://starke-schule-beider-basel.ch/starkeschule.aspx

[7]  http://starke-schule-beider-basel.ch/starkeschule.aspx

[8]  Wortkreation Loretz/von Wartburg

[9]  https://www.srf.ch/play/tv/10vor10/video/fokus-lehrplan-21—dagmar-roesler-im-studiogespraech?id=a1b3d783-528a-4c54-bbd2-2dc859aa2e7f

[10]  Organisation for Economic Co-operation and Development, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

[11]  https://condorcet.ch/2021/04/quo-vadis-mille-feuilles-und-clin-doeil/

[12]  https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/lehrer-wenden-sich-ab-von-milles-feuilles-und-co?partId=11966651

[13]  Siehe z.B.: https://www.youtube.com/watch?v=utlV0PXSxHg

[14]  http://www.starke-schule-beider-basel.ch/archiv/Archiv_Artikel/GeschichtederSSbB.aspx

[15]  Einspruch S, 10, siehe Fussnote 2.

[16]  https://www.aphorismen.de/suche?f_thema=Inkompetenz

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Die Starke Schule – geboren aus der Notwendigkeit https://condorcet.ch/2021/04/die-starke-schule-geboren-aus-der-notwendigkeit/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-starke-schule-geboren-aus-der-notwendigkeit https://condorcet.ch/2021/04/die-starke-schule-geboren-aus-der-notwendigkeit/#respond Sat, 03 Apr 2021 06:16:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=8169

KritikerInnen der Starken Schule beider Basel setzen die Eltern- und Lehrkräfteorganisation zuweilen gleich mit Jürg Wiedemann. Diesen Namen wiederum glauben sie als Synonym für Sturheit, Polarisierung und Kompromisslosigkeit zu erkennen. Condorcet-Autor Felix Hoffmann widerspricht dem energisch.

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Die korrekte Verortung der Charakteristika

Vergegenwärtigen wir uns anhand der Kompetenzorientierung und Passepartout als deren Produkt die Bildungspolitik der letzten beiden Jahrzehnte, begegnen wir exakt jenen drei Wesenszügen.

Weder die nationale noch die kantonale Bildungspolitik waren für vernunftbasierte Argumente zugänglich.

Beide Reformvorhaben wurden gegen auch noch so gut begründete Opposition durchgedrückt. Weder die nationale noch die kantonale Bildungspolitik waren für vernunftbasierte Argumente zugänglich. Ohne die Initiative der Starken Schule für Lehrmittelfreiheit wäre der Widerstand gegen die absurde Fremdsprachenideologie ergo an der Sturheit der dafür bildungspolitisch Verantwortlichen gescheitert.

Zur Durchsetzung des Passepartout-Methodenmonopols schreckten deren PromotorInnen auch vor der Polarisierung des Baselbieter Lehrkörpers nicht zurück, indem anlässlich der Passepartout-«Weiterbildung» Primar- gegen Sekundarlehrkräfte ausgespielt wurden.

Und im Kampf um die für Lehrpläne absolut unabdingbaren Stoffinhalte und damit gegen eine ausschliessliche Kompetenzorientierung bedurfte es zweier Initiativen der Starken Schule, um die Kompromisslosigkeit der Bildungsdirektion unseres Kantons zu durchbrechen.

Jürg Wiedemann hält der Bildungspolitik den Spiegel vor. Was diese darin erkennt, gefällt ihr nicht, weswegen sie es auf den ehemaligen Landrat überträgt.

Man schlägt den Sack und meint den Esel

Jürg Wiedemann, Gründungsmitglied der Starken Schule beider Basel …
… hält der Bildungspolitik den Spiegel vor

Die drei eingangs erwähnten Attribute, Sturheit, Polarisierung und Kompromisslosigkeit, entpuppen sich in der Folge als Reflexion. Jürg Wiedemann hält der Bildungspolitik den Spiegel vor. Was diese darin erkennt, gefällt ihr nicht, weswegen sie es auf den ehemaligen Landrat überträgt. In der Psychoanalyse spricht man in diesem Zusammengang von Projektion, also der Übertragung von Eigenem auf andere. Was der Bildungspolitik guttäte, wäre allerdings die Introspektion, ergo die in sich kehrende Selbstbeobachtung zur anschliessenden Korrektur des eigenen Handelns und Denkens. In der Folge würden die KritikerInnen erstens erkennen, dass sich die Starke Schule nicht auf einen Namen beschränken lässt. Zweitens würden sich ihnen die folgenden weiter reichende Einsichten eröffnen.

Sturheit? Eher Hartnäckigkeit und Reflexion.

Eine nicht zu Ende gedachte Kritik

Was Sturheit betrifft, meinte die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach: «Der Klügere gibt nach – Eine traurige Wahrheit: Sie begründet die Weltherrschaft der Dummen.» Aus dieser Warte betrachtet ergibt sich eine vom Üblichen abweichende Wertung des Phänomens der Sturheit.

Die zuweilen ideologische Verbissenheit der bildungspolitischen Exekutive pariert die Starke Schule mit Pragmatismus, der ihr eigenen Beharrlichkeit und dem demokratischen Instrument der Initiative. Gerade bei letzterem kommt es entgegen des Vorwurfs der Kompromisslosigkeit immer wieder zu Kompromissen, wie sich der «Geschichte der Starken Schule beider Basel» entnehmen lässt. Exemplarisch hierfür sind u.a. die Reduzierung der Klassengrössen, die Ausbildung der Lehrpersonen der Sekundarstufe I, die Lehrmittelfreiheit, aber auch die aktuelle Ausgestaltung der Lehrpläne. Die Auseinandersetzung zwischen den Verantwortlichen der Bildungspolitik und der Starken Schule ist tatsächlich zu einem grossen Teil eine Geschichte der Kompromisse.

Aber auch der Vorwurf der Polarisierung ist im Rahmen eines demokratischen Staatswesens absurd. Denn letzten Endes gestaltet sich jede Demokratie entlang der beiden Pole JA oder NEIN. Das im Kontrast dazu autoritäre Selbstverständnis vieler AkteurInnen der Bildungspolitik geht nicht zufälligerweise einher mit der Art der Implementierung von Schulreformen: Sie treten stets auf als nicht partizipativ legitimiertes Diktat von oben. Kaum erstaunlich, dass die meisten denn auch scheitern.

Die Bildungspolitik auf dem Holzweg

Starke Schule beider Basel: Mehr als nur Jürg Wiedemann

Möchte man die Starke Schule tatsächlich auf aktive NamensträgerInnen reduzieren, müssten neben Jürg Wiedemann ebenso Alina Isler, Saskia Olsson, Regina Werthmüller, Kathrin Zimmermann und Michael Pedrazzi Erwähnung finden. Sie alle verwenden einen beachtlichen Teil ihrer Zeit und Energie auf die Bildungsorganisation. Doch auch damit wäre dem Stosstrupp längst nicht Genüge getan. Warum ist die Starke Schule denn seit einem Jahrzehnt erfolgreich? Weil Tausende von Eltern und Lehrkräften, aber auch viele Politikerinnen und Politiker hinter ihr stehen und sie finanziell unterstützen. Und warum tun sie dies? Weil die Bildungspolitik seit rund zwei Jahrzehnten geldversessen auf Irrwegen stolpert. Dabei wird auf staatlicher Seite gespart und auf privater verdient.

Der Auftakt zur Einführung der Kompetenzorientierung vor 20 Jahren war nichts anderes als der neoliberale Startschuss für die Umwandlung der öffentlichen Schule in ein lukratives Geschäftsfeld auf dem Buckel der Lernenden und SteuerzahlerInnen.

Gegen die Kommerzialisierung der öffentlichen Bildung

Der Auftakt zur Einführung der Kompetenzorientierung vor 20 Jahren war nichts anderes als der neoliberale Startschuss für die Umwandlung der öffentlichen Schule in ein lukratives Geschäftsfeld auf dem Buckel der Lernenden und SteuerzahlerInnen. Die dadurch ausgelöste Umstellung des Schulbetriebs füllt Verlagen, Weiterbildungsinstituten und Fachhochschulen die Auftragsbücher bzw. Stellenetats. Und da der ausschliessliche Fokus auf Kompetenzen nicht funktioniert -siehe Passepartout- besteht fortlaufender Handlungsbedarf, wodurch das erwähnte Auftrags- bzw. Stellenvolumen auf lange Sicht garantiert ist.

Dass Baselland im Vergleich zu den meisten anderen Kantonen bisher von den schlimmsten bildungspolitischen Auswüchsen immer wieder verschont bleibt – beispielsweise Sammel- bzw. Einstundenfächer –, ist zu einem grossen Teil dem Engagement der Starken Schule zu verdanken.

Bei diesem Paradigmenwechsel ging es nie um die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, was beispielhaft anhand des sogenannten «Selbstorganisierten Lernens» (SOL) deutlich wird. Diese Pseudomethode läuft den entwicklungspsychologischen Voraussetzungen von Kindern diametral zuwider. Hauptsache aber, diverse Verlage und Weiterbildungsinstitute konnten dazu ihre zahlreichen Wegleitungen bzw. Lehrgänge verkaufen. Mittlerweile redet wegen dessen Untauglichkeit kaum noch jemand von SOL, aber die nächste lukrative Schnapsidee ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Dass Baselland im Vergleich zu den meisten anderen Kantonen bisher von den schlimmsten bildungspolitischen Auswüchsen immer wieder verschont bleibt – beispielsweise Sammel- bzw. Einstundenfächer –, ist zu einem grossen Teil dem Engagement der Starken Schule zu verdanken.

Richtet die Bildungspolitik ihren Fokus endlich wieder auf die Schülerinnen und Schüler, wird die Eltern- und Lehrkräfteorganisation kein weiteres rundes Jubiläum feiern.

Richtet die Bildungspolitik ihren Fokus endlich wieder auf die Schülerinnen und Schüler, wird die Eltern- und Lehrkräfteorganisation kein weiteres rundes Jubiläum feiern. Bis es soweit ist, wünsche ich ihr weiterhin den notwendigen Erfolg zum Wohle unseres Nachwuchses und somit letztlich auch zugunsten unserer Wirtschaft.

An dieser Stelle sollte ein Zitat zum Begriff der Kompetenz folgen, aber sinnigerweise gibt es dazu kaum welche, dafür umso mehr zur Bildung. Zum Beispiel:

Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung, keine Bildung. John. F. Kennedy

 

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Freie Schulwahl – Schönheit einer Fata Morgana https://condorcet.ch/2021/01/freie-schulwahl-schoenheit-einer-fata-morgana/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=freie-schulwahl-schoenheit-einer-fata-morgana https://condorcet.ch/2021/01/freie-schulwahl-schoenheit-einer-fata-morgana/#comments Mon, 18 Jan 2021 14:54:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=7503

Man hört zwar im Moment nicht viel von den Befürwortern der "Freien Schulwahl". Im Hintergrund aber verfolgen sie ihr Anliegen weiter und sind daran, einen zusätzlichen Anlauf zu wagen, erklärt uns Condorcet-Auto Felix Hoffmann. Warum ihre Chancen diesmal gar nicht so schlecht stehen, begründet er im folgenden Beitrag. Nicht zufällig platzieren wir diesen Artikel unmittelbar nach Peter Aebersolds Porträt über unseren Namensgeber Condorcet, der die öffentliche Schule begründet hatte (https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen/).

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Scheintherapie für die öffentlichen Schule

Die freie Schulwahl ist verführerisch. Der damit geschaffene Wettbewerb zwischen den einzelnen Schulstandorten stellt eine elegante Lösung dar zur Unschädlichmachung des zerstörerischen Tsunamis an Schulreformen.

Aber auch die bildungsfeindliche Passepartout-Fremdsprachenideologie könnte sich keine Schule leisten, denn auch sie wäre ein eklatanter Standortnachteil gegenüber Schulen, an denen mit seriösen Lehrmitteln unterrichtet wird.

Die Ideologie der angestrebten totalen Integration beispielsweise liesse sich im Rahmen der Wettbewerbsorientierung nicht aufrechterhalten. Die daraus im Unterricht resultierende Nivellierung nach unten wäre ein erheblicher Standortnachteil. Eltern würden Schulstandorte wählen mit einem differenzierenden System, welches die Lernenden in unterschiedliche Klassentypen einteilt entsprechend individueller Begabung und Bedürfnisse. Aber auch die bildungsfeindliche Passepartout-Fremdsprachenideologie könnte sich keine Schule leisten, denn auch sie wäre ein eklatanter Standortnachteil gegenüber Schulen, an denen mit seriösen Lehrmitteln unterrichtet wird.

Der Wettbewerb würde die Standorte der öffentlichen Schule zwingen, der Flut schädlicher Reformen im Namen des Erfolgs auszuweichen.

 

Freie Schulwahl: Bisher chancenlos

 

Das Prinzip Hoffnung

Eine Schule ist nur erfolgreich, wenn sie fokussiert ihrer Kernaufgabe der Bildung nachgehen kann. Im sich permanent drehenden Reformkarussell hingegen vermag sie Qualitätsstandards schwerlich aufrechtzuerhalten. Lehrkräfte können kaum erfolgreich unterrichten und gleichzeitig ununterbrochen ihre Schule reformieren. An die Stelle der Qualität tritt dann nicht selten deren ständige Thematisierung. Der Wettbewerb würde die Standorte der öffentlichen Schule zwingen, der Flut schädlicher Reformen im Namen des Erfolgs auszuweichen. Damit würde sich auch der die Reformwucherung beschleunigende Wulst an Gremien, Ausschüssen, Kommissionen und dergleichen von selbst erledigen. Die so eingesparten Gelder könnten dann zugunsten der Lernenden eingesetzt werden. Aber auch der negative Einfluss unzähliger im Dienst an sich selbst stehender „Bildungsfunktionäre“, „Bildungsexperten“ und anderer Amateure würde elegant zurückgebunden. All dies wäre scheinbar möglich alleine kraft der heilenden Wirkung des Wettbewerbs.

Der Schein trügt

So einleuchtend dies erscheint, so utopisch ist es, die freie Schulwahl in der Praxis umzusetzen. Zwei Beispiele zur Verdeutlichung: a) Die Kapazität eines jeden Schulstandorts ist begrenzt. Geht die elterliche Nachfrage darüber hinaus, wird entweder ausgelost, oder die Schulbehörde bestimmt, wer wo zugeteilt wird. Beides verstösst gegen die freie Schulwahl und das Gebot der Gleichbehandlung. b) Ein Schulstandort wird während Jahren gut geleitet. Um die begrenzte Kapazität der elterlichen Nachfrage anzupassen, wird die Infrastruktur schliesslich zulasten der Steuerzahler ausgebaut. Kurz darauf übernimmt eine mangels Erfahrung Reform gläubige Schulleitung das Ruder, wodurch wenige Jahre später der neue, 200 Schüler fassende Gebäudeteil wieder leer steht.

Die freie Schulwahl ist kein geeignetes Instrument für die öffentliche Schule mit ihrer gesellschaftlichen Klammerfunktion und ihrem Fokus Mensch.

Rehabilitierung des Lehrberufs

Wettbewerb ist die Grundlage für sich selbst regulierende Waren- und Dienstleistungsmärkte. Insofern braucht es ihn beispielsweise bei der Wahl von Schulbüchern und Reformvorhaben, um untaugliche Konzepte und damit Fehlinvestitionen von vornherein auszuschliessen. Er ist hingegen kein geeignetes Instrument für die öffentliche Schule mit ihrer gesellschaftlichen Klammerfunktion und ihrem Fokus Mensch. Die unheilvolle Allianz zwischen Politik, Administration und Fachhochschulen zur Ankurbelung der ertragreichen Reformindustrie muss anders zerschlagen werden. Der erste Schritt in diese Richtung ist die generelle Aufwertung des Lehrberufs, nachdem er die letzten Jahre wegen einer verfehlten Bildungspolitik massiv an Attraktivität einbüsste.

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AVS stellt sich weiterhin quer https://condorcet.ch/2020/09/avs-stellt-sich-weiterhin-quer/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=avs-stellt-sich-weiterhin-quer https://condorcet.ch/2020/09/avs-stellt-sich-weiterhin-quer/#respond Sun, 20 Sep 2020 10:38:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=6420

Das AVS im Kanton Baselland (Amt für Volksschule) ist eine Unterabteilung der Bildungsdirektion. Dort wirken weiterhin praxisferne Bildungsbürokraten, welche das Scheitern der Kompetenzorientierung oder des Frühsprachenkonzepts nicht wahrhaben wollen und sich nicht scheuen, den klaren Willen einer Mehrheit der Lehrpersonen und Parteien zu negieren. Der Sekundarlehrer und Condorcet-Autor Felix Hoffmann berichtet.

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Bei den Parteien und den massgebenden Bildungsorganisationen (AKK, LVB, SSbB, SLK und KLS*) besteht Konsens, dass der Lehrplan Volksschule Baselland zwei Teile umfassen soll: Teil A mit “Themen und Stoffinhalten”, Teil B mit “Kompetenzformulierungen”. Als Mustervorlage für dieses Konzept gilt der vom Bildungsrat genehmigte Englischlehrplan. Dessen Teil A besteht aus 1 – 2 Seiten pro Schuljahr. Er ist klar und übersichtlich formuliert ohne Kompetenzbeschreibungen.

*AKK: Amtliche Kantonalkonferenz, LVB: Lehrerinnen- und Lehrerverein, SSbB: Starke Schule beider Basel, SLK: Schulleitungskonferenz, KLS: Konferenz Lehrpersonen der Sekundarstufe 1

Geschichte – fast wie bisher

Ganz anders der neunseitige Teil A des Fachs Geschichte. Unterhalb des fett gedruckten Titels “Lehrplan mit Stoffinhalten, Themen und Treffpunkten” folgen innerhalb eines unübersichtlichen und dicht gedrängten Geflechts aus unterschiedlich grossen Spalten und engen Zeilen 88 Kompetenzformulierungen, die den Kategorien “Treffpunkte” und “Grobziele” zugeordnet sind. Stoffinhalte lassen sich da und dort ausmachen. Allerdings sind diese teilweise keinen Themen zugeordnet. Der Geschichtslehrplan Teil B enthält weitere 27 Kompetenzbeschreibungen. Macht insgesamt 115 Kompetenzformulierungen.

Da halfen auch die zahlreichen Voten nichts, wonach der Lehrplan in seiner derzeit überladenen Form zur absoluten Beliebigkeit führe, sodass jede Lehrkraft durchnimmt, was ihr beliebt.

Kein Handlungsbedarf

Zurzeit wird der Lehrplanteil A im Fach Geschichte unter der Federführung des AVS überarbeitet. Angesprochen auf den eklatanten Widerspruch zum breit abgestützten politischen Konsens, vermochte die Leiterin der Geschichtsratingkonferenz vom 8. September keinen Handlungsbedarf erkennen. Forderungen nach umfassenden strukturellen Änderungen blieben unberücksichtigt. Da halfen auch die zahlreichen Voten nichts, wonach der Lehrplan in seiner derzeit überladenen Form zur absoluten Beliebigkeit führe, sodass jede Lehrkraft durchnimmt, was ihr beliebt.

Die leicht durchschaubare Taktik des AVS, übertragen auf die Gastronomie: Sie bestellen einmal Schwein und einmal Rind. Tatsächlich aber bekommen sie zweimal Schwein. Das erste getarnt mit einem Kuhschwanz.

 

Felix Hoffmann, Sekundarlehrer

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Homepage der Starken Schule beider Basel

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«Was nützen uns die schönsten Träume, wenn man danach aufwacht?» https://condorcet.ch/2020/07/was-nuetzen-uns-die-schoensten-traeume-wenn-man-danach-aufwacht/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=was-nuetzen-uns-die-schoensten-traeume-wenn-man-danach-aufwacht https://condorcet.ch/2020/07/was-nuetzen-uns-die-schoensten-traeume-wenn-man-danach-aufwacht/#comments Sun, 12 Jul 2020 11:45:08 +0000 https://condorcet.ch/?p=5689

Felix Hoffmann setzt sich wieder einmal mit der Wunschprosa der Bildungsbürokraten auseinander. Diesmal geht es um die verordnete Projektarbeit, um Wildwuchs, unklare Vorgaben und - wie immer - um irrationale Vermessungsphantasien. Sein Artikel ist zuerst auf der Homepage der Starken Schule beider Basel erschienen.

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Felix Hoffmann, Sekundarlehrer:
BL leidet unter dem Midas-Komplex

König Midas von Phrygien wünschte sich, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Dionysos, der Gott der Freude und des Wahnsinns, erfüllte Midas’ Wunsch. Und tatsächlich: Alles, was der König nun anfasste, wurde zu reinem Gold: Zweige, Steine, Tücher, alles verwandelte sich sogleich. Doch sein anfängliches Glück entpuppte sich als Fluch. Als er nämlich hungrig nach dem Brot griff, wurde auch dieses zu Gold. Kaum nahm er einen Schluck Wein, hatte er flüssiges Gold im Mund. Midas drohte in der Folge zu verhungern und zu verdursten. Doch Dionysos war gnädig und erlöste König Midas von seinem Fluch.[1]

Der Basellandschaftliche Midas-Komplex

Müsste man der Baselbieter Bildungspolitik einen Komplex attestieren, wäre dies wohl der Midas-Komplex. Stets von neuem hegt auch sie den Wunsch nach Gold, welches sich im Nachhinein als folgenschweres Unheil herausstellt. Das gelbe Edelmetall trägt dabei die unterschiedlichsten Namen: Passepartout, eine Ideologie, die den Fremdsprachenunterricht nachhaltig beschädigt; Kompetenzorientierung, welche die schlechtesten Schulbücher aller Zeiten hervorbringt; selbstgesteuertes Lernen, das die Bedürfnisse der SchülerInnen nach menschlicher Anleitung und Betreuung missachtet usw. Der letzte Schrei der Schulreformpolitik wurde gar nie erst als Gold angepriesen, da man wusste, dass die Mittel fehlten, um das Konzept auch nur anfänglich glänzen zu lassen.

Projektarbeit

Miriam Locher, SP-Politikerin BL: Eine Lektion weniger Deutschunterricht.

Dazu reichte die SP-Politikerin Miriam Locher am 29. August 2019 einen Parlamentarischen Vorstoss ein. Darin stellte sie folgende Fragen:

  1. «Welche Vorgaben erteilt die Bildungsdirektion den Schulleitungen bezüglich der Projektarbeit?
  2. Macht es Sinn, dass die Schulen das Konzept der Projektarbeiten selbst erarbeiten, aber der Kriterienkatalog vom Kanton vorgegeben ist? Wo ist hier die Stringenz?
  3. Wie beurteilt der Regierungsrat den «Wildwuchs» an Umsetzungskonzepten für die Projektarbeiten?
  4. Wegen der Projektarbeiten haben die Schülerinnen und Schüler im letzten Sekundarschuljahr eine Lektion weniger Deutschunterricht (dies entspricht einer Reduktion von 20%). Was sind die Folgen davon? Ist diese Reduktion im Deutsch-Lehrplan berücksichtigt worden?
  5. Wenn nein: Wie sollen die Schülerinnen und Schüler die Lernziele trotz der umfassenden Deutschstunden-Reduktion erreichen?
  6. In der Praxis zeigte sich, dass in der Projektarbeit der sprachliche Ausdruck (Wortschatz, Satzbau, Stilistik) je nach Schulprogramm geradezu in den Hintergrund gedrängt wird und der Fokus lediglich auf praktische Arbeiten gelegt wird. Dabei beschränkt sich das Deutsch lediglich noch auf den Beschrieb. Wie beurteilt der Regierungsrat dies? Ist es vor diesem Hintergrund noch sinnvoll, in der Stundentafel die Projektarbeiten mit zweckentfremdenden Deutschlektionen zu ressourcieren?
  7. Wie stellt der Regierungsrat sicher, dass im Rahmen der Projektarbeit die dafür gesprochene Jahresarbeitszeit der Lehrpersonen nicht überschritten wird? Was sind die Folgen, wenn die dafür vorgesehenen Zeitressourcen überschritten werden?
  8. Kann sich der Regierungsrat vorstellen, die Projektarbeit einer Evaluation zu unterziehen und die Rahmenbedingungen zuhanden der Schulleitungen zu konkretisieren? Damit die Chancengerechtigkeit gewährleistet werden kann.»[2]

Die Regierung hätte den Vorstoss bis zum 27. November 2019 beantworten müssen, doch eine Stellungnahme steht bezeichnenderweise bis heute aus. Im Folgenden sollen der Hintergrund und die Relevanz der im Vorstoss gestellten Fragen erläutert werden.

Zur Durchführung einer für alle Lernenden sinnvollen und chancengerechten Projektarbeit auf der Sekundarstufe 1 bräuchte es ein kantonales Konzept. Stattdessen wurstelt jeder Schulstandort im Namen der Teilautonomie vor sich hin.

  1. Wildwuchs an Umsetzungskonzepten / Fragen 2-3
Projektarbeit: Selbstgebautes Holzvelo. Fabian (Luzern) präsentiert sein Werk.

Zur Durchführung einer für alle Lernenden sinnvollen und chancengerechten Projektarbeit auf der Sekundarstufe 1 bräuchte es ein kantonales Konzept. Stattdessen wurstelt jeder Schulstandort im Namen der Teilautonomie vor sich hin. Die eine Schule rekrutiert eine Projektleitung, welche die beteiligten Lehrkräfte im Übereifer zu sechs Sitzungen à zwei Stunden aufbietet. Andere Schulleitungen delegieren die Durchführung des Unterfangens ohne weitere Auflagen an die Deutschlehrkräfte, nach dem Motto: Macht was draus, ist nicht unsere Sache. Anderswo werden Lehrpersonen auf freiwilliger Basis und im Rahmen der für sie zur Verfügung stehenden Arbeitszeit eingesetzt einzig mit der Verpflichtung, die Projektarbeit für die Lernenden gewinnbringend umzusetzen. Die Haltung unterschiedlicher Schulleitungen gegenüber der für Lernende wertvollen Projektarbeit reicht folglich von «gewerkschaftlich verantwortungslos» über «gleichgültig» bis «für alle Beteiligten positiv».

  1. Reduzierter Deutschunterricht / Fragen 4-6
Kommt das Deutsch zu kurz?

Gemäss PISA-Resultate begreifen 24 Prozent der Schweizer Jugendlichen die wörtliche Bedeutung von Sätzen nicht. «Sie verstehen auch die Hauptaussage oder den Zweck eines Textes nicht.»[3] Knapp die Hälfte der SchulabgängerInnen sind weit entfernt «von den im Lehrplan 21 verlangten Kompetenzen.» Und dies hat nichts damit zu tun, dass viele der dortigen Kompetenzformulierungen nicht einmal für Deutschlehrkräfte verständlich sind. Hauptverantwortlich dafür ist der Umstand, dass in der Schweiz auf Geheiss der Erziehungsdirektoren-Konferenz vorwiegend Lesestrategien vermittelt werden anstelle von Lesekompetenz.[4] Dabei scheint die EDK ihren eigenen Kompetenzen-Fetisch vergessen zu haben.

Im Baselbiet ist die Situation nicht besser. Im Gegenteil! Anlässlich der Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK) hat «die Schülerschaft in Baselland beim Lesen der für alle Teilnehmenden gleichen Aufgaben signifikant schlechter abgeschnitten (…) als der schweizerische Durchschnitt.»[5]

Wie reagiert die Baselbieter Bildungspolitik auf den gravierenden Lesenotstand? Sie kürzt die Anzahl Deutschlektionen zugunsten der Projektarbeit und des IT-Unterrichts. Dass es auch anders geht, zeigt der Kanton Aargau. Dort sind für das letzte Schuljahr der Volksschule zwei Lektionen für «Projekte und Recherchen» im Lehrplan verankert, und zwar nicht zulasten eines anderen Fachs.[6]

  1. Jahresarbeitszeit / Frage 7

Für die Bewertung der Projektarbeiten verordnet der Kanton ein sogenanntes Bewertungsraster. Schaut man sich dieses genau an, stellt sich dessen völlige Untauglichkeit heraus.

Das dreiseitige Papier umfasst 20 «Beurteilungsaspekte», denen wiederum zwei bis fünf «Indikatoren», insgesamt 55, zugeordnet sind. Bei 12 zu betreuenden SchülerInnen ergäbe dies 660 zu berücksichtigende «Indikatoren».

Das dreiseitige Papier umfasst 20 «Beurteilungsaspekte», denen wiederum zwei bis fünf «Indikatoren», insgesamt 55, zugeordnet sind. Bei 12 zu betreuenden SchülerInnen ergäbe dies 660 zu berücksichtigende «Indikatoren». Innerhalb der den Betreuungspersonen zur Verfügung stehenden Zeit für die Bewertung der Projektarbeiten ist dies schlicht nicht zu bewältigen. Diese haben neben der Projektarbeit ihr Unterrichtspensum zu bestreiten. Die Folge davon: Wer keine unbezahlten Überstunden leisten will, füllt das Raster auf die Schnelle aus, Handgelenk mal Pi.

Wie ein praktikables bzw. effizient zu handhabendes Bewertungsraster für Projektarbeiten aussieht, zeigt beispielsweise die St. Gallische Oberstufe Weesen-Amden. Der Beurteilungsbogen[7] umfasst eine Seite mit 11 Kriterien, die mit 0 bis 3 Punkten bewertet werden. Selbst die FMS begnügt sich zur Bewertung[8] ihrer Fachmaturitätsarbeit mit lediglich 23 zu bewertenden Kriterien. Für die Baselbieter Volksschule sind es deren 55.

  1. Fantastisches Bewertungsraster / Frage 8

Die EntwicklerInnen des Rasters[9] müssen wohl gespürt haben, dass sie Opfer ihres eigenen psychometrischen Vermessungswahns wurden. Folglich haben sie die 2 bis 5 «Indikatoren» der einzelnen «Beurteilungsaspekte» für jeweils eine Bewertung zusammengenommen. Zur Veranschaulichung dient der letzte «Beurteilungsaspekt» der Kategorie «Prozess»:

 

Es stellt sich hier die Frage, wie zwei völlig unterschiedliche «Indikatoren» mit nur einem Kreuz bewertet werden sollen. Zur Verdeutlichung der Problematik ein Beispiel aus der Fahrzeugbranche: Ein Auto muss zwei Bedingungen erfüllen. Es muss gelb sein und 100 PS haben. Die Bewertung des zur Verfügung stehenden Wagens lautet «trifft teilweise zu». Was bedeutet diese Beurteilung nun konkret? Ist das betreffende Auto orange mit 90 PS? Ist es orange mit 110 PS? Ist es gelb mit 150 PS? Hat es 100 PS, ist aber rot, grün oder blau? Der Möglichkeiten sind viele und sie tendieren mit steigender Anzahl zu beurteilender «Indikatoren» pro «Beurteilungsaspekt» gegen unendlich.

Ein solches Bewertungsraster hat schlicht keine Aussagekraft. Wer es dennoch einsetzt, bewertet völlig subjektiv auf Grundlage der persönlichen Gewichtung der einzelnen «Indikatoren». Die Folge sind vollkommen willkürliche Bewertungen, die nicht einmal ansatzweise dem Anspruch auf Chancengleichheit und Objektivität gerecht werden.

Schluss

Die Erfahrung zeigt, dass die Projektarbeit von vielen SchülerInnen geschätzt wird. Sie erreichen bei ihren Arbeiten teilweise Qualitätstandards, mit denen sich der Qualitätsanspruch der Verantwortlichen des Konzepts in unserem Kanton nicht messen kann. Im Weiteren ist es nachvollziehbar und sinnvoll, dass die Wirtschaft die Projektarbeit als Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt befürwortet. Es nützt ihr allerdings nichts, wenn die Lehrlinge schriftliche Anweisungen und Arbeitsaufträge nicht mehr verstehen, weil sie an der Volksschule mangels genügender Deutschstunden ein zu geringes Leseverständnis vermittelt bekamen.

Regierungsrätin Gschwind in der Rolle des Dyonisos?

So wie Dionysos König Midas vom Fluch seines Wunsches nach Gold erlöste, trat Regierungsrätin Monica Gschwind an, die Volksschule vom Reformfluch der Bildungspolitik ihres Vorgängers zu erlösen. Die Fremdsprachenvermittlung behindernde Passepartout-Ideologie wütet zwar insbesondere auf der Primarstufe noch immer, aber mit der Lehrmittelfreiheit wurde ihr Destruktionspotential zumindest auf der Sekundarstufe 1 und 2 nachhaltig geschwächt.

Die BKSD möchte zwar an den unüberschaubaren 3’536 Kompetenzen im Teil B des Baselbieter Lehrplans festhalten, nicht zuletzt zur Gesichtswahrung. Andererseits wurde der wegweisende Englisch-Lehrplan Teil A vom Bildungsrat genehmigt. Er wurde zuvor von allen Bildungsplayern gutgeheissen, eben weil er nahezu keine Kompetenzformulierungen hat und somit äusserst benutzerfreundlich und praktikabel ist. Insofern ist davon auszugehen, dass sich die anderen Lehrkräfte nicht mit einem wegen unzähliger Kompetenzformulierungen praxisuntauglichen Lehrplan Teil A in ihren Schulfächern zufriedengeben werden. Es gibt keinen einsehbaren Grund, warum für das Fach Englisch nun ein sehr guter, praxisorientierter Lehrplanteil A vorliegt, während die übrigen Fachlehrkräfte mit umständlichem Kompetenzengeschwurbel abgespeist werden.

Wenn die BKSD nun auch noch zweckdienliche Rahmenbedingungen für die Projektarbeit definiert und die Teilautonomie wieder einschränkt, wird Monica Gschwind am Ende ihrer Amtszeit tatsächlich als Dionyse in Erinnerung bleiben, welche die Volksschule von ihrem Reformfluch befreite.

Die schwersten Unfälle passieren beim Zusammenprall mit der Wirklichkeit.

Harald Schmid [10]

Felix Hoffmann, Sekundarlehrer BL

[1] Frei nach: https://www.kindernetz.de/infonetz/laenderundkulturen/geld-euro/midas/-/id=32926/nid=32926/did=32900/1a0wiul/index.html

[2] https://baselland.talus.ch/de/politik/cdws/dok_geschaeft.php?did=c9bf5491812f4910b1abd3c7c47042c5-332&filename=Text_Interpellation&v=2&r=PDF&typ=pdf

[3] https://condorcet.ch/2019/12/unzureichender-leseunterricht/

[4] https://condorcet.ch/2020/05/leseunterricht-kurswechsel-dringend-noetig/

[5] https://www.lvb.ch/docs/magazin/2019-2020/01-September-2019/36_UEGK-Baselland-schlechtes-Zeugnis_lvb-inform_1920-01.pdf

[6] https://ag.lehrplan.ch/index.php?code=e|94|3

[7] http://www.schulen-weesen-amden.ch/fileadmin/oswa/dokumente/bewertung.pdf

[8] https://www.gymoberwil.ch/fileadmin/_migrated/content_uploads/leitfaden_fma_15_16.pdf

[9] https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/direktionen/bildungs-kultur-und-sportdirektion/bildung/handbuch/unterricht/stundentafeln-lehrplaene/volksschule/projektarbeit/dokumente-projektarbeit-3-zyklus/projektarbeit-bewertungsraster.pdf/@@download/file/Projektarbeit_Bewertungsraster.pdf

[10] https://www.aphorismen.de/zitat/219560

«Was nützen die schönsten Träume, wenn man danach aufwacht?» (Fred Ammon)

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Das Mysterium der AKK https://condorcet.ch/2020/06/das-mysterium-der-akk/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=das-mysterium-der-akk https://condorcet.ch/2020/06/das-mysterium-der-akk/#respond Wed, 17 Jun 2020 16:15:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=5425

Die Verwirrung ist offenbar Programm, denn im Kanton Baselland beginnt das Rätselraten bereits beim Namen: "Amtliche Kantonalkonferenz". Ist die AKK ein Amt? Oder hält der Kanton in Analogie zum Permafrost eine fortwährende Konferenz mit sich selbst? Im Folgenden versucht Condorcet-Autor Felix Hoffmann zumindest etwas Licht ins Dunkel dieser ominösen Organisation zu bringen.

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Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen. George Orwell

Felix Hoffmann, Sekundarlehrer, BL: Der Versuch, exotische Bildungspolitik schmackhaft zu machen.

Der AKK gehören 120 Delegierte an, aus deren Reihen sich die vierköpfige Geschäftsleitung und der 12 Mitglieder zählende Vorstand rekrutieren. Deren schriftliche Verlautbarungen, Sitzungen und andere Formen des Zeitvertreibs lässt sich der Kanton jährlich etwa eine Viertelmillion kosten. Dies, um den Unterrichtenden die zuweilen exotische kantonale Bildungspolitik schmackhaft zu machen. Letztere treibt wiederkehrend die merkwürdigsten Reformblüten. Bei Passepartout und dem Fetisch der 3’500 Kompetenzen beispielsweise fühlt sich die erfahrene Lehrkraft unweigerlich an die Titanwurz erinnert, deren bis drei Meter hohe Blüte einen Aasgeruch absondert.

Kritik wird destilliert

Sollte sich in der Führungsriege der AKK unter ihrem Präsidenten, Ernst Schürch, zur Abwechslung die Orientierung an den Interessen der Lernenden oder so etwas wie gewerkschaftliches Denken einschleichen, wird die daraus resultierende Kritik an der kantonalen Bildungspolitik so lange destilliert, bis sie verdampft. Für den Fall, dass doch einmal ein hartnäckiges Destillat zurückbleibt, kommt es zu einer der legendären AKK-Erhebungen. Es liegt dann in allen kantonalen Lehrerzimmern ein tendenziöser Fragebogen auf, in den jede Lehrkraft unbeaufsichtigt und so oft sie will, ihre Kreuze setzen kann, bis sie ihrer Meinung genug Nachdruck verliehen hat. Möchte die Bildungsdirektion allerdings wichtige Entscheidungen an seriös erhobenen Umfragedaten ausrichten, beispielsweise im Bereich der schulischen Digitalisierung, bemüht sie hierfür die sich selbst finanzierende Gewerkschaft der Lehrkräfte. Denn der LVB weiss, wie man professionell Daten erhebt.

Was Fehler betrifft, verfährt die AKK mit der für fremdfinanzierte Monopolisten eigenen Grosszügigkeit, denn sie hat ja nichts zu befürchten.

Was Fehler betrifft, verfährt die AKK mit der für fremdfinanzierte Monopolisten eigenen Grosszügigkeit, denn sie hat ja nichts zu befürchten. Jüngstes Beispiel ist das Protokoll der Delegiertenversammlung 1–2019/2020[1]. Zur Geleiteten Lehrmittelfreiheit weist Ernst Schürch unter Punkt 3.1 darauf hin: “…dass diese Initiative ihren Ursprung in einer Petition der PLK [einer der zahlreichen Unterorganisationen der AKK] hatte, welche eine Lehrmittelfreiheit an den Volksschulen forderte.” Da muss der Präsident wohl versehentlich etwas durcheinandergebracht haben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

AKK – eine peinliche Petition

Besagte Petition aus dem Jahr 2018 war nämlich die Reaktion auf die nicht formulierte Gesetzesinitiative vom Oktober 2015 «Stopp dem Verheizen von Schüler/-innen: Ausstieg aus dem gescheiterten Passepartout-Fremdsprachenkonzept»[2] der Starken Schule beider Basel. Da der Landrat jene Gesetzesinitiative guthiess, befürchteten Regina Jäkel Pacchiarini und Lukas Flüeler, zwei Vorstandsmitglieder der AKK, künftig keine Passepartout-Lehrmittel mehr einsetzen zu dürfen. Eine Sorge, die sie öffentlich kundtaten. In der Folge reichten sie mit 38 weiteren Unterzeichnenden eine Petition[3] zum Erhalt ihrer ansonsten mehrheitlich abgelehnten Schulbücher ein. Da Passepartout ein alle anderen Lehrwerke ausschliessendes Lehrmitteldiktat darstellte, ging es bei besagter Petition nie um Lehrmittelfreiheit, sondern um die Rettung einer von einer kleinen Minderheit mangels besseren Wissens favorisierten Fremdsprachenideologie. Eine Randnotiz der Geschichte: Mit ihren 38 MitunterzeichnerInnen schafften es Jäkel Pacchiarini und Flüeler in die ruhmreiche Kategorie der Petitionen mit der geringsten Anzahl Unterschriften.

Mit ihren 38 MitunterzeichnerInnen schafften es Jäkel Pacchiarini und Flüeler in die ruhmreiche Kategorie der Petitionen mit der geringsten Anzahl Unterschriften.

Urs Wüthrich-Pelloli, ehemaliger Bildungsdirektor BL: Seine Reformpolitik rückgängig zu machen, ist aufwändig.

Zugegeben, die notwendigen Korrekturen der vor Jahren von Urs Wüthrich eingeleiteten Schulreformen sind teuer, aufwändig, komplex, aufreibend und langwierig. Da geht im Verlaufe der Zeit gerne mal was vergessen, sodass sich Ernst Schürch sicher nicht dem Verdacht auf Demenz auszusetzen braucht. Und der Gedanke an Orwells 1984 wiederum wäre weit hergeholt. Dort werden im Namen der Opportunität sämtliche Quellen aus der Vergangenheit konsequent und fortlaufend an die in der Gegenwart jeweils herrschenden Gegebenheiten angepasst, auf dass sich das Regime in keine Widersprüche verstrickt und nie im Unrecht ist. Nein, es handelt sich hier schlicht um menschliche Irrtümer, denen man mit wohlwollender Arglosigkeit begegnen sollte.

Als Landrat weiss Ernst Schürch natürlich auch, dass es zur erwähnten unformulierten Initiative keinen Gegenvorschlag gab, wie es irrtümlicherweise in besagtem Protokoll zum Ausdruck gebracht wird. Vielmehr formulierte die Regierung die Initiative aus und erarbeitete darauf basierend in Kooperation mit der Starken Schule beider Basel eine Gesetzesvorlage zur Realisierung der geleiteten Lehrmittelfreiheit. Die fehlerhafte Passage im Protokoll muss Schürch überlesen haben, ansonsten hätte er sie ganz bestimmt korrigiert.

Die von Eltern und Lehrkräften getragene und von einer Handvoll Vorstandsmitgliedern geleitete Starke Schule beider Basel prägt die Baselbieter Bildungspolitik nun seit rund acht Jahren nachhaltig. Sie hat dadurch so manche Fehlentwicklung verhindert. Dafür bezieht sie vom Kanton nicht einen roten Rappen. Worin liegt für den Steuerzahler der Gegenwert für die jährlichen plus/minus 250’000 Franken, mit denen er die AKK finanziert? Diese Frage drängt sich umso mehr auf, als dass die sich selbst finanzierende LehrerInnen-Gewerkschaft LVB eine gut funktionierende Schnittstelle zwischen Bildungsdirektion und unterrichtender Basis bildet. Beide Institutionen arbeiten vorbildhaft zusammen. Wozu braucht der Kanton mit der AKK eine Art bildungspolitischen Volkskongress, der in Gebaren und Funktion eher an den ehemaligen Ostblock als an ein demokratisches Staatswesen erinnert? Ein Kanton, der einen bildungspolitisch vernünftigen Kurs fährt zugunsten der Lernenden, braucht keine AKK zur Durchsetzung verfehlter Reformen.

„Um die Lügen der Gegenwart durchzusetzen, ist es notwendig, die Wahrheiten der Vergangenheit auszulöschen.“ George Orwell

Felix Hoffmann, Sekundarlehrer

 

Dieser Artikel ist zuerst auf der Homepage der Starken Schule beider Basel erschienen

[1] https://akkbl.ch/kalender-detail/dv-akk-2-399.html?file=files/Dateiablage/AKK/AKK%20Delegiertenversammlungen/2019-20/DV%201_27.11.19/191127_%20Protokoll%20AKK%20DV-def.pdf
[2]
http://starke-schule-beider-basel.ch/starkeschule/lancierteInitiativen/Passepartout.aspx
[3]
https://akkbl.ch/news-leser/die-primarstufe-wehrt-sich-gegen-den-passepartout-entscheid-des-landrates.html?file=files/Dateiablage/AKK-Stufenkonferenzen/SAKKG_PLK/SAKKG_PLK%20Delegiertenversammlungen/2017_18/180613_SAKKG_PLK_DV/Passepartout/Petition%20Landratsentscheid%20Ausstieg%20aus%20Passepartout.pdf

 

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6. und letzter Teil unserer Serie Worthülsen: “Die Teamarbeit” https://condorcet.ch/2020/05/6-und-letzter-teil-unserer-serie-worthuelsen-heute-die-teamarbeit/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=6-und-letzter-teil-unserer-serie-worthuelsen-heute-die-teamarbeit https://condorcet.ch/2020/05/6-und-letzter-teil-unserer-serie-worthuelsen-heute-die-teamarbeit/#respond Mon, 04 May 2020 15:17:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=4835

In seiner letzten Station der Rallye "Worthülsen" wagt sich Condorcet-Autor Felix Hoffmann an eine heilige Wortkreation der Bildungsbürokratie: Er stellt den von oben gepredigten Teamgedanken in Frage! Wir können dem Leser aber versichern: In der Redaktion arbeitet Kollege Hoffmann ganz gut mit.

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Felix Hoffmann, Sekundarlehrer, BL, Redakteur des Condorcet-Blogs: Chancengleichheit ist eine Fata Morgana.

„… Sie unterrichten mit Freude, arbeiten gerne im Team und sind bereit, Ihren Unterricht und die Schule weiterzuentwickeln …“[1]

„… Sie arbeiten im Klassenteam und im Stufenteam eng zusammen …“

„… Sie arbeiten im Klassenteam und in der Fachschaft eng zusammen. Die Zusammenarbeit im Gesamtteam, mit anderen Fachpersonen, (…) ist uns (…) ein Anliegen …“

 

Der Begriff Team in unterschiedlichen Wortkombinationen hat sich bei Stellenausschreibungen im Bereich Unterrichtswesen zum Schlagerstar der Anforderungen gemausert. Doch nicht alles ist Gold, was glänzt.

 

„Die Leistung des Einzelnen ist umso schwächer, je größer das Team ist.“

Experiment Seilziehen: Je mehr Leute, desto geringer die Leistung.

Einer der Ersten, der dies merkte, indem er experimentell einen Bezug zwischen Teamgrösse und Produktivität herstellte, war der französische Ingenieur, Maximilian Ringelmann. Beim Seilziehen liess er Testpersonen zunächst einzeln und später in Teams antreten. Dabei stiess er auf das heute als Ringelmann-Effekt bezeichnete Gesetz: „Die Leistung des Einzelnen ist umso schwächer, je größer das Team ist.“[2] Rund 50 Jahre später bestätigte der Amerikaner Alan Ingham den Ringelmann-Effekt. Ferner zeigte Ingham auf, dass es keinen Unterschied macht, ob Testpersonen nur glaubten, Teil eines Teams zu sein, oder sie dies tatsächlich waren. „In beiden Fällen strengten sie sich weniger an.“[3]

Team-Mitglieder strengen sich weniger an, weil sie sich weniger verantwortlich fühlen für das Gesamtergebnis.

Ingham zeigte damit auf, dass die verminderte Effizienz der Teamarbeit nicht dem Problem der Koordination geschuldet ist. Vielmehr ist der Verlust an Anstrengung die Folge des sogenannten ‘sozialen Faulenzens’: „Team-Mitglieder strengen sich weniger an, weil sie sich weniger verantwortlich fühlen für das Gesamtergebnis.“ Dies trifft auf sämtliche Arten von Teams zu. Auf den Punkt gebracht wird dieser Zusammenhang mit der Gleichung: Team = Toll ein anderer macht’s!  

Um sich nicht ausgebeutet zu fühlen, reduzieren auch ursprünglich sehr engagierte Mitarbeiter ihre Anstrengungen und nehmen eine schlechtere Teamleistung in Kauf.

Auch zahlreiche psychologische Studien zeigen auf, dass die Motivation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Teams deutlich schlechter ist, als wenn sie für sich alleine arbeiten. „’Die Gefahr des ‘sozialen Faulenzens’ besteht insbesondere, wenn der persönliche Beitrag nicht identifiziert und bewertet werden kann’, sagt Guido Hertel, Privatdozent am Institut für Psychologie der Universität Kiel. (…) ‘Um sich nicht ausgebeutet zu fühlen, reduzieren auch ursprünglich sehr engagierte Mitarbeiter ihre Anstrengungen und nehmen eine schlechtere Teamleistung in Kauf’, warnt Hertel. (…) Individualisten (…) zu kooperativen Gruppentieren zu wandeln, sei wenig aussichtsreich, warnen Psychologen.“[4]

Fredmund Malik: Teamarbeit ist ein Mythos.

Für den Schweizer Management-Guru Fredmund Malik ist Teamarbeit ein Mythos, den er seit Jahren kritisiert. Laut Malik sind wahrhaft bahnbrechende Ideen die Leistungen Einzelner, die sich vom aufoktroyierten Teamzwang oft behindert fühlen: „Mitarbeiter, die wirklich gut sind, brechen aus Teams aus, weil sie sie als langweilig und langsam empfinden.“[5] „Die echten Spitzenleistungen werden von Einzelpersonen erbracht.“ In die gleiche Kerbe schlagen Fachleute aus Wissenschaft und Wirtschaft:

„Auch der Wegbereiter der Teamarbeit, Peter Drucker, emeritierter Professor für Management der Claremont University in Kalifornien, macht mittlerweile Einschränkungen und erklärt, dass Einzelleistungen die Unternehmen voranbringen.“[6]

„Bernd Riedel, Abteilungsleiter im IT-Vertrieb eines Münchner Großanwenders: ‘Größere Teams müssten nochmals aufgeteilt werden, sonst sitzen die Mitarbeiter nur noch jeden fünften Tag am Arbeitsplatz, weil sie sich ständig abstimmen müssen’. Am effizientesten sei es aber, wenn jeder die Aufgaben allein bearbeiten kann.“

“Mit zunehmendem Projektverlauf entsteht ein Drei-zu-Eins-Verhältnis: ’75 Prozent der Aufgaben werden von 25 Prozent der Mitarbeiter erbracht’, so Zaleski [Geschäftsführer der Wiesbadener Case Consult (CC) GmbH].”

„Die meisten hängen sich an die Leitwölfe, statt (…) die Thesen der Gruppe zu hinterfragen.“

Irrationale Börsen

Wie irrational Teams bzw. ganz allgemein Gruppen von Menschen zuweilen funktionieren, lässt sich an der Börse ablesen. Dort reicht die gruppendynamische Panik vor einem Crash, um einen solchen tatsächlich auszulösen. „Die meisten hängen sich an die Leitwölfe, statt (…) die Thesen der Gruppe zu hinterfragen.“[7] Der hier angesprochene Zwang zur Anpassung und Harmonie ist ein allgemein teamspezifisches Problem.

PaulMc Cartney komponierte seine Songs nicht im Team.
Bild: welt

Weder Aretha Franklin noch Paul McCartney komponierten ihre Songs im Team. Gleiches gilt für die klassischen Komponisten oder die grossen Maler. Aber auch Jane Austin oder Ionesco schrieben nicht im Team. Ebenso wenig bekannt für Teamleistungen sind Marie Curie und Werner Heisenberg oder Zaha Hadid und Peter Zumthor, was deren Entwürfe betrifft. Doch sind solch aussergewöhnliche Persönlichkeiten wenig repräsentativ, weshalb sie sich auch nicht wirklich zur Kritik an Teamarbeit eignen. Überzeugender zu deren Hinterfragung sind Aspekte der Personalführung.

So lassen sich Konflikte zwischen Leitung und Belegschaft elegant in Teams verlagern, wo sie in der Folge am falschen Ort ausgetragen werden. Agieren dort Angestellte mit besonderer Nähe zu den Vorgesetzten, lassen sich jene zusätzlich als Informanten einsetzen. Die Folgen für die Angestellten sind Misstrauen und Zwietracht untereinander. Ursprünglich von den Römern zur Beherrschung fremder Völker entwickelt, eignet sich die Strategie des “Divide et impera”[8] auch als Instrument zur Personalführung. Eine zu diesem Zweck installierte Teamarbeit schadet der Arbeitsatmosphäre und führt zum Rückzug der Angestellten in die sogenannte ‚Innere Emigration‘[9].

„Tauschtheoretisch argumentiert, erwarten Menschen von ihrem Gegenüber eine Gegenleistung, wenn sie sich in ökonomische und soziale Beziehungen einbringen. (…) Getauscht werden hierbei Ressourcen, an denen der jeweilige andere Tauschpartner Interesse hat. Erfahren Mitarbeiter nun etwa mangelnde Wertschätzung, fehlende Einbindung und erleben sie Zurückweisungen im Führungsverhalten und ungelöste Konflikte mit Arbeitskollegen, dann tauschen sie negativ, indem sie ihr Engagement in der Arbeit schrittweise zurückfahren, bis sie am Ende dieses Rückzugsprozesses den Arbeitseinsatz auf ein Minimum reduzieren.“[10]

 

[1]   https://www.jobs.ch/de/stellenangebote/?page=4&region=14&sort-by=date&term=basel%20landschaft&jobid=00000574841f801ef7899ac258ffd569ba9ffeb131&jobposition=4-2, gleiche Adresse für alle drei Stellenanzeigen

[2]  https://www.harvardbusinessmanager.de/blogs/a-849090-2.html

[3]  Den Beleg dazu erbrachte er, indem er Teammitglieder eine Anstrengung vortäuschen liess, ohne dass die anderen dies wussten.

[4]  https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/karrieresprung-die-grenzen-der-teamarbeit-180620.html

[5]  https://www.computerwoche.de/a/teamarbeit-der-grosse-mythos,1066464

[6]   https://www.computerwoche.de/a/teamarbeit-der-grosse-mythos,1066464

[7]   https://www.spiegel.de/consent-a-?targetUrl=https%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fkarriere%2Fteamwork-warum-teamarbeit-blind-und-faul-macht-a-998842.html

[8]   Lateinisch für teile und herrsche; die Redewendung empfiehlt, „eine zu besiegende oder zu beherrschende Gruppe (wie z. B. ein Volk) in Untergruppen mit einander widerstrebenden Interessen aufzuspalten. Dadurch soll erreicht werden, dass die Teilgruppen sich gegeneinander wenden, statt sich als Gruppe vereint gegen den gemeinsamen Feind zu stellen.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Divide_et_impera

[9]   Mitarbeiter ziehen sich zurück und engagieren sich nicht über ein minimal erforderliches Maß hinaus.

[10]   https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/innere-kuendigung-40394

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5. Teil unserer Serie Worthülsen: Die Chancengleichheit https://condorcet.ch/2020/04/5-teil-unserer-serie-worthuelsen-die-chancengleichheit/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=5-teil-unserer-serie-worthuelsen-die-chancengleichheit https://condorcet.ch/2020/04/5-teil-unserer-serie-worthuelsen-die-chancengleichheit/#comments Wed, 29 Apr 2020 16:23:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=4794

Der 5. Etappe unserer bissigen "Tour de Worthülsen". Diesmal beschäftigt sich Condorcet-Autors Felix Hoffmann mit dem Begriff "Chancengleichheit".

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Felix Hoffmann, Sekundarlehrer, BL, Redakteur des Condorcet-Blogs: Chancengleichheit ist eine Fata Morgana.

Zur Erörterung dieser Thematik drängt sich zunächst eine Grundsatzfrage auf: Gibt es Chancengleichheit oder gibt es sie nicht? Schaut man sich die vielfältigen Branchen an mit ihren unzähligen Berufen unterschiedlicher Entlohnung innerhalb einer Hierarchie der Verantwortung oder Beziehungen, ist die Antwort auf obige Frage ein eindeutiges Nein.

Töricht wäre andernfalls, wer sich innerhalb eines Berufszweigs freiwillig für einen kleinen Lohn entscheidet, obwohl ihm ein Zehn- oder gar Hundertfaches zur Auswahl stünde. Menschen würden sich somit aus freien Stücken im schlimmsten Falle für Entbehrung, Armut und damit auch für gesellschaftliche Ausgrenzung entscheiden. Da es ergo keine Chancengleichheit gibt, fusst jedes darauf basierende Schulsystem auf einer Fata Morgana. Es hat dann folglich kein Fundament und wird früher oder später scheitern. So geschehen beispielsweise bei der Basler Orientierungsschule (OS), die als sogenannte Gemeinschaftsschule, also ohne unterschiedliche Leistungsniveaus konzipiert war.

„Da es ergo keine Chancengleichheit gibt, fusst jedes darauf basierende Schulsystem auf einer Fata Morgana.“

Realitäten lösen sich nicht in Luft auf

Dennoch halten sich die Illusion der Chancengleichheit und der darauf beruhenden Konzepte beharrlich. Eine solche Konzeption zum Beispiel ist die Integration lernschwacher oder verhaltensauffälliger SchülerInnen in Regelklassen im Glauben, sie hätten so die gleichen Chancen. Da sich Realitäten aber nicht in Luft auflösen, indem man vor ihnen den Kopf in den Sand steckt, beisst sich die Integration selbst in den Schwanz. In der Realität sieht diese nämlich so aus, dass Lernschwache im regulären Unterricht überfordert sind und in der Folge nicht selten aus Frustration die Stoffvermittlung stören. Ihre Förderlehrkräfte nehmen sie dann als Konsequenz aus den Stunden, um sie im Widerspruch zur Integration separativ, d.h. ausserhalb des Klassenverbandes zu unterrichten. Dadurch wird ihr ohnehin vorhandenes Gefühl des Ungenügens noch verstärkt.

Auch die Wirtschaft glaubt an die Chancengleichheit

Interessanterweise ist der Glaube an die Chancengleichheit sogar in der Wirtschaft verbreitet, wo ihr illusionärer Charakter doch am deutlichsten zutage tritt. Im Zusammenhang mit seiner durchaus berechtigten Forderung nach mehr schulischer Wirtschaftskunde schreibt beispielsweise Dr. Hans Rentsch, Ökonom und freier Wirtschaftspublizist: „Aus sozialer Sicht besonders problematisch ist die Erkenntnis, dass es auch die wirtschaftlich Schwächsten sind, denen es an Finanzkompetenz fehlt.“[1] Dieser Schluss gründet letztlich auf dem Dogma der Chancengleichheit: Würden alle über Finanzkompetenz verfügen, gäbe es die „wirtschaftlich Schwächsten“ nicht. Letztere sind jedoch nicht ökonomisch schwach, weil es ihnen mangels Wirtschaftskunde an öffentlichen Schulen an Finanzkompetenz fehlt – dieser ermangelt es quasi allen Schulabgängern nach neun obligatorischen Schuljahren. Aber ungleich der Starken können die Schwächsten sich diese Kompetenz auch nach der Schule nicht aneignen, eben weil sie schwach sind.

„Da hilft auch die rhetorische Begriffsumwandlung von Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit nichts, denn die hier beschriebenen gesellschaftlichen Realitäten sind nun mal nicht gerecht.“

Der Irrtum der Chancengleichheit beruht auf dem linken Postulat der Gleichheit der Menschen. Denn

Würden alle über Finanzkompetenz verfügen, gäbe es die „wirtschaftlich Schwächsten“ nicht.

nur wenn alle gleich sind, haben auch alle die gleichen Chancen. Da wir uns in unserer Individualität aber alle unterscheiden, existiert keine Chancengleichheit. Der dreissigjährige Milliardär, der dank seines Genies den Rest seines Lebens auf dem Golfplatz verbringt, ist genauso eine Realität wie der Sozialhilfeempfänger, der schlicht keinen Beruf erlernen kann, da er die dazu notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt. Da hilft auch die rhetorische Begriffsumwandlung von Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit nichts, denn die hier beschriebenen gesellschaftlichen Realitäten sind nun mal nicht gerecht.[2]

„Hier trifft sich auf paradoxe Weise die soziale Linke mit der neoliberalen Rechten.“

Die Perversion des Dogmas der Chancengleichheit besteht darin, dass sie zur Bekämpfung eines finanziellen Ausgleichs zwischen den Stärksten und den Schwächsten einer Gesellschaft herangezogen werden kann: Wir haben alle die gleichen Chancen, also sind die Schwächsten selber schuld an ihrem Los. Hier trifft sich auf paradoxe Weise die soziale Linke mit der neoliberalen Rechten. Fast könnte man meinen, die beiden politischen Pole leisteten bei diesem Thema Teamarbeit.

[1]   https://condorcet.ch/2020/01/unkenntnis-ueber-finanzfragen-erhoeht-die-ungleichheit-in-der-gesellschaft/

[2]   Pragmatismus ist die Ausrichtung des Handelns an vorherrschende Gegebenheiten. Im Unterschied dazu richten Ideologen Realitäten sprachlich an der eigenen Ideologie aus. Sobald die Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit deutlich zutage tritt, werden die  Begrifflichkeiten angepasst. Gleichheit wird zu Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit. Das Gleiche passiert, wenn die Begriffe die Realität klar offenbaren:  verhaltensgestört wird dann zu verhaltensauffällig zu verhaltensoriginell. Die Realitäten bleiben gleich, die Begrifflichkeiten wandeln sich.

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4. Teil der Serie Worthülsen: Die Kompetenzorientierung https://condorcet.ch/2020/04/4-teil-der-serie-worthuelsen-die-kompetenzorientierung/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=4-teil-der-serie-worthuelsen-die-kompetenzorientierung https://condorcet.ch/2020/04/4-teil-der-serie-worthuelsen-die-kompetenzorientierung/#comments Mon, 20 Apr 2020 10:26:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=4711

Der 4. Boxenstopp in der munteren Dekonstruktionsrallye unseres Condorcet-Autors Felix Hoffmann. Dieses mal geht es um den Begriff "Kompetenz".

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Felix Hoffmann, Sekundarlehrer, BL, Mitglied LVB, Starke Schule beider Basel

Die  Unschärfe dieses Kompositums[1] wird ersichtlich beim Vertauschen der zusammengesetzten Begriffe. Dabei ergibt sich Orientierungskompetenz. Ohne weitere Erklärung ist unmittelbar einsehbar, was damit gemeint ist: die Kompetenz sich zu orientieren. Die Kompetenzorientierung wäre dann die Orientierung an der Kompetenz.

„Was ist Kompetenz?“

Abgesehen davon, dass Orientierung a) Wissen voraussetzt, ist b) nicht klar, wie Kompetenzorientierung genau zu interpretieren ist. Die grösste Unsicherheit allerdings resultiert aus der Unschärfe des Kompetenz-Begriffs. Was ist Kompetenz?

Gemäss Wikipedia geht der Begriff in der Pädagogik u.a. auf Wolfgang Klafki zurück:

„Im erziehungswissenschaftlichen Kompetenzbegriff sind (…) sachlich-kategoriale, methodische und volitionale Elemente verknüpft, einschliesslich ihrer Anwendung auf ganz unterschiedliche Gegenstände …“[2]

Franz Weinert

Anderer Ansicht ist Franz E. Weinert. Für ihn sind Kompetenzen

„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen (…) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“[3]

Für Eckhard Klieme wiederum geht es beim Begriff der Kompetenz

„… darum, Grunddimensionen der Lernentwicklung in einem Gegenstandsbereich (einer „Domäne“, wie Wissenspsychologen sagen, …) zu identifizieren. Kompetenzen spiegeln die grundlegenden Handlungsanforderungen, denen Schülerinnen und Schüler in der Domäne ausgesetzt sind.“[4]

Noch mehr Klarheit bringt ein Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik:

Kompetenzen sind in der Pädagogik erlernbare, kognitiv verankerte und daher wissensbasierte Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auf eine erfolgreiche Bewältigung zukünftiger Anforderungen in Alltags- und Berufssituationen abzielen.“[5]

„Kompetenzen sind (…) allgemein betrachtet ein unscharfer Oberbegriff …”

Benedikt Weibel, ehem. SBB-Chef: Es gibt keine gültige Version.

Angetreten, die schulische Wissensvermittlung zu ersetzen, basiert die Kompetenzorientierung offenbar auf Wissen, ist sie doch gemäss vierter Definition „wissensbasiert“. Also abgesehen davon, dass es somit ohne Wissen keine Kompetenzen gibt, liegt noch ein zweiter Hase im Pfeffer: Der Eindruck, der sich spätestens anlässlich der vierten Definition von Kompetenz einstellt, wird durch besagtes Online-Lexikon bestätigt: „Kompetenzen sind (…) allgemein betrachtet ein unscharfer Oberbegriff …“ Darauf machte bereits Benedikt Weibel, ehemaliger Generaldirektor der Schweizerischen Bundesbahnen, in einer Kolumne in der “Schweiz am Sonntag” aufmerksam: „Es fällt auf, dass viele namhafte Wissenschaftler die Meinung vertreten, es gäbe gar keine allgemein anerkannte Definition dafür. Und einige lehnen den Begriff überhaupt ab.“[6]

„Nach aussen scheint die Kompetenzorientierung umgesetzt, intern herrschen Pragmatismus und oft Ablehnung.“

Kompezenorientierter Lyrikunterricht

Die damaligen Mitglieder der Eidgenössischen Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) folgten wie viele andere europäische Bildungsministerien der Anregung durch die OECD[7], einen neuen nationalen, auf Kompetenzen basierenden Lehrplan zu entwerfen, und zwar ohne vorgängige Rücksprache mit dem Volk und trotz der völligen Unschärfe des Kompetenz-Begriffs und dessen Abhängigkeit von Wissen. Man fühlt sich hier unweigerlich an Jesus’ letzte Bitte erinnert: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“[8] Übertragen auf die Bauwirtschaft würde dieses Vorgehen bedeuten, dass ein Wolkenkratzer auf einem Fundament gebaut würde, von dem niemand weiss, woraus es eigentlich besteht. Der Einsturz wäre mit grosser Wahrscheinlichkeit vorprogrammiert. Beim kompetenzorientierten Lehrplan21 ist das Scheitern ein schleichender Prozess: „Nach aussen scheint die Kompetenzorientierung umgesetzt, intern herrschen Pragmatismus und oft Ablehnung.“[9]

Abgesehen von der Unschärfe des Begriffs der Kompetenz und dem Wissen als deren Voraussetzung liegt ein dritter Hase im Pfeffer. Dieser springt einem ins Auge beim Vergleich mit der Privatwirtschaft. Die Anzahl der Kernkompetenzen einer Verkäuferin beträgt in etwa 6.[10] Beim Verkaufsleiter sind es circa deren 10.[11] Auch in der Altenpflege werden ungefähr 10 Kernkompetenzen vorausgesetzt.[12] Bei der Tischlerin ist die Rede von etwa 8. Um Unterkompetenzen zu berücksichtigen sollen die Zahlen mit vier multipliziert werden. Somit beträgt die Anzahl erforderlicher Kompetenzen bei den erwähnten Berufen zwischen etwa 20 und 40. Silke Dahmen, Karriereberaterin und Psychotherapeutin, veranschlagt ferner die Anzahl Kompetenzen, derer wir in Zukunft bedürfen zur Bewältigung beruflicher und privater Herausforderungen, mit 14.[13] Im Vergleich dazu werden von SchulabgängerInnen 3´500 Kompetenzen erwartet…

3´500 Kompetenzbeschreibungen zur Leistungsbeurteilung sind in der Folge auch im schulischen Umfeld gänzlich unzweckmässig.

Kompetenzraster Deutsch: ausufernder Blödsinn

Natürlich sind all diese Zahlen willkürlich, da, wie oben aufgezeigt, keine allgemeingültige Definition für Kompetenz existiert. In der Folge ist es auch eine subjektive Ermessenfrage, bis auf welche Ebene Kompetenzbeschreibungen heruntergebrochen werden. Der Grund dafür, dass die Anzahl privatwirtschaftlicher Kompetenzformulierungen für unterschiedliche Berufe jedenfalls überschaubar ist, besteht in der Notwendigkeit der Praktikabilität. Auf der Grundlage Tausender Kompetenzbeschreibungen lassen sich weder Mitarbeiter- bzw. Vorstellungsgespräche noch Audits [14] durchführen. 3´500 Kompetenzbeschreibungen zur Leistungsbeurteilung sind in der Folge auch im schulischen Umfeld gänzlich unzweckmässig. Immerhin einen Vorteil bietet die offenbar völlig aus dem Ruder gelaufene Kompetenzorientierung im Lehrplan21. Sie behindert den Schulbetrieb für alle Lernenden gleichermassen und leistet dadurch einen Beitrag zur Chancengleichheit.

[1]  zusammengesetztes Wort

[2]    https://de.wikipedia.org/wiki/Kompetenz_(P%C3%A4dagogik)

[3] https://lehrerfortbildung-bw.de/u_sprachlit/deutsch/gym/bp2004/fb1/01_ueberblick/kompetenz.htm

[4] https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/978-3-7799-4612-0.pdf

[5] https://lexikon.stangl.eu/7006/kompetenz/

[6] http://www.benediktweibel.ch/kolumnen/index.php?&id=116

[7] Organisation for Economic Co-operation; die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

setzt sich ein für die Marktwirtschaft. Siehe https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=oecd

[8]  Lukasevangelium 23,34; https://www.bibelstudium.de/articles/3223/vater-vergib-ihnen.html

[9]  https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2018/01/GH_05_2017_S29-31.pdf

[10]  https://www.vertriebsmanager.de/ressort/6-kompetenzen-die-jeder-vertriebler-verhandlungen-braucht-1834915728

[11]  https://vertriebszeitung.de/was-ein-vertriebsleiter-alles-koennen-muss-die-10-wichtigsten-kompetenzen/

[12]  https://www.ausbildungspark.com/berufsbilder/altenpfleger/

[13]  https://www.karriere-blog.de/diese-faehigkeiten-benoetigen-sie-um-im-beruf-erfolgreich-bleiben/

[14] „Ein Audit ist eine wichtige Massnahme im Rahmen des Qualitätsmanagements. Während eines Audits erfolgt die Überprüfung von Prozessen, Produkten oder Systemen auf Einhaltung von Vorgaben oder Richtlinien. Audits können intern oder extern durchgeführt werden.“ Siehe: https://www.security-insider.de/was-ist-ein-audit-a-799396/

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