Astrid Baumann ist eine Dozentin für Ingenieurmathematik an der Frankfurt University of Applied Sciences. Sie ist auch Mitglied der Gesellschaft Bildung und Wissen und sie macht sich Sorgen um das Unterrichtsniveau im Fach Mathematik. Dabei lässt sie sich – «profession oblige» – nicht von Gefühlen leiten, sondern analysiert Testaufgaben und die Ergebnisse der deutschen Abiturienten über viele Jahre. Sie sind so schlecht, dass man in den Universitäten sogenannte Brückenangebote einführen muss, damit die angehenden Studentinnen und Studenten auch nur auf ein einigermassen genügendes Niveau kommen, um ein Studium zu bewältigen. «Eine Arbeit», so schreibt sie, «die eigentlich nicht in den Bereich der Hochschullehre und Forschung gehört, aber bereits viel Arbeitszeit, nicht zuletzt also auch Steuergelder, verschlungen hat.»
Sie kennt auch die Resultate der internationalen Vergleichsstudien im Fach Mathematik (TIMMS), die zeigen, dass es ihr Heimatland Deutschland in der Kategorie Höchstleistung auf gerade mal 50 Talente (von 1000) bringt, während Länder wie Singapur, Südkorea, Hongkong, Japan oder (neu) Vietnam in dieser Kategorie mit über 400 Mathematik-Assen brillieren.
«Die Mathematik- und Physik-Bildungsstandards in der jetzigen Form gefährden die Studierfähigkeit der Abiturienten und den Wirtschaftsstandort Deutschland!» – Dr. Astrid Baumann
Als gebildete Mathematikerin im Ingenieur-Bereich weiss sie auch, welche Rolle die Mathematik in der Entwicklung von Patenten spielt, und als politisch und ökonomisch interessierte Bürgerin kann sie abschätzen, was es bedeutet, wenn beispielsweise Südkorea mehr Patente marktfähig macht als Frankreich oder die Bundesrepublik.
Zusammen mit anderen Mathematikgrössen machte sie sich auf die Suche nach den Ursachen. Diese ortete Frau Baumann in den neuen Lehrplänen, im selbstgesteuerten Lernen, in der oberflächlichen Kompetenzorientierung, im vernachlässigten Aufbau schon in der Grundschule, im mangelnden Üben, im fehlenden Durcharbeiten und in der Nivellierung der Ansprüche. Kurzum: «Die Mathematik- und Physik-Bildungsstandards in der jetzigen Form gefährden die Studierfähigkeit der Abiturienten und den Wirtschaftsstandort Deutschland!»
Keine Frage: Man kann dies auch anders sehen. Aber diese Sicht der Dinge teilen über 130 Mathematiklehrerinnen und -lehrer, Professoren und Physiker.
Frau Baumann und ihre Kolleginnen und Kollegen brachten ihre Bedenken zu Papier und schrieben einen ersten Brandbrief (2017), den sie an die Behörden, die Kultusminister, die Bildungsjournalisten und Fachgremien sandten. «Ich erhielt keine nennenswerte fundierte Antwort,» bekannte Frau Baumann. Zwei Jahre später schrieben sie und ihre MitstreiterInnen erneut einen Offenen Brief (2. Brandbrief), der diesmal von 300 MathematikerInnen unterstützt wurde. Der Brief war wie der erste sachlich abgefasst, enthielt keinerlei schroffe Behauptungen, sondern zählte auf 34 (!) Seiten genau auf, was in Deutschlands Schulstuben und Gymnasien vor sich geht.
Die Mathematiklehrer forderten namentlich:
- ausführliche Behandlung aller Grundrechenarten in der Grundschule, einschließlich des schriftlichen Teilens,
- keine Stochastik in der Grundschule,
- Aufnahme des klassischen Mittelstufenstoffes aus der Algebra und Elementargeometrie in die Standards für den mittleren Bildungsabschluss,
- im Mathematik-Abitur keine mit überflüssigen Texteinkleidungen aufgeblähten, unrealistischen «Modellierungsaufgaben»!
Diese Forderungen werden aktuell ja auch in Schweizer Mathematikkreisen intensiv diskutiert. Denn – das sei hier auch noch eingeschoben – auch die Schweiz liegt mit 80 Hochbegabten im Bereich Mathematik weit von den Ostasiaten entfernt.
Der zweite Brandbrief wurde plötzlich zur Kenntnis genommen. Die Gründe sind pikant.
Dieser zweite Brandbrief von Frau Baumann wurde – anders als der erste – zur Kenntnis genommen. Es wurde sogar eine Tagung in Berlin einberufen (4. November 2019), in welcher genau jene Themen auf der Tagesordnung standen, die Frau Baumann und ihre Unterstützer dokumentiert hatten.
Der Grund für diesen Stimmungsumschwung ist durchaus pikant: Seit 2017 ist im Bundestag und in den Landesparlamenten eine neue Partei präsent, und dies durchaus fulminant. 14% gaben der AfD ihre Stimme und die 91 ParlamentarierInnen dieser Partei sitzen nun auch in all den Kommissionen, in welchen auch solche Themen behandelt werden.
Die AfD nimmt die Forderungen auf
Nicht nur das: Die AfD konzentriert sich «dummerweise» nicht nur auf Flüchtlinge und Einwanderung, sie hat offensichtlich auch Leute in ihren Reihen, die sich für die Bildung interessieren. Die hessische AfD griff den Brandbrief auf, forderte von der Regierung Auskunft über das Gesagte und hat in ihrem Programm die Abschaffung der Kompetenzorientierung aufgenommen.
Wörtlich heisst es in der Anfrage unter anderem: «Beabsichtigt die Landesregierung, Maßnahmen zu ergreifen, um den schulischen, insbesondere gymnasialen Mathematik-Unterricht derart umzugestalten, dass Brückenkurse an den hessischen Hochschulen (…) weitgehend unterbleiben können? Falls ja, welche? Falls nein, warum nicht?»
Das Prinzip «Guilt by Assiciation»
Was nun? In den eher liberalen und linken Lehrerkreisen windet man sich. Und natürlich bleibt es auch den strammen Kämpferinnen und Kämpfern gegen rechts nicht verborgen, dass Rechtsnationale die Argumente von Frau Baumann aufgenommen haben. Und da setzt jetzt ein Prozess ein, den die Engländer ihrer Wortschöpfungsgewalt entsprechend «Guilt by Association» nennen.
Die Vorteile von «Guilt by Association» liegen auf der Hand. Man muss keine 34 Seiten eines Dokuments lesen, in dem zum Teil sehr komplexe Sachverhalte beschrieben werden, von denen die Gefahr ausgeht, dass eigene Überzeugungen ins Wanken geraten.
«Guilt by association» heißt im Englischen die Verunglimpfung über das Herstellen von Nähe.
Die Vorteile von «Guilt by Association» liegen auf der Hand. Man muss keine 34 Seiten eines Dokuments lesen, in dem zum Teil sehr komplexe Sachverhalte beschrieben werden, von denen die Gefahr ausgeht, dass eigene Überzeugungen ins Wanken geraten. Ein Hinweis auf eine rassistische Partei, die diese Kritik aufgreift, lässt den bekannten Schwefelgeruch entstehen, der auch die Autorin erfassen soll und die Debatte kann beendet oder in andere Bahnen gelenkt werden.
Dasselbe Muster wie beim Abstimmungskampf um die Lehrplaninitiativen
So habe ich es selbst erlebt, als ich vor einem Jahr öffentlich bekannte, dass ich der Lehrplaninitiative zustimmen würde. Ich tat dies mit den Argumenten, dass der Lehrplan eine Mogelpackung sei, er Harmonisierung vortäusche, aber Steuerung anstrebe, die Methodenfreiheit einschränke und die Vermessung der Bildung vorantreibe. Das kann man auch anders sehen. Aber auf diese Argumente wurde nicht eingegangen. Vielmehr konzentrierte man sich auf den Fakt, dass auch konservative und klerikale Kreise diese Initiative unterstützten, ja schlimmer noch, sie initiiert hatten.
Dabei vergisst man oft, dass es in der Geschichte der politischen Auseinandersetzungen immer wieder zu sogenannten unheiligen Allianzen gekommen ist. Die säkularen Franzosen sprechen hier mit etwas weniger Furor von «alliance contre nature». «Guilt by Association» ist denn auch keine Analyse, sondern ein Kampfmittel.
Geht man die Probleme nicht an, kehrt man sie unter den Teppich und verunglimpft die Kritiker, dann bleiben sie bestehen, verschlimmern sich mitunter.
Doch kommen wir zurück auf die Mathematikprobleme in Deutschland. Sie werden mit dem Prinzip «Guilt by association» nicht aus der Welt geschafft. Und es ist wie bei anderen Zeitfragen. Geht man sie nicht an, kehrt man sie unter den Teppich und verunglimpft die Kritiker, dann bleiben die Probleme bestehen, verschlimmern sich mitunter. Und ja, der Stimmenzuwachs bei nicht genehmen rechtsnationalen Parteien kann die Folge sein.
Nachtrag: Von der vollmundig angekündigten Tagung zum Mathematikunterricht in Deutschland am 4. November in Berlin durfte man sich nicht allzu viel erwarten. Die Einladung ging an die Ministerinnen und Minister, die Amtschefs, Fachvertreterinnen und Fachvertreter aus den Ländern, an ausgewählte Teilnehmer aus Wissenschaft, Fachverbänden und Bildungsjournalismus. Erst auf energisches Nachfragen wurden auch Frau Baumann und einige Vertreter der Lehrerschaft eingeladen! Der Hauptbericht zur Tagung umfasste 450 Seiten. Das Kompetenzmodell wurde darin weiterhin verteidigt. Und die Kultusminister hatten keine Ahnung, was ihnen vorgesetzt wurde. Ganz unzufrieden war Frau Baumann aber nicht. «Die Mauern beginnen zu bröckeln», stellte sie fest und verwies auf die Anpassungen in Baden-Württemberg. Dort berichtete einer ihrer Mitstreiter, Franz Lemmermeyer (ebenfalls im Condorcet-Blog aktiv): «Plötzlich gibt es Wurzelgleichungen, Bruchgleichungen und sogar lineare Ungleichungen. Ich glaube nicht, dass das auf dem Mist von Didaktik und Bildungsforschung gewachsen ist – anscheinend ist die Kritik nicht ganz ungehört verhallt.» Er fügte allerdings hinzu: «Bringen wird es allerdings nichts mehr – es ist viel zu wenig und viel zu spät».
Alain Pichard