„Der Verantwortung bin ich zum ersten Mal als Primarschüler auf Bergwanderungen begegnet. Mein Cousin, der schon ins Gymnasium ging, befahl jeweils: ‘Du trägst den Rucksack und ich die Verantwortung; so sind wir quitt.’ Damals wusste ich also, was Verantwortung ist: ein schwerer Rucksack.“ Das Bonmot stammt von alt Bundesrat Moritz Leuenberger: Verantwortung als spürbare Last und Belastung, Verantwortung als schwerer Rucksack. So Leuenbergers Metapher für dieses anspruchsvolle Wort.
Verantwortung als professionsethische Grösse
Verantwortlich zu sein gehört zur menschlichen Existenz. Verantwortung ist – je nach Kontext ihrer Thematisierung – eine Tatsache oder eine Norm. Eine Tatsache ist sie insofern, als Menschen autonome Personen sind und damit für die Folgen ihre Entscheide verantwortlich zeichnen. Verantwortung kann auch herbeigeführt werden – Verantwortung als Norm, die übertragen und dann getragen wird – mit einer Aufgabe beispielsweise oder einem Amt.
Verantwortung orientiert sich an den Konsequenzen des Handelns. Darum rechnet der Soziologe Max Weber die Verantwortungsethik zum Beruf der Politik. Er stellt sie in kontradiktorischen Gegensatz zur Gesinnungsethik, die zum Unbedingten tendiert. Die Weber’sche Verantwortungsethik bedenkt die voraussehbaren Folgen des jeweiligen Handelns; sie betont das Vorausdenken und das Nachbedenken.
Die „et respice finem-Haltung“
Die Ergebnisse des Handelns bedenken und notfalls für sie einstehen, fordert Max Weber. Vielleicht ist es genau das, was wir im Latein-Unterricht gelernt haben: „Was auch immer du tust, handle klug und berücksichtige das Ende.“ „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.“ Achtsam handeln, sich am Ziel orientieren und die Folgen abschätzen: Das will uns dieser lateinische Hexameter sagen. Ein Grundsatz ohne Verfalldatum!
Kaum jemand beachtet es – so wenig wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen.
Die Bildung kennt darum das „Gesetz der nicht beabsichtigten Nebenwirkungen“. Formuliert hat es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Kaum jemand beachtet es – so wenig wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen. Bildung darf daher nicht herummodellieren und herumexperimentieren, ohne dass man die Folgen kennt. Und sie ist nicht mit ihrer permanenten Reform gleichzusetzen. Junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie. Das unterscheidet sie von industriellen Produktionsgütern. Mit Werkstücken kann man experimentieren; mit jungen Menschen geht das nicht.
„Il näsch“ ist so gut wie „il neige“
Genau das aber geschah in den letzten Jahren: Ein Wirbelwind an Reformen überzog die Schulen, vielfach ohne verantwortliches Wissen um die Folgen. Die konkreten Konsequenzen (er-)tragen die Lehrpersonen im Unterrichtsalltag. Zu den vielen Reformen gehört auch der doppelte Fremdsprachenunterricht in der Primarschule.
Dazu ein illustratives Beispiel: Die sechs Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn, Bern, Freiburg und Wallis unterrichten ab der dritten Klasse Französisch. Seit 2011 setzen sie das gemeinsame Lehrmittel „Mille feuilles“ ein. Es ist Teil des 50 Millionen teuren Fremdsprachenkonzepts „Passepartout“. Das didaktische Prinzip: Die Schülerinnen und Schüler sollen die neue Sprache möglichst oft hören und so in „ein Sprachbad“ eintauchen. Das Lernen von Vokabeln und Grammatik läuft en passant. Das Konjugieren von Verben kommt kaum vor. Korrigieren sollen die Lehrer nur zurückhaltend.
Alarmierende Ergebnisse – und die Bildungspolitik schaut weg
Bald schon tauchten Kritiken und Klagen auf. „Manche Kinder können nach drei Jahren Französisch praktisch keinen französischen Satz sagen,“ sagte ein Lehrer aus dem Baselbiet.[1] Als Folge verzichtete der Kanton Bern 2017 bei den Aufnahmeprüfungen ans Gymnasium aufs gezielte Prüfen grammatikalischer Kenntnisse:[2] Wahrnehmen der Verantwortung durch Reduktion der Ansprüche und der notwendigen Lernbedingung für alle, die einen analytischen Sprachzugang haben.
Die Fremdsprachen-Didaktikerin Barbara Grossenbacher, Co-Autorin des Lehrmittels „Mille feuilles“, beschwichtigte. In schönster Selbstgewissheit meinte sie, man solle zuerst „auf wissenschaftliche Ergebnisse warten, welche die Wirksamkeit dieser Didaktik nachweisen“. Das geschah auch: Die Universität Freiburg evaluierte die Fremdsprachenkenntnisse der Schülerinnen und Schüler am Ende der Primarschule. Die Ergebnisse waren deprimierend: Nur gerade knapp elf Prozent (!) erfüllten beim interaktiven Sprechen das Lernziel. Beim Leseverstehen waren es lediglich 33 Prozent, während beim Hörverstehen immerhin 57 ein positives Resultat erreichten.[3] Aus der Berner Erziehungsdirektion hiess es lakonisch, man befände sich beim Frühfranzösisch auf dem richtigen Weg.[4]
Entsteht eine Art „Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept“?
Da stellt sich schon die Frage: Wer zeichnet denn verantwortlich, wenn durch eine politisch gewollte und von vielen Bildungsauguren vorangetriebene Reform eine Art „Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept“ entsteht, wie die NZZ schreibt.[5] „Nur wer es ans Gymnasium schaffe, erhalte die nötigen Sprachkompetenzen“, kritisiert ein passionierter Lehrer und fügt bei: „Beim Rest begnüge man sich im Französisch inzwischen mit ein paar wenigen Brocken.“
Das mag vielleicht mit dem groben Pinsel von van Gogh gezeichnet sein und nicht mit Albrecht Dürers feinem Stift. Doch die alarmierenden Resultate können nicht ungesehen beiseitegeschoben werden. Sie weisen auf ein tiefes Malaise hin.
Vom Prinzip der Verantwortung
Verantwortung hat mit „Worten“ und „Antworten“ zu tun. Verantwortung übernehmen heisst immer auch Ant-Wort geben als Reaktion auf eine Situation. Das ist anspruchsvoll. Darum wohl wiegt die Verantwortung schwer wie ein Rucksack. Wegschauen ist keine Antwort. Wer wegschaut, stiehlt sich aus der Verantwortung, lässt sie liegen oder gar fortfliegen wie einen leichten Luftballon. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Leidtragenden in der Pädagogik sind die Kinder und Jugendlichen. Mit ihnen zu experimentieren zeugt von wenig Verantwortungsbewusstsein. Denn junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie.
[1] Felix Schindler, Der Sprachenstreit beginnt schon beim Lehrmittel, in: Tages Anzeiger, 11.10.2016.
[2] Daniel Gerny, Barlez wu Fransai?, in: NZZ, 12.04.2017, S. 18.
[3] Eva Wiederkeller, Peter Lenz (2019), Kurzbericht zum Projekt ,Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen’, durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone. Freiburg.
[4] Stefan von Bergen, Die geheime Frühfranzösisch-Studie, in: Tages-Anzeiger, 28.09.2019.
[5] Daniel Gerny und Erich Aschwanden, Ein Französischbuch fällt durch, in: NZZ, 18.10.2019, S. 13.