Schulleiter hatten es nicht immer einfach mit mir. Ich hatte mir in den Jahren meiner Berufstätigkeit und auch als aktiver Gewerkschafter ein gewisses Verständnis von Abläufen beigebracht, mit denen ich meine Vorgesetzten (dazu gehörten auch Behörden) immer wieder in Argumentationsnot gebracht habe. Diese Fähigkeiten brachte ich immer dann ein, wenn Kolleginnen und Kollegen angegriffen wurden (und meine Hilfe beanspruchten), wenn meine pädagogischen Freiheiten beschnitten werden sollten oder wenn ich mit gewissen Entscheidungen nicht einverstanden war.
Schulleiter hatten es aber auch im OSZ-Orpund nicht leicht. Im OSZ-Orpund arbeiteten lange Zeit eine Reihe ausserordentlich dominanter, pädagogisch beseelter, charismatischer Lehrer (ich spreche hier ausdrücklich von Lehrern), die sich selten etwas sagen liessen und der Schule Ihren Stempel aufdrückten. Dieser «Stempel» liess sich durchaus sehen. Denn seit seiner Startphase vor ca. 50 Jahren galt diese Schule als innovativ, links, und unglaublich kreativ. Zahlreiche atemberaubende Projekte prägten den Schulalltag der Orpunder Oberstufenschüler, was bei manchen Behördenmitgliedern und Eltern auch Stirnrunzeln auslöste und dem Kollegium mahnende Appelle zu Mässigung einbrachte.
Es war logisch, dass sich dieses Kollegium bei der Umstellung des 6/3-Modells für eine integrierte Oberstufe aussprach, also für gemischte Stammklassen, in denen SekundarschülerInnen, RealschülerInnen, zukünftige GymnasiastInnen und auch die schulschwächeren Kinder zusammen lernen durften. Das war in einem eher konservativen Umfeld, wie es unsere Trägergemeinden eben sind, ein beachtlicher schulpolitischer Schritt. Die linke Stadt Biel entschied sich gleichzeitig für das selektivere Oberstufenmodell, in welchem die Sekundar- und Realklassen noch getrennt waren.
Das Ganze ging natürlich nicht ohne Konflikte. Wären der Lehrerkonferenzen gingen die Raubeine heftig aufeinander los. Es flogen sozusagen die Fetzen. Immer wieder gelang es dem Kollegium aber, diese Dissonanzen in produktive Kreativität umzusetzen. Mehrheiten entschieden, Beleidigungen wurden weggesteckt und man stellte sich stolz hinter das nächste Projekt.
Mit der Zeit verliessen einzelne Typen dieser alten Garde den Schuldienst, jüngere KollegInnen kamen, die nicht mehr alles schluckten, die Konflikte wurden heftiger und begannen das Kollegium zu lähmen. Und – wie es immer passiert, wenn Alphatiere das Ruder übernehmen – passierten auch gravierende Verstösse gegen die berufliche Professionalität. 2011 übernahm Urs Guggisberg hier das Ruder. Sein Vorgänger war den Behörden nicht mehr genehm, das Kollegium gespalten.
Man tut Urs Guggisberg sicher nicht Unrecht, wenn man ihn als einen Mann der «Alten Schule» bezeichnet. Eine wichtige und nicht zu unterschätzende Eigenschaft dieser «Old Fellows» sind Freundlichkeit und Höflichkeit. Der Mann strahlte Ruhe aus, wurde nie ausfällig, war ein ausserordentlich guter Zuhörer. Die zweite wichtige Eigenschaft dieser Art Führungspersonen ist die enorme Kenntnis der Gesetze und Abläufe, vor allem aber ihrer Lücken, welche diese Art Menschen als Freiräume entdecken.
Dieser Mann hatte ein Gespür für die Stärken seiner Mitarbeiter und liess ihnen grosse Freiheiten.
Für mich aber entscheidend: Dieser Mann hatte ein Gespür für die Stärken seiner Mitarbeiter und liess ihnen grosse Freiheiten. Er konzentrierte sich nicht auf die Schwächen, er förderte die Begabungen. Damit brachte er das OSZ wieder auf Kurs.
Er war es auch, der den Lehrplan an einem Kollegiumstag mit seinen Kolleginnen und Kollegen studierte, was daraufhin als Geburtsstunde des Memorandums 550gegen550 galt. Selbstredend war Urs Guggisberg einer der Erstunterzeichner und mit grosser Selbstverständlichkeit leitete er unsere Stellungnahme direkt an die EDK weiter.
Die folgende Anekdote sagt einiges über das Selbstverständnis dieses Mannes aus. Er erhielt von der Erziehungsdirektion und von der EDK zwei wütende Telefonate, beide mit der Kritik, was ihm eigentlich einfalle, diese Stellungnahme direkt zu schicken. Man hätte das Papier, so die Bildungsbehörden, dem Kanton zustellen müssen. Der hätte die Aussagen zusammengefasst und an die EDK weitergeleitet. Ausserdem brauche es einen Code, damit die Stellungnahme behandelt werde. Diesen Code, so beteuerte unser Schulleiter, habe er ja bekommen! «Ja», so die zerknirschte Antwort der EDK-Vertreterin, «das hätte aber nie passieren dürfen!»
Und so figuriert auch heute noch unter den Dutzenden standardisierten Vernehmlassungsantworten von Institutionen und Behörden diejenige des Oberstufenzentrums Orpund! – Notabene als einzige Schule der Schweiz!
Wie hat dieser Mann den Code erhalten? Ganz einfach: Mit Höflichkeit, Freundlichkeit und Bestimmtheit!
Wir dankten es ihm mit Innovation und atemberaubenden Projekten
Urs Guggisberg hat uns machen lassen. Als ich ihm nach 40 Jahren Französischunterricht sagte: «Ich kann diesen Passepartout-Scheiss nicht mehr verantworten und will keine Französischlektionen mehr unterrichten!», akzeptierte er das sofort und mit grösstem Verständnis. Er besuchte alle Theateraufführungen, Veranstaltungen und unterstützte all unsere Projekte. Er gab immer und unentwegt Rückmeldungen, bestärkte uns positiv und stand hinter uns, wenn es zwischendurch mal brenzlig wurde. Er konnte allerdings auch Lehrkräfte in den Senkel stellen, wenn es das erforderte. Höflich wie immer, aber bestimmt. Und die Schlichtungsgespräche, die er leitete, waren immer geprägt von einer beeindruckenden Sachkenntnis in Verfahrensabläufen. Er war für uns eine Art Lebensversicherung in heiklen Angelegenheiten.
Wir dankten es ihm mit Engagement, Innovation und Fleiss, mit Nachtprojekten, Parcours, Schulhauszeitungen, dem Führen eines Restaurants, dem Schülerrat an den Lehrerkonferenzen usw. Und auch mit Freude an unserer Arbeit. Denn Freude ist immer die einfachste Art der Dankbarkeit (Karl Barth).
Im Januar tritt Urs Guggisberg in den Ruhestand. Ihm folgen die letzten VetreterInnen der alten Garde, darunter wohl auch ich. Ich nehme an, dass dann die Sektflaschen geöffnet werden. In unserer Schule mit Wehmut, in den Büros der Bildungsbürokratie wohl mit Aufatmen!
Alain Pichard