22. Dezember 2024

Schulen sind keine Lernfabriken für den Arbeitsmarkt

Zu Hauf erscheinen Bücher über Bildung. Vielfach beleuchten sie Nebenaspekte. Inspirierend für eine ganzheitliche Sicht der Bildung dagegen wirkt Jürgen Kaubes Plädoyer. Mag es provokant sein, es reduziert auf Wesentliches. Dies ist das Fazit unseres Condorcet-Autors Carl Bossard, der uns die Lektüre dieses Buches ans Herzen legt, im wahrsten Sinn des Wortes.

Vertiefen und zum Denken anleiten! Das soll die Schule. Doch wer Tiefblick will, muss Höhe haben. Und in Höhen hinaufsteigen verlangt Ausdauer, ist manchmal eine Strapaze, ja eine Plackerei. Da gibt es keine asphaltierte Schnellstrasse, perfekt planiert und klinisch gesäubert von jedem noch so kleinen Hindernis. Das weiss jede Alpinistin, das kennt jeder Bergsteiger. Berge fordern anderes. Lernen gleicht diesem anspruchsvollen Bergaufprozess. „Lernen ist Arbeit, Umgang mit widerständigen Materien“; es beinhaltet „lange Durststrecken“, schreibt der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube in seiner pointierten Streitschrift zum deutschen Bildungswesen und zur deutschen Schule. Vermutlich vom Verlag animiert, fragt er vieldeutig: „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“[1]

Die aktuelle Schule – eine Fehlkonstruktion?

Kaube ist Bildungsexperte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ, Autor wissenschaftlicher Bücher[2] und Vater zweier Töchter. Aus dieser Perspektive formuliert er seine provokative These, die Schule sei in der heutigen Form eine Fehlkonstruktion – mit ihrer künstlich konstruierten Komplexität und ihren widersprüchlichen Aufgaben, in ihrem Auftrag hoffnungslos überlastet und überfrachtet. Kaube diagnostiziert eine Flucht aus dem Eigentlichen und Wesentlichen, dem konzentriertem und eigenständigem Lernen und Nachdenken, ins Vielerlei und Oberflächliche.

Es ist, so Kaubes Analyse, „ein allgemeines Merkmal der gegenwärtigen Schule: dass in ihr ständig alles unterbrochen wird. Ständig wechseln die Themen, nichts wird eingängig, ausgeruht, tief behandelt. Niemand lässt sich Zeit, alle schauen auf die Uhr. Auch die Lehrmaterialien machen diesen nervösen Eindruck. Sie halten keine Form der Zuwendung zu den Schülern durch, sondern sind immer um Abwechslung bemüht. Auf jeder Seite steht ein Kasten, der noch einmal etwas Besonderes mitteilt. Auf jeder zweiten Seite wechselt das Thema. Es ist, als ob den Schülern vor allem Multitasking eingetrichtert werden soll, die Fähigkeit, innerhalb kürzester Zeit zu anderen Formaten, Themen, Denkleistungen zu wechseln.“[3]

Üben und vertiefen

Diese Hektik führt oft zu einer inhaltsleeren Form des Unterrichts; sie verweist darum auf ein Kernproblem. Die Schule hat, kommentiert Kaube, vielerorts den Sinn für Wiederholung, Übung, Einübung verloren. Wo immer jemand sie verlangt, rege sich Protest: Das sei nicht kreativ, sondern autoritär und „old style“, das sei nicht individuell und kindgemäss, nicht selbstwirksam und „irgendwie nicht schön“.[4] Doch Denken setze angeeignetes und an Inhalten geübtes Wissen voraus – nicht kurzfristig im Netz ergoogelte Informationen.

Jürgen Kaube (C) FAZ

Wenn Bildungsidee und Wirklichkeit nicht übereinstimmen

Hart ins Gericht geht der Autor darum mit jenen „Didaktikern, Lerntheoretikern, Methodenerfindern“, die den pädagogischen Reformeifer über alles stellen. Zusammen mit ihren erziehungswissenschaftlichen Begleitforschern, unterstützt von reformfreudigen Bildungsbürokratien und einer an lukrativen Gewinnen orientierten Weiterbildungs- und Lehrmittelindustrie, hätten sie oft ohne Not und Nachweis Innovationen eingeleitet und tradierte Verfahren aufgegeben. Die Folgen dieser „Unterrichtsverrücktheiten“ spürten die Praktiker an der Front – und vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien.

Die Wahrheit ist konkret: Als eines von mehreren Beispielen wenig durchdachter Reformen nennt Kaube – etwas langatmig – die Methode „Schreiben nach Gehör“. Der Reformvorschlag sei nicht von einem Missstand bei den Rechtschreibeleistungen ausgegangen, sondern von einer gefühlten Differenz zwischen wirklichem Unterricht und vorgestelltem Unterrichtsideal. Der traditionelle Rechtsschreibeunterricht wurde also nicht kritisiert, weil er zu ungenügenden Ergebnissen geführt hatte. Ganz im Gegenteil! Er wurde um 1980 radikal umgebaut, weil Lerntheorien das alte Verfahren für nicht kindgerecht erklärten und die Orthographie als Korsett betrachteten. Ein neuer Denkansatz funktionierte zudem die Lehrerrolle um und degradierte den Pädagogen zum Coach und Lernbegleiter, während das selbstorganisierte Lernen verklärt wurde.

Schulen sind keine Lernfabriken für den Arbeitsmarkt

„Was macht gutes Lernen aus?“, lautet Kaubes knappe Kernfrage. In die Tiefe vordringen, unterscheiden lehren und so das Denken fürs Allgemeine schulen – mit konzentriertem, eigenständigem Nachdenken. Darin und nur darin sieht der Autor den Grundauftrag von Schule und Unterricht. Das ist wichtig und sympathisch als Gegenpol zur effizienzbetonten Kompetenzorientierung der aktuellen Schule, doch man fragt sich, was ein Unterricht längerfristig bewirken kann, der nicht zum Denken anregt.

Deutlich stärker als dieser eher blass gebliebene Lernzielgedanke wirkt Kaubes Kritik an der konsequenten Ausrichtung der Bildung auf den Arbeitsmarkt. Die Gesellschaft braucht keine Lernfabriken für den Arbeitsmarkt. Die angestrebte Ökonomisierung der Schule gefährdet zudem ihre Autonomie. Und diese Freiheit verteidigt Kaube. Lehrerinnen und Lehrer müssen sich auf das Kerngeschäft Unterricht konzentrieren können. Nur schon deshalb hat die Schule – auch und gerade in den Zeiten sozialtechnologischer und ideologischer Steuerungs- und Indoktrinationsphantasien – ein Ort der Freiheit zu bleiben.

Lektüre als Denkschule

Wie ein Bergführer lotst Kaube klug durch das zerklüftete Reformgebirge deutscher Pädagogik. Sein Buch, so DIE ZEIT, sei auch eine Denkschule für Leser, die sich für Schule im engeren Sinne gar nicht interessierten. Am Gegenstand Schule führe der Autor exemplarisch vor, was er sich als Ideal für den Unterricht vorstellt: „an einer Stelle des Stoffes in die Tiefe vorzudringen und die naheliegenden Irrtümer von den belastbaren Erkenntnissen zu sondern.“ [5] Angesprochen und zur Lektüre verpflichtet fühlen müssten sich darüber hinaus vor allem Schulpolitiker und Erziehungswissenschaftler.

 

[1] Jürgen Kaube (2019): Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Berlin: Rowohlt, S. 97, 170.

[2] Ders. (2015): Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems. Springe: zu Klampen Verlag; ders. (Hrsg.) (2009), Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschaftspolitik. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach.

[3] Kaube (2019), S. 140.

[4] Ebd., S. 144.

[5] Jens Jessen: Der Irrsinn leuchtet einen an. In: DIE ZEIT, 23.05.2019, S. 46.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Handyverbot

Eva Unternährer, Psychologin an den universitären psychiatrischen Kliniken Basel äussert sich zu einem parlamentarischen Vorstoss, der ein Handyverbot an Basler Schulen durchsetzen will.

Die feine Art des Widerstands

Das Umsetzungskonzept zum Integrationsartikels des Kantons Bern in der Gemeinde Orpund wurde von einer nicht unterrichtenden Fachperson geschrieben, enthielt fünf Seiten, wurde von der Schulkommission abgesegnet und den Lehrkräften als Beschluss mitgeteilt (nicht zur Beschlussfassung, notabene). Die erste der fünf Seiten enthielt nur Abkürzungen und deren Erklärungen (insgesamt 22 Übersetzungen). Ein älterer Kollege verfasste daraufhin eine Stellungnahme, der im Kollegium zustimmendes Schmunzeln, beim Schulkommissionspräsidenten einen Lachanfall und bei den Integrationsfachleuten der Bildungsverwaltung betretenes Schweigen auslöste.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert