25. April 2024

Was ist los mit unserem Geschichtsunterricht?

Haben Sie lebendige Erinnerungen an Ihren Geschichtsunterricht in der Volksschule? Wenn ja, dann dürften packende Erzählungen und anregende Klassengespräche wohl eine wichtige Rolle gespielt haben. Wenn nein, dann besuchten Sie vermutlich bei einem Langweiler den Geschichtsunterricht.

Nur noch ein Restprogramm eines geschichtlichen Basiswissens

Wenn man auf die aktuelle Situation des Geschichtsunterrichts blickt, so stellt man fest, dass das Fach in den letzten Jahren stark an den Rand gedrängt wurde. Die Lektionenzahl wurde teils bis auf eine Wochenlektion reduziert und das Fach selber ist versteckt in einem Konglomerat aus mehreren Fächern. Die meisten Lehrpersonen beklagen sich zu recht, dass für einen vernünftigen stofflichen Aufbau schlichtweg die Zeit fehle. Der zweite Grund für eine Distanzierung vieler Lehrpersonen gegenüber dem Fach ist eine tiefe Verunsicherung, die durch grundlegend neue Ansätze in der Geschichtsdidaktik ausgelöst wurde. Dabei bleibt die wichtige Frage, wieweit geschichtliche Inhalte noch verbindlich sind und welche Rolle der erzählerischen Gestaltungkraft der Lehrperson zukommt, trotz verschiedener Hinweise im neuen Lehrplan weiterhin in der Schwebe.

Die Abwertung des Geschichtsunterricht durch fehlende Zeitgefässe bei gleichzeitiger Austauschbarkeit wesentlicher Inhalte ist offensichtlich. Da es von der Zielsetzung des neuen Lehrplans her primär auf das Vermitteln von geschichtlich relevanten Kompetenzen geht, glaubt man, durch kluges Auswählen aus einer Vielfalt von Inhalten den Mangel des seriösen Aufbaus kompensieren zu können. Die Lehrpersonen sind bei diesem unübersichtlichen Selbstbedienungsbuffet nicht zu beneiden. Wie sollen denn die Schüler eine Kontinuität geschichtlicher Abläufe erkennen, wenn zu viel zusammengestrichen werden muss? Eine Geschichtsdidaktik, die glaubt, auf einen Grossteil geschichtlichen Grundwissens verzichten zu können, wird beim Vermitteln der Kompetenzen so immer wieder mit unvermeidlichen Lücken zu kämpfen haben.

 Wenig beliebte Schweizer Geschichte

In der Sekundarschule benötigt man bei schülergerechtem Lerntempo für eine nur in exemplarischen Schwerpunktthemen vermittelte Geschichte Europas von den Entdeckungen im 15. Jahrhundert bis zur aktuellen Globalisierung rund zwei Wochenlektionen während dreier Jahre. Es erstaunt deshalb nicht, dass Themen aus der Schweizer Geschichte am ehesten vernachlässigt werden, da sie als besonders heikel gelten. Kritisch denkende Lehrkräfte möchten sich nicht unnötig dem Stallgeruch eines selbstgefälligen Nationalstolzes aussetzen. Viele Lehrpersonen beschränken sich in der Schweizer Geschichte deshalb auf Kapitel, die ihnen gerade nahe liegen, oder machen gar einen Bogen um wesentliche historische Epochen. Doch diese Haltung darf keine Entschuldigung dafür sein, unserer Jugend das Werden der modernen Schweiz vorzuenthalten.

Akademisch konzipierte Geschichtsdidaktik

Die Stoffauswahl ist das eine, das lebendige Vermitteln historischen Geschehens das andere. In der Geschichtsdidaktik wird den Lehrpersonen nahegelegt, geschichtliche Erzählungen als Ergänzungen zu sehen und den Schülern einen breiten Zugang zur Vergangenheit durch die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Quellentexten zu öffnen. Die neue Geschichtsdidaktik geht oft von einem reichen Vorwissen aus, das nicht vorhanden ist, und neigt zu akademischen Fragestellungen, die viele überfordern.

Wer mit Lehrerinnen und Lehrern spricht, stellt fest, dass ein weitgehender Verzicht auf direkte Instruktion zugunsten von Erkenntnissen aus selbst erarbeiteten Lernprogrammen zeitraubend und für viele Jugendliche zu wenig motivierend ist.

Die Geprellten bei dieser umstrittenen Konzeption des Geschichtsunterrichts sind unsere Schülerinnen und Schüler. Ihr Hunger nach anschaulichen Schilderungen lässt sich kaum  mit individualisierten Aufträgen zu seitenlangen Dokumenten und Serien von Arbeitsblättern ausreichend stillen.

Ermutigung zum spannenden Erzählen

Der neue Trend in der Fachdidaktik hat seinen Preis. Statt angehende Lehrpersonen in faktenorientierter Erzählkunst zu fördern und zu ermutigen, setzt man in erster Linie auf anspruchsvolle Konzepte zur Selbsttätigkeit der Schüler. Nichts gegen neue Wege mit optimalen Zugängen zum altersgerechten Forschen, aber die Förderung des entdeckenden Lernens darf nicht mit einem Abbau des narrativen Unterrichts erkauft werden.

Die Vorbereitung einer narrativen Lektionsreihe mit einer didaktisch aufbereiteten Fortsetzungsgeschichte für einen dialogischen Unterricht ist aufwändig. Die meisten Lehrpersonen wären deshalb froh um kommentierte Folienfolgen für bildgestütztes Erzählen und prägnante Hintergrundinformationen zum gewählten Thema. Da sich die Fachdidaktik dafür aber nur begrenzt zuständig sieht, muss man sich nicht wundern, wenn viele Lehrpersonen sich ein erfolgreiches Einarbeiten in die Erzählkunst gar nicht mehr zutrauen.

Lebendiger Geschichtsunterricht ist sprachbildend

Doch der Aufwand würde sich vielfältig lohnen. Lebendiger Geschichtsunterricht ist sprachbildend, sofern dem Erzählerischen wirklich Raum gegeben wird. Kinder und Jugendliche sind voll aufnahmefähig, wenn sie während farbiger Schilderungen ein Sprachbad im dramatischen Geschehen nehmen können. In narrativen Geschichtslektionen entstehen innere Bilder und Vorstellungen von prägender Kraft, welche die Basis für solide Analysen bilden. Daraus entwickeln sich als erwünschte Nebenwirkungen geschichtliche Kompetenzen und eine nicht zu unterschätzende Ausweitung des sprachlichen Horizonts.

Schweizer Geschichte im europäischen Kontext sehen

Kaum eine kultivierte Nation würde es akzeptieren, wenn die landeseigene Geschichte im Unterricht hinten angestellt würde. Doch wir schaffen das. Viele Lehrpersonen gehen davon aus, dass die neuere Schweizer Geschichte nicht viel Aufregendes zu bieten habe, wenn man abseits der bekannten Mythen kritisch darüber berichte. Doch diese Befürchtung ist fehl am Platz. Die neuere Schweizer Geschichte ist eine Fundgrube für spannende und erhellende Auseinandersetzungen. Wenn relevante Themen geschickt vor dem Hintergrund des europäischen Donnergrollens geschildert werden, erkennen die Schüler meist die grossen Zusammenhänge von Entwicklungen und gleichzeitig die Besonderheiten des Schweizer Wegs.

Reicher Stoff für narratives Gestalten

Das Eintauchen ins historische Geschehen gelingt am besten, wenn Lehrpersonen die Fähigkeit entwickelt haben, im Lektionskonzept Spannungslinien aufzubauen und die dramatischen Verstrickungen wieder aufzulösen. Die Schüler merken bald, dass unsere Historie keine verstaubte Angelegenheit ist. Doch es gilt, die richtigen Themen auszuwählen. Der Landesstreik liegt schon gut hundert Jahre Zeit zurück. Aber die Dramatik des scharfen Gegensatzes zwischen dem aufgeschreckten Bürgertum und der wütenden Arbeiterschaft ist ein Stoff, aus dem sich Geschichte gestalten lässt. Die sich überschlagenden Ereignisse vom November 1918 und die nachfolgenden Jahre sind  Musterbeispiele für historisches Geschehen, welches letztlich grosse gesellschaftliche Veränderungen in unserem Land ausgelöst hat.

Faktenorientierte Erzählkunst fördert Urteilskraft

Schweizer Geschichtsunterricht soll auch Verständnis für den Zeitgeist einer Epoche schaffen. Dieser kann durchaus von den Wertvorstellungen unserer Tage abweichen  und etwas irritieren. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs bietet attraktiven Stoff, um die Situation eines Kleinstaats im Ring feindlicher Grossmächte schildern zu können. Die Abgrenzung gegenüber dem Nazitum, der Wille unserer Bevölkerung zum Überleben und die Reduit-Strategie von General Guisan stossen bei Jugendlichen auf grosses Interesse. Unverantwortlich wäre es hingegen, wenn kritische Fragen zur restriktiven Flüchtlingspolitik oder zu unserer wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Achsenmächten ausgeklammert würden. Die Jugendlichen haben ein Recht darauf, auch die unschönen Seiten unserer Vergangenheit kennen zu lernen. Meist entstehen gehaltvolle Klassengespräche mit differenzierten Urteilen, wenn Licht und Schatten menschlichen Verhaltens in schweren Zeiten faktengetreu zur Sprache gekommen sind.

In vielen Klassen hört der Geschichtsunterricht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf

In vielen Klassen wird die neue Schweizer Geschichte spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen. Doch die Zeit nach 1945 ist für eine Reihe politischer Weichenstellungen von grosser Bedeutung. Je näher wir ans 21. Jahrhundert kommen, desto deutlicher ist der Atem der aktuellen Politik zu spüren. Zudem bestehen mehr Möglichkeiten, um die Wirklichkeit der Geschichte erlebbar zu machen. Zeitzeugen können befragt werden und ausgewählte Film- und Tondokumente helfen mit, den Unterricht zu bereichern. Es gehört zum Basiswissen, dass die Schüler am Ende der Oberstufe über den Kampf ums Frauenstimmrecht sowie generell über unsere Grundstimmung während des Kalten Krieges im Bild sind. Aber all das Wissen bekommt erst seinen Wert, wenn dahinter lebendige Bilder und wesentliche historische Erkenntnisse stehen.

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System am Anschlag

Im Kanton Basel-Stadt hat ein Komitée von Lehrpersonen eine Initiative zur Einführung von Förderklassen eingereicht. Die Integration aller Schülerinnen und Schüler werde von immer mehr Lehrkräften in Frage gestellt. Mit dabei unser Condorcet-Autor und ehemaliger SP-Parteipräsident der Stadt Basel, Roland Stark. Der Bericht von Gastautor Michael Zollinger ist in der Zeitschrift “profil” erschienen, dem Magazin der Schulverlag plus AG.

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