29. Dezember 2024

Leseunterricht: Kurswechsel dringend nötig

Condorcet-Autor Urs Kalberer analysiert die mässigen und vor allem sinkenden Leseleistungen der Schweizer Schülerinnen und Schüler. Und er rechnet mit dem kompetenzorientierten Lesetraining ab.

Seit 2012 geht es mit den Lesefähigkeiten signifikant bergab. Mittlerweile liegt die Schweiz sogar unterhalb des OECD-Durchschnitts von 75 Ländern. Das zeigen die Resultate des Leseverstehens, die von PISA 2018 in Abschlussklassen ermittelt wurden (1). Die dabei gemessenen Fähigkeiten stimmen grösstenteils mit den im Lehrplan 21 gestellten Kompetenzanforderungen überein und dienen daher als wichtige Rückmeldung zum Leseunterricht an Schweizer Schulen. Die Leistungen lassen sehr zu wünschen übrig.

24 Prozent der Schulabgänger erreichen die unterste von 6 Kompetenzstufen!

Konkret erreichen 24 Prozent der Schulabgänger bloss die unterste von sechs Kompetenzstufen – sie verstehen die wörtliche Bedeutung von Sätzen oder die Hauptaussage vonTexten nicht. Wenn wir dazu noch die Schüler im zweittiefsten Niveau addieren, dann liegen wir knapp bei derHälfte der Schüler.

Entwicklung der Schweiz beim Lesen: Wie reagiert ein Land, das neben Luxemburg am meisten Geld pro Schüler in sein Schulsystem steckt?

Wie reagiert ein Land, das neben Luxemburg am meisten Geld pro Schüler in sein Schulsystem steckt, auf diese ungenügenden Resultate? Die Eidgenössische Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) gibt  sich gefasst: «Im Lesen entspricht er (der Mittelwert, Anm. U.K.), wie bereits 2015, dem OECD-Mittel, wobei die Schweiz – wie viele andere OECD-Länder auch – eine prozentuale Zunahme bei der Gruppe der leseschwachen Jugendlichen zu verzeichnen hat.» (2) Das Zentrum Lesen der PHNW lässt in einer Stellungnahme verlauten: «Insgesamt ist die Leseleistung bei Schweizer Schülern und Schülerinnen leicht gesunken. Die Differenz ist jedoch nicht signifikant» (3). Diese Aussage bezieht sich auf die Veränderung zwischen 2015 und 2018 und soll wohl beruhigen, obgleich die Veränderung seit 2012 sehr wohl statistisch signifikant ist. Im Gegensatz zur Fremdsprachen-Debatte führte der fortschreitende Lesenotstand also zu keinen Ängsten hinsichtlich des Auseinanderbrechens unserer Nation. Die gelassenen Reaktionen sind nicht nachvollziehbar, denn die gesellschaftliche Brisanz dieser Daten ist offensichtlich: Lesen ermöglicht Schritte in Richtung Autonomie und mehr Chancengerechtigkeit. Wer einfache Texte nicht versteht, ist in unserer Gesellschaft klar benachteiligt.

Wenn’s nicht funktioniert, einfach noch mehr vom Selben
Die EDK stellte die Wichtigkeit der Vermittlung von Lernstrategien ins Zentrum. «Die PISA-Ergebnisse zeigen wiederholt, dass sowohl das Engagement im Lesen als auch das Wissen über Lernstrategien in einem positiven Zusammenhang mit der Lesekompetenz 15-jähriger Schülerinnen und Schüler stehen.“(2) und „Es liegt auf der Hand, dass der Entfaltung eines Interesses für Texte und der Vermittlung von Lernstrategien mehr Gewicht geschenkt werden sollte.“ (2) Dies ist auch das Credo an den Pädagogischen Hochschulen und das Angebot an Strategie-Trainingsmethoden der LehrbuchVerlage ist unübersehbar und wird im Unterricht auch fleissig eingesetzt. Man verschreibt als Rezept nun einfach noch mehr von derselben Medizin, nämlich Strategietraining. Doch trotz der jahrelangen Offensive scheint der Ansatz wirkungslos zu sein. Strategietraining ist der falsche Ansatz. Dies zeigt auch ein weiterer Blick in den EDK-eigenen Bericht zu den PISA-Resultaten.

Strategiewissen: Trotz Einführung des Lehrplans 21 zurückgefallen.

Aus der obigen Grafik lässt sich erkennen, dass die Schweiz (CHE) bezüglich des Strategiewissens trotz den Empfehlungen der EDK und trotz der Einführung des Lehrplans 21 zurückgefallen ist. Entgegen den Verlautbarungen der EDK existiert aber kein Zusammenhang zwischen dem Strategiewissen und der Leseleistung. Länder mit einem tiefen Strategiewissen wie Finnland und Kanada belegen nämlich beim Leseverstehen Spitzenpositionen. Italien hat höhere Werte beim Strategiewissen als die Schweiz, liegt beim Leseverstehen aber hinter der Schweiz. Luxemburg hat beim Strategiewissen zugelegt, liegt jedoch weit abgeschlagen hinter der Schweiz. Neben dem Strategietraining, das Lesen in eine Fülle von Teilbereichen zerstückelt, werden aktuell an unseren Schulen noch weitere Methoden angewandt. Beim Tandemlesen arbeiten Schülerpaare zusammen, ein Kind versucht, einen Text möglichst fehlerfrei laut vorzulesen, während das andere zuhört und Fehler korrigiert. Das Tandemlesen reduziert den Leseprozess auf das mündliche Wiedergeben von Gedrucktem. Durch die Konzentration auf die mündliche Wiedergabe bleibt nicht genug Aufmerksamkeit für den Inhalt des Textes übrig. Lautes Vorlesen hat keinen oder sogar störenden Einfluss auf das Leseverständnis.

Durch die Konzentration auf die mündliche Wiedergabe bleibt nicht genug Aufmerksamkeit für den Inhalt des Textes übrig.

Texte generell zu einfach

Weiter fällt auf, dass die meist fiktionalen Texte in der Primarschule generell zu einfach sind und zu wenig Gelegenheit bieten, den Wortschatz zu erweitern. Es fehlen Texte mit Bezug zum Schulstoff, in denen der neue Wortschatz in neuer Umgebung erscheint. Verständnisfragen sind sehr verbreitet, sie sind aber meist nur oberflächlich und verlangen blosses Auffinden von Wörtern oder Textstellen. Dieses «wordspotting» bietet keine Gelegenheit zur Stärkung des Leseverständnisses. Strategien lassen sich nicht transferieren.

Der Lehrplan 21 erlaubt es, die geforderten Lesestrategien an beliebigen Texten anzuwenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich wichtige Informationen auf einem Joghurtbecher oder aus einem Text über den 2. Weltkrieg erschliesse

Vorwissen essentiell
Der Lehrplan 21 erlaubt es, die geforderten Lesestrategien an beliebigen Texten anzuwenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich wichtige Informationen auf einem Joghurtbecher oder aus einem Text über den 2. Weltkrieg erschliesse. Es wird postuliert, dass man die Fähigkeit, Informationen zu erschliessen auf andere Texte transferieren kann. Doch dies ist nicht möglich: Das Leseverstehen basiert in erster Linie auf dem Wissen und damit verbunden auf dem thematisch relevanten Wortschatz der Leser. Wer nicht weiss, wer Henri Guisan war, kommt mit allem Vorwissen der Joghurtzutaten bei einem Text über die Schweiz im 2. Weltkrieg nicht weiter. Das bestätigen auch verschiedene Untersuchungen aus den USA, die zeigten, dass das Vorwissen für das Verständnis eines Textes essenziell ist – wichtiger als die Lesestrategien (4), der Intelligenzquotient, ja sogar als der Schwierigkeitsgrad eines Textes.

Wer nichts weiss, wird bestraft
In der Literatur zum Leseunterricht spricht man vom «Matthäus-Effekt»: Wer da hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. Im Sportteil einer Zeitung heisst es: «Ammann springt weiter – bis Peking». Hier handelt es sich nicht um einen kilometerweiten Sprung bis zur chinesischen Hauptstadt. Der Leser muss wissen, dass es sich bei Ammann um den Skispringer Simon Ammann handelt, der seinen Sport noch bis zu den Olympischen Spielen, die in Peking stattfinden, weiter ausüben wird. Es zeigt sich, dass zum Verständnis eineSatzes viel Vorwissen vorausgesetzt wird. Dasselbe gilt auch bei Suchmaschinen im Internet. Google ist kein egalitärer Faktenfinder: Wer schon etwas weiss, wird belohnt.

Der Fokus auf Lesetechniken und -strategien führt dazu, dass die Schüler die wichtige Aneignung von Grundwissen verpassen.

Was ist zu tun?
Anstatt also sehr viel Zeit und Energie in den Aufbau von Lesestrategien zu stecken, brauchen die Schüler Kenntnisse, Wissen über Sachverhalte und einen breitgefächerten Wortschatz. Der Fokus auf Lesetechniken und -strategien führt dazu, dass die Schüler die wichtige Aneignung von Grundwissen verpassen.

Lesetexte sind oft zu einfach.

Im Erstleseunterricht muss intensiv die Buchstaben-Laut-Beziehung geübt werden, sodass diese am Ende des Zyklus I bei möglichst allen Kindern automatisiert ist und «sitzt». Dabei ist auf gezielte Instruktion zu achten, welche gemäss der IGLU-Studie (5) besonders für die schwächeren Schülervorteilhaft ist. Selbstentdeckendes Lernen mit  individuellen Schreibvarianten ist deshalb zu vermeiden. Ab der Primarschule muss auf einen bewussten Ausbau des Wortschatzes geachtet werden, dazu müssen mehr Sachtexte in den Unterricht eingebaut werden. Häufiges Vorlesen durch die Lehrperson aktiviert den aktiven und passiven Wortschatz und liefert Hilfe für die korrekte Aussprache.

Kein Vorteil, bereits im Kindergarten zu beginnen

Es bringt keinen Vorteil, mit dem Lesen bereits im Kindergarten zu beginnen. Das ideale Alter liegt bei sechs bis sieben Jahren, weil die kognitive Entwicklung dann genügend fortgeschritten ist. Das Leseverständnis sollte auch regelmässig geprüft werden, damit die Lehrperson Entscheidungshilfen bekommt. Dabei muss der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben gegenüber heute deutlich erhöht werden. Ebenfalls wichtig ist es, das Lesetempo zu erhöhen. Dies sollte im Zyklus II nach der Festigung der Buchstaben-Laut-Beziehung erfolgen. Ein erhöhtes Lesetempo verhindert eine Überlastung des Kurzzeitgedächtnisses. Inhalte können so gespeichert werden, ohne dass man den Satz nochmals von vorne lesen muss.

Die Förderung des Lesens und des Leseverständnisses auf der Grundlage von Buchstaben-Laut Beziehung, einem vergrösserten Wortschatz und gesteigertem Lesetempo ist eine pädagogisch sinnvolle Alternative zum aufwändigen Strategietraining an inhaltlich belanglosen Texten. Lesen lernen erhöht die Chancengerechtigkeit und hilft soziale Unterschiede zu verringern. Alle Schüler haben ein Anrecht darauf, in den neun Schuljahren der Volksschule passabel lesen zu lernen. Die unhaltbaren Zustände im Leseunterricht müssen mit aller Kraft korrigiert und verbessert werden.

Quellen:
1) PISA 2018 – Results (volume I): What students Know and Can Do
https://www.oecd.org/publications/pisa-2018-results-volume-i-5f07c754-en.htm
2) PISA 2018 – Schülerinnen und Schüler der Schweiz im internationalen Vergleich, Nationaler Bericht,
EDK, 2019. https://www.edk.ch/dyn/32703.php
3) PISA 2018 – Ergebnisse Schweiz, Zentrum Lesen FHNW, 2019


4) Recht, D.R. and Leslie, L., 1988. Effect of prior knowledge on good and poor readers’ memory of
text. Journal of Educational Psychology
5) IGLU 2016 – Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich.
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Press

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4 Kommentare

  1. Urs Kalberer kritisiert zu Recht den unergiebigen Fokus auf Strategien beim Lesenlernen. Die didaktische Hinwendung zu “Strategien” basiert auf dem Irrtum, den Lernvorgang des Lesens aus der Perspektive des erwachsenen und geübten Lesers zu betrachten. Wer viel gelesen hat, über ein solides Grundlagenwissen verfügt und die Reife (=Maturität) eines Erwachsenen gewonnen hat, hat sich automatisch Strategien angeeignet, die ihm das Lesen erleichtern. Wer meint, den mühevollen Weg des Lernens durch verfrühtes Einpauken von Strategien abkürzen zu können, tappt in die typische Falle des “Kompetenzenlernens”: Lesekompetenz erwirbt man nicht durch ein auf Lesetechniken reduziertes Lernprogramm, sondern durch inhaltlich anregendes, auf Verständnis, Spannung und Genuss ausgerichtetes, ganzheitliches Lese-Erleben. Dass die Lehrperson dabei auch Lesetechniken und Strategien als Lernziele und als Diagnoseinstrument im Auge hat, sollte zur selbstverständlichen professionellen Ausstattung der Lehrperson gehören.

  2. Ich möchte den ausgezeichneten Artikel von Urs Kalberer ergänzen durch die Bedeutung des Lesens für die Gemütsbildung des Kindes. Gerade beim Vorlesen von Geschichten können sie ihren Horizont erweitern – das Erweitern des Wortschatzes wird mitgeliefert, ebenso mögliche Satzstrukturen oder auch Ideen für eigene Texte – sie haben die Möglichkeit sich zu identifizieren oder auch abzugrenzen gegenüber den Handelnden und den Handlungen der Geschichte. Und es regt oft auch beharrliche NichtleserInnen dazu an, sich auch in der Freizeit einmal ein Buch aus der Nähe anzusehen.

  3. Jeder erfahrene Lehrer kann bereits ab der 1. Klasse mit grosser Wahrscheinlichkeit vorhersagen, welche seiner Schüler einmal zu den 24% funktionalen Analphabeten gehören werden. Es sind diejenigen mit Lernschwierigikeiten aus ganz unterschiedlichen Gründen. Allen gemeinsam ist, dass sie sich das Lernen nicht mehr zutrauen, weil sie tagtäglich empfinden, dass sie mit den Klassenkameraden in der Regelklasse nicht mithalten können. Da sie kaum je ein Erfolgserlebnis machen können, werden sie immer entmutigter und ihre Stofflücken immer grösser. Was tun? Der Lehrer kann diese Kinder stundenweise Spezialisten (Heilpädagogen, DaZ usw.) überlassen und sein Lernarrangement überprüfen, ob es für diese Schüler taugt oder kontraproduktiv wirkt. Kann er seine Methodenfreiheit nicht ausüben, müsste er an eine Schule wechseln, wo das noch möglich ist.

    Warum hat die Schule vor den Reformen kaum Analphabeten produziert? Schüler mit wenig Deutschkentnnissen wurden in Deutschklassen beschult. Schüler mit Entwicklungsrückständen und langsame Lerner konnten die 1. Klasse in zwei Jahren absolvieren. Für schwache Schüler gab es Kleinklassen mit verschiedenen Niveaus. Wer Ende Schuljahr das Stoffziel nicht erreicht hat, musste unter Umständen eine Klasse repetieren. Jeder Lehrer war darauf bedacht, dass der Lehrer der nächsten Klassen nicht Stofflücken aufholen musste, sondern mit seinem Stoff beginnen konnte. Alles war darauf ausgerichtet, möglichst homogene Klassen zu bilden, um jeden Schüler an einem optimalen, effektiven Klassenunterricht teilhaben zu lassen, bei dem er möglichst viele Erfolgserlebnisse machen konnte. Die sogenannte Separation hat die Chancengleichheit verwirklicht, während die sogenannte Integration ein Heer von Schülern „produziert“, die kaum einen Beruf erlernen können.

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