23. November 2024

Abschaffung der Kleinklassen: Ein bildungspolitischer Irrweg

Diesmal ein Text zweier Condorcet-Autoren, beides ehemalige Heilpädagogen, beide mit grosser Berufserfahrung und beide Rufer in der einsamen Wüste, als man die Kleinklassen abgeschafft hat. Roland Stark und Riccardo Bonfranchi über einen fatalen Reformschritt.

Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge
Riccardo Bonfranchi

Wissen Sie, was “postfaktisch” bedeutet? Das Adjektiv beschreibt Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Meinungen beeinflusst wird.

Uns scheint es, dass insbesondere bei der Diskussion über Vor- und Nachteile der schulischen Integration von lernbehinderten Kindern und Jugendlichen postfaktisches Vorgehen angesagt ist. Dies wird der enormen Bedeutung der Sache aber nicht gerecht. Es sollen hier deshalb einige uns  relevant erscheinende Gründe ohne ideologische Verklärung oder Überhöhung dargestellt werden. Dabei soll, quasi als unser erkenntnisleitendes Interesse, offen gelegt werden, dass wir die Aufhebung und Schliessung von Institutionen, in denen diese Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte fachlich fundiert und auch immer wieder erfolgreich gefördert und beschult worden sind, für falsch halten.

Von welchen Institutionen sprechen wir?

Es geht um die Abschaffung der Kleinklassen, der Einführungsklassen, um Reorganisationen beim Logopädischen Dienst, bei der Psychomotorik und auch bei der Sprachheilschule sowie in Bezug auf die Berufsfindung die Werkjahre.

Lernbehinderte Kinder und Jugendliche in einem grossen Klassenverband von mehr als 20 Mitschülern können nicht im gleichen Masse gefördert werden, wie wenn sie sich z.B. zu acht in einer Klasse befinden.

Zu welchen Auswirkungen hat das Verschwinden dieser Institutionen geführt?

Wir können hier nicht auf jede Einzelheit eingehen, sondern beschränken uns auf Aussagen, wie wir sie von den Menschen in der Praxis immer wieder gehört haben. Da ist zum einen der Fakt, dass lernbehinderte Kinder und Jugendliche in einem grossen Klassenverband von mehr als 20 Mitschülern nicht im gleichen Masse gefördert werden können, wie wenn sie sich z.B. zu acht in einer Klasse befinden. Die heilpädagogische Begleitung, die einem Kind für einige Stunden in der Woche zusätzliche Unterstützung bieten soll, kann aber nur einigermassen erfolgreich arbeiten, wenn sie das Kind aus der Klasse herausnimmt. Sie geht dann mit ihm ins Kopierräumchen oder irgendwo anders hin. Doch ist es dann nicht integriert. Bleibt sie mit ihm in der Klasse, so führt dies zu einer zusätzlichen Unruhe während des Schulbetriebs. Denn es sind ja noch eine Reihe von anderen (heil-)pädagogisch tätigen Erwachsenen in der Klasse, wie z. B. eine Person, die sich um ein “integriertes” geistig behindertes Kind kümmert, eine Person, die Deutsch für Ausländer erteilt etc. Eine Dilemma-Situation sondergleichen. Es geht zu wie am Bahnhof. Schüler und Erwachsene kommen und gehen. Dass dann Mitschüler einen Gehörschutz erhalten, um sich besser konzentrieren zu können, zeigt das Widersprüchliche dieser Vorgehensweise drastisch auf.

Integration in einer Gesamtschule im Ruhrgebiet (Dorsten)
Bild: api

Vom sozialen Standpunkt aus ist zu fragen, wem es auf Dauer schon gefiele, täglich zu erfahren, dass man die oder der Schwächste ist, dass man die Witze der Mitschüler nicht so ganz versteht und dieselben Mitschüler nur die Augen verdrehen, wenn man selber mal einen erzählt. Ein immer wiederkehrendes Misserfolgserlebnis, das diesen Bezugsgruppenkonflikt drastisch verdeutlicht.

Die Schüler und Schülerinnen, und das muss hier besonders betont werden, sind nur “formal” integriert. Sie stehen auf der gleichen Klassenliste.

Den angeblich integrierten Kindern fehlt eine stabile und vertraute Lernumgebung, wie sie in den fälschlicherweise als integrationsfeindlich denunzierten Kleinklassen vorhanden war. Die Schüler und Schülerinnen, und das muss hier besonders betont werden, sind nur “formal” integriert. Sie stehen auf der gleichen Klassenliste. Aber ob sie als Menschen auch integriert sind, erscheint doch mehr als fraglich zu sein. Diese sogenannte Integration stellt eine Bagatellisierung und damit auch eine Trivialisierung ihrer Behinderung dar. Man könnte somit auch von einer Würdeverletzung ihrer Persönlichkeit sprechen. Integration kann und wird diesen Schülern in ihrem So-Sein in keiner Art und Weise gerecht.

Verhaltensauffällige Kinder gehören nicht in Heilpädagogische Sonderschulen.

Eine weitere Konsequenz dieser fragwürdigen Integration besteht darin, dass eine ganze Reihe von lernbehinderten Kindern und Jugendlichen, die auch verhaltensauffällig sind, eben nicht integriert werden (können). Diese unterstehen natürlich weiterhin der Schulpflicht und werden in Heilpädagogische Sonderschulen überwiesen. Dieser Schultypus wurde für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung konzipiert, und diese Schulen sind heutzutage übervoll. Lernbehinderte/verhaltensauffällige Schüler und Schülerinnen gehören nun aber genauso wenig in diese Heilpädagogischen Schulen wie in die Regelschulen. Als Konsequenz tut sich damit ein weiteres Problemfeld auf.

Fazit: Die “integrative Schule” bietet nur ein ungenügendes, für alle Beteiligten oft frustrierendes Angebot.

Was bedeutet die UN-Menschenrechtskonvention für die sogenannte Integration?

Verhaltensauffällige Schülerinnen oder Schüler gehören nicht in eine Heilpädagogische Sonderschule.

Von den Befürwortern der sogenannten Integration wird gebetsmühlenartig immer wieder auf die UN-Konvention aus dem Jahre 1994 von Salamanca verwiesen. Bei der Auslegung dieses Papiers haben sich aber zwei Missverständnisse eingeschlichen, die oft vergessen gehen. Zum einen ist zu sagen, dass in der Konvention an keiner Stelle die Rede davon ist, dass Sonderschulen, d.h. spezifische Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Defiziten, abgeschafft werden müssen. Im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration stehen nicht organisatorische bzw. räumliche Fragen der Zusammenlegung, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden.

Das zweite Missverständnis basiert auf einem Übersetzungsfehler. Eine Klarstellung in dieser politischen und ideologischen Spannung wird durch einen Blick in den Text der UN-Vorgabe möglich. Hier lautet die Grundforderung: Die Vertragspartner hätten sicherzustellen, dass kein Kind vom “general education system”, also vom allgemeinen Schulsystem, ausgeschlossen werde. Diese Zielvorstellung geht primär auf die Tatsache zurück, dass weltweit immer noch etwa 25 Millionen Kinder mit Behinderungen im Primärschulalter überhaupt keine Schule besuchen können, wie die Unesco-Kommission im Jahr 2009 feststellte. “Inklusives” Bildungssystem bedeutet demnach, es muss alle Kinder, also auch Kinder mit Behinderungen, in besonderen Einrichtungen einbeziehen.

Die Verabsolutierung des Integrationsprinzips wurde dadurch möglich, dass der englische Terminus “general education system” fälschlicherweise mit dem deutschen Begriff der “allgemeinen Schulen” (im Unterschied zu den Kleinklassen) gleichgesetzt wurde. “General education system” entspricht aber eindeutig dem, was wir als “allgemeinbildendes Schulsystem” (im Unterschied zu berufsbildenden Schulen) verstehen, zu dem nach schweizerischem Schulrecht der Kantone eindeutig auch die Kleinklassen gehör(t)en.

Bildungspolitische Überlegungen

Die Integrationsbewegung steht, so muss man weiter nüchtern festhalten, völlig schief in der aktuellen Bildungslandschaft. Diese hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten immer weiter aufgefächert, spezialisiert. Wir sprechen hier z. B. von Fachmittelschulen, der Lehre mit oder ohne Berufsmaturität, Höheren Fachschulen, Fachhochschulen, Schulen für Hochbegabte etc. Erwähnenswert ist auch, dass am 24.11.2019 im Kanton Basel-Landschaft die Aufgliederung der Sekundarstufe I in drei Leistungskategorien der promotionswirksamen Fächer vom Volk mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Wir können deshalb festhalten, dass die Entwicklung von Bildung – dies als ein Kredo der Sozialdemokratie aus dem letzten Jahrhundert – dahin ging, dass spezifische Gruppen in einer Gesellschaft auch ein Anrecht auf eine spezifische Bildung haben. Wieso man dann diesbei Menschen mit einer Behinderung  auflöst, muss andere Gründe haben, über die hier aber nur spekuliert werden kann. Fachleuten und insbesondere den Lehrkräften in der Praxis ist klar, dass verhaltensauffälligen, lernbehinderten, oft auch sprachlich und kulturell noch nicht integrierten Kindern und Jugendlichen eine besonders geförderte Schule angeboten werden muss.

Ist Integration billiger?

Nein, in keiner Art und Weise. Diese sogenannte schulische Integration ist wesentlich teurer als ursprünglich gedacht, obwohl mit der Behauptung des Gegenteils vor ca. 20 Jahren Politiker und Verwaltungsbeamte der Bildungs- und Erziehungsdirektionen geködert worden sind. Inzwischen wirft die Praxis immer größere Finanzierungsprobleme auf. Es wird verblüfft gefragt: Hat denn niemand die zu erwartenden Kosten berechnet? Voreilige Departemente in den Kantonen hatten sich erhofft – sie waren durch oberflächliche und geschönte Schätzungen dazu ermuntert worden –, die entstehenden Kosten für ein integriertes Schulsystem liessen sich durch den Wegfall der Kosten für die Kleinklassen kompensieren. Diese Auffassung hat sich als total irrig erwiesen, konnte aber nicht verhindern, dass es zu schulischen Improvisationen von Integration und damit zu Benachteiligungen der betroffenen Kinder kam.

Stimmungen

Der Forderung, Einführungs- oder sogar Kleinklassen wieder einzuführen, wird nicht mit (heil-)pädagogischer, sondern fast ausschliesslich mit ideologischen Schein-Argumenten begegnet. Von Salamanca herkommend, wird ein absoluter Integrationsauftrag abgeleitet, der aber dann noch nicht einmal als eine solche bezeichnet werden kann. Wir halten deshalb fest, dass diese sogenannte Integration der Persönlichkeit und den persönlichen Bedürfnissen von lernbehinderten Kindern in keiner Art und Weise gerecht wird. Sie werden als Mittel zum Zweck einer (Schein-)Normalität missbraucht. Deshalb kommt diese sogenannte Integration einer Würde-Verletzung gleich. Befürworter können sich als Gut-Menschen fühlen, während Kritiker, die sich nicht vorbehaltlos der karitativ-missionarischen Agitation unterwerfen, als Ewig-Gestrige, als abergläubische Menschen, als mit einem antiquierten Denken Versehene, als geistig Unbewegliche diskreditiert werden.

Wir aber meinen: Es gibt eine unendliche Vielfalt menschlicher Daseinsformen und alle sind gleichwertig. Aber nicht alle müssen, können oder sollen gleichartig behandelt, sprich gefördert werden. Die heutige sogenannte Integrationspraxis muss aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt werden. Der Wiederaufbau der Kleinklassen ist schwierig, jedenfalls schwieriger als der Abbruch. Aber im Interesse aller Beteiligten unumgänglich.

 

Dr. Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge, Ethiker

Roland Stark, Heilpädagoge, pens. Sonderklassen- und Kleinklassenlehrer in Pratteln und Basel

 

 

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Ein Kommentar

  1. Die beiden Autoren decken auf, was in der Heilpädagogik schief läuft. Das Wort Integration hat nach der Lektüre des erhellenden Beitrags einen ganz andern Klang. So lassen sich verhaltensauffällige Kinder keinesfalls automatisch besser in eine Standard-Lerngruppe integrieren, wenn Kleinklassen abgeschafft werden. Die als Chancengerechtigkeit gedachten Integrationsmassnahmen erweisen sich vielmehr als teure Rohrkrepierer. Hektische Bahnhofsstimmung in den Regelklassen, verdeckte Ausgrenzung durch chronische Überforderung der Betroffenen, fehlende Konstanz auf der Beziehungsebene und aus dem Ruder laufende Kosten sind die Folgen. Die beiden Autoren schaffen es, mit präzisen Argumenten die unselige Gleichmacher-Ideologie samt ihrem irritierenden Heiligenschein zu entlarven.

    Der Text ist ein Aufruf, die Integrationsfrage endlich aus der Sicht der schulischen Praxis und im Interesse der betroffenen Kinder pragmatisch zu lösen. Schon viel zu lange haben irreführende Schlagworte und wenig praxisnahe Konzepte für pädagogische Verirrungen gesorgt. Jetzt braucht es nur noch die Grösse von Bildungsverantwortlichen, sich von Fehlentwicklungen zu distanzieren und aus den Erfahrungen in den Schulzimmern die richtigen Schlüsse zu ziehen.

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