Goethe oder Google: Wer erklärt uns die Welt?

Mario Andreotti ist schweizweit als hochkompetenter Kenner der Literatur und bissiger Kritiker der aktuellen Bildungsreformen bekannt. Nun hat er ein weiteres Buch herausgegeben mit vielen Beiträgen zur gegenwärtigen Bildungspolitik. Marianne Wüthrich stellt es vor.

Mario Andreotti, Germanist, Kolumnist und Autor
Bild: Verlagshaus Schwellbrunn

«Eine Kultur schafft sich ab», so der wenig erbauliche Titel, den der Sprach- und Literaturwissenschaftler Mario Andreotti für seine Sammlung von Zeitungskolumnen im St. Galler Tagblatt gewählt hat. Leider, muss man hinzufügen, passt diese Überschrift. Und dennoch ist es für die Zeitungsleserin jedes Mal eine Freude, ja sogar ein Hoffnungsschimmer, wenn sie auf eine der prägnanten Kritiken an unserem Bildungssystem stösst. Denn Zehntausende von Lesern können auf diesem Weg erfahren, was in unseren Schulen schiefläuft, beziehungsweise welche fatale Entwicklung in der EDK und den PHs angebahnt wurde. Der Autor lässt es aber nicht dabei bewenden, sondern zeigt auch auf, wo Korrekturen nötig und möglich sind. Auf aufschreckende Fragen wie «Verkümmert unsere Sprache im Internet?» folgen auch Antworten: «Frühdeutsch ist notwendiger als Frühenglisch», zum fatalen Niedergang des Fachs Geschichte erscheint einige Zeit später der Artikel «Warum Geschichte heute wichtiger denn je ist».

Mario Andreotti nennt auch Ross und Reiter, zum Beispiel unter den Titeln «Die verkaufte Bildung: Schule im Sog des Marktes», «Talentförderung: Firmen drängen in die Schule» und er warnt: «Bildung ist mehr als Fitmachen für den Beruf». Die Abkehr von der Methoden- und Lehrfreiheit der Lehrer ist dem Autor – so wie vielen von uns kritischen Beobachtern der unguten Schulreformen – ein besonderer Dorn im Auge: «Verkommt die Schule zur digitalen Diktatur?», «Wie Schulen sanft gesteuert werden». Nicht immer sanft, ist dazu zu bemerken, denn im letzten Text des Buches geht es um die Lehrer, die den Schulen davonlaufen. Besonders wertvoll sind die Kolumnen mit der Bewegung nach vorne: «Was Kinder wirklich brauchen», «Lasst sie wieder unterrichten!» oder die Rückforderung einer humanistischen Bildung anstelle des geschäftigen Tuns isolierter Kinder an ihrem Tablet: «Goethe oder Google: Wer erklärt uns die Welt?»

Wir wünschen Mario Andreotti, den wir auch an Vortragsabenden der «Starken Volksschule Zürich» und der «Starken Volksschule St. Gallen» als hervorragenden Pädagogen kennen- und schätzen gelernt haben, viele interessierte und engagierte Leserinnen und Leser für seine ansprechende und vielseitige Zusammenschau aus der heutigen Bildungslandschaft.

Mario Andreotti: Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache. Verlag FormatOst 2019, 120 Seiten, ISBN 978-3-03895-013-4, Fr. 28.–.

Marianne Wüthrich

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