Deutschland, ein Einwanderungsland? Für Lolita Deriabina ist das keine Debatte, sondern Alltag. Die 28-jährige Lehrerin für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache gibt seit drei Jahren Integrationskurse an einer Schule in Hannover. Und sie ist selbst eine Migrantin: Deriabina zog für ein Master-Studium aus Russland nach Deutschland.

Für Integrationskurse hat der Bund im vergangenen Jahr mehr als 1,2 Milliarden Euro ausgegeben, auch in diesem Jahr sind mehr als eine Milliarde Euro eingeplant. In den Kursen sollen Migranten so gut Deutsch lernen, dass sie selbstständig ihren Alltag regeln und auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Die Sprachtests sind auch Voraussetzung für eine Einbürgerung. Doch diesen Ansprüchen werden die Kurse kaum noch gerecht, berichtet Deriabina. Dennoch laufe das System weiter.
WELT: Frau Deriabina, Sie hatten heute Vormittag noch Unterricht. Was war Thema und wie gut lief der Kurs?
Lolita Deriabina: Im Moment unterrichte ich vormittags einen Jugendintegrationskurs mit 16 Teilnehmern zwischen 20 und 25 Jahren. Im Orientierungskurs nach dem eigentlichen Sprachkurs sprechen wir über die Geschichte und das politische System Deutschlands. Weil bald der Abschlusstest ansteht, haben wir uns die Testformen noch einmal angesehen.
WELT: Die häufigsten Nationen sind laut Bundesamt für Migration Ukrainer gefolgt von Syrern und Afghanen. Wer sitzt in Ihren Integrationskursen?
Deriabina: Aus der Ukraine habe ich dort derzeit nicht so viele Teilnehmer. Meine Schüler sprechen überwiegend Arabisch oder Türkisch. Sie haben keinen Schulabschluss, aber die Möglichkeit, diesen nach dem Integrationskurs nachzuholen oder eine Ausbildung zu beginnen. Aktuell habe ich auch fünf Kolumbianer im Kurs. Außerdem unterrichte ich in einem Abendkurs Erwachsene zwischen 20 und 56 Jahren. Sie kommen aus der Ukraine, Moldawien und Syrien.
Im Integrationskurs wird weder Anwesenheit noch Teilhabe erfasst
WELT: Die Kurse gelten als das Herzstück der Integration und sollen die Teilnehmer auf ein Leben in Deutschland vorbereiten. Gelingt das?
Deriabina: Ich glaube, vor zwei Jahren gelang es uns besser. Als Lehrer führen wir eine Anwesenheitsliste auf Papier. Damals konnte ich eintragen, wann Teilnehmer gekommen und gegangen sind. Heute wird weder Anwesenheit noch Teilhabe erfasst. Es reicht die Unterschrift, dass der Teilnehmer da war. Einige sitzen 30 Minuten im Unterricht und sind dann schon weg. Für den Platz bezahlt wird trotzdem.
WELT: Die Teilnehmer verschwinden einfach?
Deriabina: Nein. Sie finden Ausreden, haben einen Termin oder fühlen sich nicht so gut. Ich würde sagen, 60 Prozent bemühen sich, sind motiviert und arbeiten mit. Der Rest leider nicht. Einige kommen später, gehen früher oder schlafen im Unterricht. Das wird nicht bestraft. Dadurch verlieren auch die anderen ihre Motivation.

WELT: Haben die Anbieter der Kurse, beim BAMF registrierte Sprachschulen, keine Handhabe gegenüber den Unwilligen?
Deriabina: Die Schulen interessieren sich dafür, dass die Teilnehmer in ihrem Kurs bleiben, weil das BAMF sie pro Teilnehmer bezahlt. Manche Schulen verschicken Abmahnungen, einmal, zweimal, dreimal. Aber die Teilnehmer bleiben trotzdem im Kurs und das System läuft weiter. Vor zwei Jahren haben wir tatsächlich zwei bis drei Schüler aus jedem Kurs rausgeworfen, weil sie nicht oder immer wieder später gekommen sind. Heute quasi keinen mehr.
WELT: Warum sitzen so viele Teilnehmer lustlos in ihrem Kurs?
Deriabina: Wahrscheinlich sehen Sie, dass es ziemlich schwer ist, in Deutschland Fuß zu fassen. Für eine sichere Arbeitsstelle braucht man mindestens das Niveau B2, das man erst mit einem Folgekurs nach dem Integrationskurs erreichen kann. Sie haben offenbar wenig Hoffnung, das zu schaffen.
330’000 Ausländer belegten 2024 einen Integrationskurs
WELT: 2024 belegten 330’000 Ausländer einen Integrationskurs in Deutschland. Ein größerer Teil wird aufgrund ihres Aufenthaltstitels oder des Bezugs von Sozialleistungen dazu verpflichtet, andere absolvieren ihn freiwillig. Gibt es Unterschiede zwischen den Teilnehmern?
Deriabina: Diejenigen, die Schwierigkeiten mit ihrem Aufenthaltstitel haben, sind oft die fleißigsten. Sie sollen lernen, den Kurs besuchen, gleichzeitig aber auch zum Anwalt oder zum Jobcenter gehen. Das stresst sie. Diejenigen, die ohnehin nicht viel Lust haben, dürfen problemlos in Deutschland bleiben.
WELT: Welche Rolle spielt das Herkunftsland – insbesondere Länder, die immer wieder im Fokus der Migrationsdebatte stehen wie Syrien, Afghanistan oder Marokko?
Deriabina: Je mehr Teilnehmer ich unterrichtet habe, desto weniger Aufmerksamkeit schenke ich der Nationalität. Jeder ist anders. Ich habe Teilnehmer aus den genannten Ländern unterrichtet, die total nett waren und fleißig mitgearbeitet haben. Und dann solche aus Herkunftsländern, die als vermeintlich zuverlässig gelten wie die Ukraine oder sogar aus EU-Ländern. Und die waren gar nicht motiviert.
WELT: Integrationskurse umfassen 600 Stunden Deutschunterricht und 100 Stunden sogenannte Orientierung zum Leben in Deutschland. Wie viele Teilnehmer bestehen am Ende die Prüfungen?
Deriabina: Die Sprachkurse bestehen nach Angaben des BAMF etwa 58 Prozent. Wenn die Hälfte bestanden hat, ist das gut. Wenn es mehr sind, dann freuen wir uns natürlich.
WELT: Die Teilnehmer sollen den Kurs mit dem Sprachniveau B1 abschließen. Wie gut können die Absolventen tatsächlich Deutsch?
Deriabina: Es ist auch wieder ein gemischtes Bild. Es gibt Teilnehmer, besonders jüngere, die schon selbstständig im Alltag unterwegs sind und erzählen, was sie weiter in ihrem Leben vorhaben. Andere verstehen und sprechen nur sehr wenig Deutsch.
“Teilnehmer haben den Integrationskurs absichtlich nicht geschafft, um erneut teilzunehmen und nicht arbeiten zu müssen. Seit Dezember 2024 ist die Wiederholung nur noch für Teilnehmer von Kursen mit besonderem Förderbedarf möglich.”
WELT: 2024 wurden 114’000 Ausländer erneut vom BAMF zu einem Wiederholungskurs zugelassen, um noch einmal 300 Stunden extra Unterricht zu erhalten. Haben so viele Teilnehmer nicht gut mitgearbeitet oder ist der Kurs tatsächlich so schwer?
Deriabina: Ich denke, dass manche diese 300 Wiederholungsstunden brauchen, um Deutsch zu lernen. Wir hatten in den vergangenen Jahren aber ein anderes Problem: Teilnehmer haben den Integrationskurs absichtlich nicht geschafft, um erneut teilzunehmen und nicht arbeiten zu müssen. Seit Dezember 2024 ist die Wiederholung nur noch für Teilnehmer von Kursen mit besonderem Förderbedarf möglich.
Nachfrage nach gefälschten Sprachzertifikaten
WELT: Für die Integrationskurse wird eigentlich ein Eigenanteil von 2,29 Euro pro Stunde fällig. Wer Sozialleistungen bezieht, ist aber davon befreit. Wie viele Schüler zahlen tatsächlich?
Deriabina: Ich habe nur vier Teilnehmer in einem Abendkurs, die tatsächlich Vollzeit arbeiten und bezahlen. Der Rest bekommt die Kurse komplett bezahlt.
WELT: Sie vermitteln nicht nur Deutsch, sondern Regeln des Zusammenlebens. Erleben Sie auch eine Ablehnung unserer Werte, von der einige Schulleiter oder Erzieher immer wieder berichten?
Deriabina: Ich erlebe es eher als eine Neugier: Warum wohnen Paare zusammen, die nicht verheiratet sind? Wie können zwei Frauen oder zwei Männer verheiratet sein? Ich sage, in anderen Ländern ist die Situation vielleicht anders, aber in Deutschland, in Europa ist das möglich. Auch, wenn man sich damit unwohl fühlt oder es nicht versteht, muss man es tolerieren.
WELT: Im September kam heraus, dass gefälschte Kurs- und Sprachzertifikate über TikTok und WhatsApp zu kaufen sind, die teilweise auch bei Einbürgerungen vorgelegt wurden. Gibt es Teilnehmer, die sich dafür interessieren?
Deriabina: Ja, ich wurde gefragt, ob es möglich ist, so ein Zertifikat auch zu kaufen. Wie wir gesehen haben, ist das möglich. Aber nicht an meiner Schule.
WELT: Was schlagen Sie vor, um das System der Integrationskurse zu verbessern?
Deriabina: Die Anwesenheitskontrollen müssten wieder eingeführt werden. Man könnte auch überlegen, die Lehrkräfte zu verbeamten, weil sie die deutsche Sprache und die deutschen Werte vermitteln. Ich bin bei einem Träger fest angestellt, aber viele Lehrer arbeiten auf Honorarbasis. Das BAMF hat beschlossen, dass fest angestellte Lehrer ab 2026 nur noch 29 Stunden pro Woche unterrichten dürfen, um mehr Zeit für die Vor- und Nachbereitung zu haben. Solche Vorgaben frustrieren viele.

WELT: Und wie könnte auch der Unterricht besser werden?
Deriabina: Wir haben im Orientierungskurs die Möglichkeit für Exkursionen, aber nicht im Sprachkurs. Die Teilnehmer bleiben immer im Raum mit der Tafel. Ich würde gerne mit meinen Kursen rausgehen, ihnen Obst und Gemüse im Supermarkt zeigen und sie mit Verkäufern sprechen lassen. Das ist leider nicht möglich.
WELT: Warum bleiben Sie trotz dieser Hürden in Ihrem Job?
Deriabina: Diese Arbeit mit Menschen macht mir einfach Spaß. Tatsächlich sehe ich auch Ergebnisse. Manche Teilnehmer erreichen viel und finden nach dem Kurs einen Job, in Supermärkten, in Lagern, in der Pflege. Wenn ich sie dann zufällig wieder auf der Straße in Hannover treffe, dann freut mich das.
WELT: Sie leben erst seit Anfang 2022 in Deutschland. Wollen Sie eigentlich bleiben und eingebürgert werden?
Deriabina: Ich hätte es in diesem Jahr gemacht, wenn die Turbo-Einbürgerung nicht abgeschafft worden wäre. Ich habe alle Zertifikate vorliegen und eine feste Stelle. In Hannover bin ich in die CDU eingetreten und möchte mich kommunalpolitisch engagieren. Leider klappt es mit der Einbürgerung dann erst 2027.
Legende Beitragsbild: Lolita Deriabina, eine Lehrerin für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache weiß, was in den Kursen schiefläuft. (Bild: Tatjana Ekimova)
Sebastian Beug ist Redakteur Nachrichten&Gesellschaft bei der WELT

