Maik Philipp ist Professor für Deutschdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Die Lese- und Schreibkompetenz, die Motivation zum Lesen und die Förderung der Lese- und Schreibkompetenzen gehören zu seinen Kernbereichen. Was die schwindende Lesekompetenz von Jugendlichen betrifft, wolle er nicht alarmistisch klingen, betont Philipp. Wir hätten es aber mit einem Problem zu tun, das die Schulen und die Gesellschaft stark herausfordere. Nötig sei ein Masterplan.
BaZ: Schweizer Schülerinnen und Schüler lesen immer schlechter. Wie schlimm ist die Lage konkret, Herr Philipp?
Maik Philipp: Alle drei Jahre erscheint die internationale Pisa-Studie, bei der neben anderen Fähigkeiten auch die Lesefähigkeit geprüft wird. Dabei zeigt sich, dass die Lesekompetenz von 15-Jährigen seit 2012 beständig abnimmt, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen europäischen Ländern sowie im weltweiten OECD-Durchschnitt. Eine zweite aussagekräftige Studie ist die schweizerische Überprüfung der Grundkompetenzen. Was das Lesen betrifft, zeigt sich in beiden Untersuchungen, dass mindestens ein Fünftel bis ein Viertel die Mindestkompetenz nicht erreicht.

Was bedeutet das konkret?
Dass sie es nicht schaffen, in kurzen Texten explizit enthaltene Informationen zu finden und zu verarbeiten. Bei einer Aufgabe im Pisa-Test aus dem Jahr 2000 enthielt beispielsweise ein Text neben anderen Angaben vier Kriterien, die einen guten Sportschuh von einem schlechten unterscheiden. Die Aufgabe der 15-Jährigen bestand darin, diese deutlich im Text genannten Kriterien zu finden. 24 Prozent scheiterten daran. Weitere 24 Prozent erreichten gerade einmal die Mindeststufe. Das heisst, sie fanden zwar die Kriterien für gute Sportschuhe, waren aber nicht in der Lage, die Gesamtabsicht des Textes zu erkennen. Oder sie schaffen es nicht, festzustellen, ob ein Text seriös und die Quelle vertrauenswürdig ist und ob er Widersprüche enthält. Über eine elementare Lesekompetenz kommen also auch diese zweiten 24 Prozent nicht hinaus.
Das heisst, fast die Hälfte der 15-Jährigen haben entweder eine ungenügende oder nur eine rudimentäre Lesekompetenz. Warum schreckt ein derart verheerendes Resultat die Öffentlichkeit nicht stärker auf?
Das Bewusstsein für die Problematik ist unzureichend. Die Pisa-Ergebnisse lösen zwar alle drei Jahre Unruhe aus, doch die Aufmerksamkeit verflüchtigt sich schnell. Wir laufen also sehenden Auges in ein derart schweres Problem hinein, zumal es in Wirklichkeit wahrscheinlich noch grösser ist.
Wie meinen Sie das?
Die von der OECD definierte Mindestkompetenz, die den Pisa-Studien zugrunde liegt, geht zurück auf das Jahr 2000. Das Aufkommen digitaler Medien und die allgemeine Digitalisierung des Lesealltags bewirken, dass die damals definierte Mindestlesekompetenz ein Vierteljahrhundert später wohl nicht mehr ausreicht. Denn die Anforderungen sind nicht kleiner, sondern grösser geworden.
“Wer nicht richtig lesen kann, ist von der Teilnahme an der Schul- und Lebenswelt ausgeschlossen.”
Ist Lesen am Bildschirm anspruchsvoller?
Beim digitalen Lesen ist man oft mit unterschiedlichen Symbolsystemen, audiovisuellen Elementen, beweglichen Grafiken und anderem konfrontiert. Ausserdem ist die räumliche Orientierung schwieriger, man kann sich beim Scrollen gewissermassen verirren. Laut einer grossen gesamteuropäischen Forschungsinitiative, deren Resultate 2018 veröffentlicht wurden, ist das Verständnis von langen Sachtexten schlechter, wenn sie am Bildschirm gelesen werden, besonders unter Zeitdruck. Lesende neigen am Bildschirm dazu, Texte oberflächlicher zu lesen und sie zu “scannen”, anstatt Zeile für Zeile zu verarbeiten. Bedenkt man, wie häufig heute am Bildschirm gelesen wird, ist auch dies kein erfreuliches Resultat.
Haben sich die Schülerinnen und Schüler in anderen Bereichen verbessert? Zum Beispiel im Englischen, weil sie viel Youtube schauen und Videogames spielen?
Selbst wenn es so wäre: Bildung ist kein Nullsummenspiel, dessen Ziel darin besteht, eine Verschlechterung auf der einen Seite durch eine Verbesserung auf der anderen auszugleichen oder gar zu rechtfertigen. Ausserdem nimmt die Lesefähigkeit eine besonders prominente Stellung ein. Wer nicht richtig lesen kann, ist von der Teilnahme an der gesamten textlich geprägten Schul- und Lebenswelt ausgeschlossen.

Die ältere wirft der jüngeren Generation vor, dieses oder jenes nicht mehr richtig zu beherrschen – das war wahrscheinlich schon in der Steinzeit so.
Im Falle des Lesens geschieht dies ja nicht aus reinem Kulturpessimismus heraus. Die empirischen Daten zeigen eindeutig genug: Beim Lesen erbringen zu viele Jugendliche nicht die Leistungen, die sie für den digitalisierten Alltag benötigen, etwa, um mit Desinformation umzugehen. Dieses Defizit können die Bildungsinstitutionen und die gesamte Gesellschaft nicht einfach hinnehmen. Wir müssen uns dringend überlegen, wie wir auf solche Herausforderungen reagieren wollen.
Die Schweiz bildet sich doch so viel ein auf ihr gutes Bildungssystem.
Zumindest für den Volksschulbereich gilt: Wenn das Ergebnis nach jahrelanger intensiver Beschulung so ausfällt, fordert das die Schweizer Selbstwahrnehmung heraus.
Es gibt aber immer noch Jugendliche, die aus eigenem Antrieb lesen.
Natürlich, und das ist gut so. Aber parallel zur Lesefähigkeit sinkt von Kohorte zu Kohorte auch der Anteil der Jugendlichen, die in der Freizeit zu ihrem Vergnügen lesen. Das liegt sicher auch daran, dass es heute unendlich viele andere Möglichkeiten gibt, sich medial zu vergnügen. Aber weil sich Lesefähigkeit und Lesefreude gegenseitig befeuern, kann das dazu führen, dass Jugendliche nicht nur schlechter, sondern auch weniger lesen.
“Lesen ist eine unglaubliche Abstraktionsleistung.”
Was bedeutet eine mangelnde Lesekompetenz für die 15-jährigen Betroffenen konkret?
Jugendliche mit geringer Lesekompetenz können selbstverständlich andere Fähigkeiten mitbringen. Sie können vielleicht überzeugend sprechen und auftreten, zuverlässig sein oder handwerklich geschickt. Aber während ihrer Berufslehre werden sie Informationen aus Texten entnehmen und Prüfungen ablegen müssen. Der Druck, der von mangelnder Lesefähigkeit ausgeht, nimmt dadurch zu und rückt jemanden oft in einem schleichenden Prozess in Richtung Randständigkeit, ohne dass es der Person vielleicht bewusst ist. In Studien gut erforscht sind aber weniger die Nachteile der schlechten als vielmehr die Vorteile der guten Lesefähigkeit.
Welche sind das?
Einzelne Buchstaben zu Wörtern, Sätzen und ganzen Texten zusammenzusetzen und mit Bedeutung zu versehen, ist eine unglaubliche Abstraktionsleistung, deren Komplexität man nicht unterschätzen darf. Personen, die gut lesen können, erbringen darum oft auch in mathematischen oder naturwissenschaftlichen Bereichen bessere Leistungen. Vor allem das Lesen von Belletristik fördert zudem Empathie. Auch ökonomisch hat Lesen eine Dividende: Im Verlaufe ihres Berufslebens haben gute Leser bessere Stellen und verdienen mehr. Sie sind auch gesünder, weil sie schriftliche Informationen über die Gesundheit nutzen und besser verstehen.
Was beeinflusst die Lesekompetenz?
Es gibt drei Hauptfaktoren, die für die Entwicklung der Lesekompetenz eher ungünstig sind. Jugendliche mit geringer Lesekompetenz sprechen zu Hause häufig eine andere als die Schulsprache, haben also einen Migrationshintergrund. Sie kommen überproportional aus ökonomisch benachteiligten und bildungsfernen Familien. Und sie sind häufig männlich, weil Mädchen häufiger als Jungen zum Vergnügen lesen, was ihre Kompetenz steigert. Das sind aber nur die bekannten soziodemografischen Merkmale, die nicht zwangsläufig für jedes Individuum eine schlechtere Leseleistung bedeuten. Und sie erklären auch nicht ausreichend, weshalb die Lesekompetenz bei mehreren Kohorten im Längsschnitt sukzessive abnimmt. Denn dieses Muster betrifft auch Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Muttersprache. Und es tritt auch ausserhalb der Schweiz auf. Der Erwerb der Lesefähigkeit hängt von vielen weiteren Faktoren ab, die sich gegenseitig verstärken oder auch abschwächen können.
Zum Beispiel?
Individuelle Eigenschaften der Schülerinnen und Schüler wie Intelligenz, Wortschatz oder Arbeitsgedächtniskapazität. Die Qualität des Unterrichts ist ein weiterer Faktor – und mit ihm die lesedidaktische Professionalität von Lehrpersonen. Eine inspirierende Person, etwa eine Lehrkraft, kann im Verlaufe einer Lesebiografie selbst bei ungünstigen Voraussetzungen die Begeisterung für das Lesen stark fördern und damit zu literaler Resilienz führen. Den einen ausschlaggebenden Grund für die schwindenden Lesefähigkeiten kann die Forschung der Öffentlichkeit leider nicht bieten. Und es darf kein Blame-Game daraus werden. Vor allem eines scheint mir klar.
“Es bringt nichts, sozioökonomisch schwachen Familien die Schuld aufzubürden.”
Was denn?
Es bringt nichts, sozioökonomisch schwachen Familien, die im Alltag ohnehin schon viele existenzielle Sorgen haben, die Schuld aufzubürden.
Bleiben wir noch einen Moment bei den Ursachen. Als wichtiger, vielleicht sogar entscheidender Grund werden oft Smartphone, soziale Medien und Videogames genannt.
Den digitalen Medien die alleinige Schuld aufzubürden, auch das ist ein wenig zu einfach. Über den Zusammenhang zwischen digitaler Mediennutzung und Lesekompetenz ist die Studienlage bisher alles andere als eindeutig. Einigen Ergebnissen zufolge sind die Auswirkungen digitaler Medien nachteilig, laut anderen trifft das Gegenteil zu. Gegenwärtig versucht man, die Daten zu entwirren. Was ist Ursache, was ist Wirkung, wo gibt es einen Kausalzusammenhang und wo besteht lediglich eine Korrelation?

Wenn das alles so schwierig und widersprüchlich ist – gibt es überhaupt etwas Konkretes, was man tun kann?
Einen sogenannten quick fix, also eine einfache Lösung, die das Problem schnell beseitigt, gibt es sicher nicht. Wir haben es hier mit einer systemischen Anforderung zu tun, die einen Masterplan erfordert. Die Voraussetzung dafür ist, dass sich die Gesellschaft viel stärker bewusst wird, wie gross und dringend der Handlungsbedarf ist.
Und dann?
Im Moment stellt man fest, dass bei vielen 15-Jährigen die Lesekompetenz nicht ausreicht. Es kommt darauf an, jetzt zu reagieren, indem die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten schon viel früher systematisch diagnostiziert und gefördert werden, angefangen bei mündlichen Kompetenzen im Vorschulalter. Um dann in der Primarschule den Schriftspracherwerb planmässig zu verschiedenen Zeitpunkten zu überprüfen, um Defizite früh zu erkennen. Das ist ein langwieriger Prozess, der sehr viele Ressourcen benötigt. Die Frage, die sich stellt, ist hingegen einfach: Wie viel ist uns als Gesellschaft die Lesefähigkeit noch wert?
“KI macht es unmöglich, nachzuprüfen, ob ein Text wirklich vom Schüler stammt.”
Als neues Phänomen kommt die künstliche Intelligenz hinzu. Schülerinnen und Schüler können sich sagen: Warum soll ich noch lesen, wenn mir Chat-GPT die nötigen Informationen herausfiltert und aufbereitet? Warum soll ich noch schreiben, wenn KI das für mich besser erledigt?
Das ist eine zusätzliche Herausforderung. Der Erwerb von Kompetenzen funktioniert nur, wenn man längerfristig viele Lerngelegenheiten wahrnimmt und dabei Schwierigkeiten überwindet. Indem man dies delegiert, schaltet man Situationen des Kompetenzerwerbs systematisch aus. Für Lehrerinnen und Lehrer ist es unmöglich, nachzuprüfen, ob zum Beispiel eine Zusammenfassung von einem Schüler stammt oder von einem Algorithmus.
Das sogenannte Prompten ersetzt Lesen und Schreiben. Als Experte für Deutschdidaktik müssten Sie eigentlich im Kulturpessimismus versinken.
Ich fühle mich noch zu jung für Kulturpessimismus. Die Realität ist, wie sie ist, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, damit umzugehen. Sollen wir stattdessen resignieren: Okay, die KI droht das Schreiben und Lesen zu entwerten und wir finden uns damit ab?
Was wäre ein Lösungsansatz?
Indem Jugendliche einen Text zusammenfassen, zeigen sie, dass sie dessen Essenz verstanden haben. Wenn dies an die KI delegierbar ist, kann ich als Lehrer sagen: Handys weg, ihr fasst den Text jetzt hier im Klassenzimmer zusammen. Da stellt sich allerdings die Frage, wie viel Unterrichtszeit man dafür aufwenden will. Erfolgversprechender scheinen mir andere Varianten.
Zum Beispiel?
Man kann die kognitive Leistung des Zusammenfassens verschieben, indem man sagt: Überprüft, ob die von der künstlichen Intelligenz angefertigte Zusammenfassung überhaupt vollständig, plausibel, sinnvoll und korrekt ist. Und woran macht ihr das fest? Man versetzt die Schülerinnen und Schüler also in die Position des Prüfenden, was ebenfalls eine gute Lesefähigkeit voraussetzt. Das Bewerten von KI-Texten setzt eine hohe Kompetenz voraus, der zielgerichtete Einsatz von KI ist eine Fähigkeit, die Intelligenz bedingt und schulisch vermittelt werden kann. Ich sehe darin eine Chance.
Sind Sie sicher, dass Sie sich jetzt nicht in Zweckoptimismus üben?
Die Fähigkeit, sich lesend und schreibend in einer komplexer werdenden Welt zu orientieren, ist unabdingbar. Neue Entwicklungen fordern uns immer heraus. Kulturpessimismus ist eine schlechte Reaktion darauf. Stattdessen können wir uns seriös mit einer adäquaten Lesedidaktik befassen. Aber das wird angesichts der grossen Herausforderungen einiges an Effort verlangen.
Legende Titelbild:
“Die Resultate der Studien über die Lesekompetenz fordern das Schweizer Selbstbild heraus”: Maik Philipp, Experte für Deutschdidaktik. (Bild: Clara Neugebauer)


Eine notwendige Frage: Haben der Journalist und der Experte den Zusammenhang zwischen dem frühen Fremdsprachenunterricht in der Schule und den dafür geopferten spracherwerbsrelevanten Fächern bewusst unterschlagen?
Das gelesen: “Es kommt darauf an, jetzt zu reagieren, indem die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten schon viel früher systematisch diagnostiziert und gefördert werden, angefangen bei mündlichen Kompetenzen im Vorschulalter. Um dann in der Primarschule den Schriftspracherwerb planmässig zu verschiedenen Zeitpunkten zu überprüfen, um Defizite früh zu erkennen. Das ist ein langwieriger Prozess, der sehr viele Ressourcen benötigt.”
Und das gedacht: Wieso wurde nicht schon vor zehn Jahren reagiert? Zuerst schlafen und dann in Alarmismus verfallen. Und natürlich rollt da eine weitere, teure Testlawine auf uns zu – gut für die PH und deren Experten.
Zu guter Letzt: Wann fühlen sich die PH genötigt, ihren eigenen, beträchtlichen Anteil am Debakel einzugestehen? Stichworte: Schreiben nach Gehör, Verunglimpfung von Diktaten, Lesestrategietraining.
Absolut einverstanden bin ich allerdings mit Herrn Philipp und seiner Einschätzung der Situation: Die ist für ein Land wie die Schweiz nicht tolerierbar.
Genau, Urs. Der Herr Fachhochschul-Professor sollte vielleicht, anstatt nun zu lamentieren, einmal in sich gehen und eruieren, was denn die Fachhochschulen (oder soll ich sagen Schwachhochschulen?) zu genau diesem Problem beigetragen haben in den letzten 12 Jahren. Stichworte dazu wären etwa “Lehrplan (Leerplan…) 21”, “Unkenrufe, wenn es um jegliches Üben geht”, “an den Pranger Stellen des sog. Frontalunterrichtes”, “Lesen durch Schreiben bzw. Schreiben nach Gehör” u. v. a. m.
Die Hochburgen bzw. Brutstätten all der unsinngen Reformen, die das Schulwesen in den letzten Jahrzehnten belastet haben und immer noch belasten, sind – guess who? – genau: die PHs, also Fachhochschulen.