6. Dezember 2025
Ein Plädoyer für das Lehren

Was für eine verkehrte Welt

Condorcet-Autorin Christne Staehelin wollte in der BAZ einen Gastbeitrag publizieren lassen. Die BAZ reagierte nicht. Der Condorcet-Blog profitiert und veröffentlicht dieses überzeugende Plädoyer für das Lehren für unsere Leserinnen und Leser.

Die Erhebungsdaten der in der Nordwestschweiz durchgeführten Check-Tests sowie anderer Leistungstests in der Schweiz sprechen eine klare Sprache. Der Leistungsabfall im Fach Deutsch betrifft insbesondere die Primarstufe, und die Leistungsunterschiede zwischen den Kindern sind gross. Offenbar spielt die soziale Herkunft – wie auch immer sie hier definiert wird – eine grosse Rolle, mehr noch als die Muttersprache, wie bisher vermutet wurde. Daten liefern jedoch keine Ursachen.

Trägt die Schule jedoch dazu bei, dass Herkunftseffekte verstärkt werden, wie die Auswertungen nahelegen, verfehlt sie ihre kompensatorische Aufgabe und trägt zur Verfestigung sozialer Ungleichheiten bei.

Hier beginnt die freie Interpretation. Generell zeigt sich, dass die Gründe dafür einerseits bei den individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler gesucht und andererseits beim Schulsystem vermutet werden. Doch diese beiden Aspekte dürfen nicht getrennt voneinander betrachtet werden. In einer demokratischen Gesellschaft gilt Bildung als zentrales Mittel, um allen Teilhabe zu sichern und ihnen unabhängig von sozialer Herkunft oder Einschränkungen eine aktive Teilnahme am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Trägt die Schule jedoch dazu bei, dass Herkunftseffekte verstärkt werden, wie die Auswertungen nahelegen, verfehlt sie ihre kompensatorische Aufgabe und trägt zur Verfestigung sozialer Ungleichheiten bei. Wenn dieser Trend in den letzten fünf Jahren festgestellt werden kann, stellt sich die Frage, was sich in dieser kurzen Zeit an den Schulen so grundlegend verändert hat, dass sich diese unmittelbaren Auswirkungen zeigen.

Der Lehrplan beschreibt nicht mehr, was vermittelt werden soll, sondern was gekonnt werden muss. Damit einher gehen Unterrichtsformen, die zunehmend auf das sogenannte selbstverantwortliche Lernen setzen.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des baselstädtischen Bildungsrates: Was für eine verkehrt Welt!

Die stärkste Veränderung an den Bildungsinstitutionen betrifft meiner Meinung nach die Verschiebung der Perspektive vom Lehren auf das Lernen. Das zeigt sich zuallererst im Lehrplan 21. Der Lehrplan beschreibt nicht mehr, was vermittelt werden soll, sondern was gekonnt werden muss. Damit einher gehen Unterrichtsformen, die zunehmend auf das sogenannte selbstverantwortliche Lernen setzen: «Von der Unterrichtsentwicklung zur Lernentwicklung», wie es in den Visionen für die Volksschule der Stadt Basel heisst. Die Lehrerinnen und Lehrer stellen Lernangebote bereit, die die Schülerinnen und Schüler wahrnehmen – oder auch nicht. Damit verschiebt sich die Verantwortung für den Bildungserfolg von den Erwachsenen auf die Kinder. Was für eine verkehrte Welt! Wenn die Schule ihre Aufgaben als pädagogische Institution wahrnehmen soll, muss sie die Verantwortung für das Lehren übernehmen. Nicht die Kinder wählen Lernangebote aus, sondern die Erwachsenen vermitteln, was wichtig und bedeutsam ist. Sie führen die Kinder in die Welt ein, indem sie die jüngere Generation für die Sache begeistern, die Freude am Verstehen fördern, mit Bestehendem vertraut machen und die Neugier auf Neues wecken. Das geschieht jedoch nicht mittels sogenannter Lernangebote, die zunehmend nur noch digital verfügbar sind; es sind die Lehrerinnen und Lehrer, die dies vermitteln – Lehren ist eine menschliche Praxis.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lehren als Leitmotiv für Schulen als pädagogische Institution wiedergewonnen werden muss und dass Fragen der Pädagogik, Didaktik und Methodik ins Zentrum gestellt werden sollten. Eine Verschiebung der Verantwortung auf die Schülerinnen und Schüler ist nicht zumutbar, verstärkt bestehende Unterschiede und lässt die Kinder und Jugendlichen letztlich allein. Wozu sollen sie noch lernen, wenn wir als Erwachsene ihnen die Begeisterung für das Wichtige, das Schöne und das Gemeinsame unserer geteilten Welt nicht mehr vermitteln?

 

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2 Kommentare

  1. Im Beitrag wird behauptet, der Lehrplan 21 beschreibe “nicht mehr, was vermittelt werden soll, sondern was gekonnt werden muss”. Damit einher würden Unterrichtsformen einhergehen, “die zunehmend auf das sogenannte selbstverantwortliche Lernen” setzten.
    Diese Aussage ist bemerkenswert und verdient eine Replik.
    1. Solange man nach dem Unterricht den Lernstand der Schüler:innen überprüft, sei es wie bei den Check-Tests oder sei es für Aufnahmeprüfungen, ist es fair, wenn die Schüler:innen wissen, was sie können müssen. Dass man solche Lernziele (nicht Lehrziele) in einem Lehrplan festhält, ist nicht nur innovativ, sondern war schon längst überfällig. Was man den Lehrplanautor:innen allenfalls vorwerfen kann, ist, dass sie es in gewissen Fächern nicht wirklich geschafft haben, Kompetenzausprägungen zu beschreiben. Man merkt dem Lehrplan an, dass von Seiten der Politik während der Entwicklung unnötigerweise udn unprofessionell Druck auf die Autor:innen gemacht wurde.
    2. Die Behauptung, dass die Umsetzung der Ziele des Lehrplans 21 Unterrichtsformen notwendig machte, die selbstständiges Lernen bedingten, ist falsch. Weder kommt der Begriff “selbstständiges Lernen” im Lehrplan 21 vor, noch fordern fachdidaktische Lerntheorien Ähnliches.

  2. Selbstorganisiertes Lernen und langes Arbeiten mit individualisierter Lernsoftware überfordern viele Schüler. Der Lehrplan 21 mit seinen vielen messbaren Kompetenzzielen und der Idee eines stark individualisierten Unterrichts leistet dieser Entwicklung zweifellos Vorschub.

    Dazu kommen gewisse didaktische Strömungen in der Lehrerbildung, welche vom gemeinsamen Klassenunterricht wenig halten. Wo direkte Instruktion verunglimpft und stark auf Eigenverantwortlichkeit gesetzt wurde, liefen oft ganze Klassen aus dem Ruder.

    Didaktische Konzepte mit weitreichender Selbstorganisation sind für Lehrkräfte und Schüler höchst anspruchsvoll. Werden diese Methoden zu früh oder inkompetent angewendet, ist der Schaden meist gross.

    Christine Stähelin hat recht, wenn sie im Lehrplan 21 keinen verlässlichen Kompass für die Grundorientierung unserer Volksschule sieht. Umständlich beschriebene Kompetenzziele, eine Überfülle an möglichen Inhalten und unrealistische Steuerungsvorstellungen haben dazu geführt, dass der Lehrplan kaum konsultiert wird.

    Doch die Schule braucht dringend Antworten zu den zentralen pädagogischen Fragen. Die baselstädtische Bildungsrätin hat diese mit aller Deutlichkeit angesprochen. Sie verdient dafür grosse Anerkennung.

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