Als der Verein Volksschule ohne Selektion vor einem halben Jahr bekannt gab, dass er eine Initiative für einen selektionsfreien Übertritt in die Sekundarstufe 1 lancieren werde, habe ich das kommende Fiasko zumindest im Kanton Bern vorausgesagt. Der Kanton verlangt 16’000 Unterschriften, die innerhalb eines halben Jahres hätten gesammelt werden sollen. Für einen Verein, der nach eigenen Angaben nur 160 Mitglieder zählt – darunter nicht gerade die jüngsten – ein Mammutunternehmen. Zudem hatte es der Verein im Vorfeld verpasst, ein breites Unterstützungskomitee zu «zimmern».

Zumindest den kantonalen Lehrkräfteverband BiBe hätte man einbinden müssen. Dieser aber war sich von Anfang an bewusst, dass die Basis ein solches Vorhaben nicht goutieren würde. Zur Erinnerung: Der LCH führte letztes Jahr eine Umfrage unter seinen Mitgliedern zum Thema der Selektion durch und zog es vor, die Ergebnisse geheim zu halten. Nicht so der kantonale Lehrkräfteverband des Kantons Baselland. Der befragte seine Basis ebenfalls und veröffentlichte die für die Initianten niederschmetternden Ergebnisse [1]. Lediglich 6.6 % der Befragten befürworteten eine selektionsfreie Oberstufe.

Der wichtigste Grund für das kolossale und voraussehbare Debakel war aber die bernische Wirklichkeit der Oberstufenmodelle. Die Gemeinden im Kanton Bern haben nämlich die Möglichkeit, in ihrem Hoheitsgebiet unter 5 verschiedenen Modellen auszuwählen. Von einem streng selektiven Modell bis zu einer vollintegrierten Oberstufe. Sie hätten kleinere Brötchen backen und sich eine Gemeinde mit einer trennenden Gliederung aussuchen können, um dort die Bevölkerung zu überzeugen, diesen Schritt zu wagen.
Grundsätzlich geht der Trend in den Gemeinden schon seit geraumer Zeit in eher durchlässigere Schulmodelle. Diese höchst pragmatische und auch erfolgversprechende Vorgehensweise war den praxisfernen Ideologen allerdings zu wenig. Sie wollten allen Gemeinden ein einziges Modell überstülpen, von den Brennpunktschulen in Biel und Bern bis zu den Kleinstgemeinden wie Twann.
Der Autor dieser Zeilen war immer ein Befürworter eher durchlässiger Strukturen und in den 90-Jahren ein Mitinitiant der Initiative 6/3, die man damals erfolgreich beim Stimmvolk durchbrachte. Und auch später setzte er sich in seinen Wirkungsorten für durchlässige Oberstufenmodelle ein. In Biel entschied sich die Lehrerschaft der Oberstufe Mett- Bözingen vor 8 Jahren für einen Wechsel vom Modell 3a – getrennte Real- und Sekundarschulklassen mit Niveaukursen – zum Modell 3b – Real- und Sekundarschüler gehen in die gleiche Klasse und arbeiten jeweils in Niveaukursen ihren Fähigkeiten entsprechend. Sie überzeugten den Elternrat und die Behörden und konnten dieses Schulmodell bis jetzt sehr erfolgreich umsetzen und verfeinern. Zwei Lehrkräfte waren mit diesem Modell nicht glücklich. Sie kündeten und wechselten in die Gemeinde Aarberg, die ein getrenntes Oberstufenmodell pflegte. Diese Schule geniesst in der Gemeinde und darüber hinaus einen exzellenten Ruf und die beiden waren dort glücklicher. Solche reellen Lösungsmodelle interessierten die ziemlich uninformierten Initianten kaum. In den vielen Versammlungen lud deren Verein jeweils nur «Experten» und Referenten ein, die ihre Haltung vertraten, was zu einer Abnabelung von der Realität und einem gewissen Glaubenseifer führte. Damit haben die Initianten allerdings der Sache selbst einen Bärendienst erwiesen. So besteht die Gefahr, dass die Befürworte selektiver Modelle wieder Auftrieb erhalten.
Für die Berner Schullandschaft, die derzeit mit völlig anderen, sprich profunden Schwierigkeiten zu kämpfen hat (Lehrkräftemangel, Debakel des Frühfranzösisch, Illetrimus, Integration oder sinkende Bildungsqualität) ist das Scheitern dieser unnötigen Initiative allerdings durchaus begrüssenswert. Damit werden wir von einer weiteren ideologisierten Schuldebatte verschont.
[1] LVB-Basis lehnt Volksschule ohne Selektion ab – Mitgliederbefragung zeitigt deutliche Ergebnisse, lvb inform, 2024-25-04


Lieber Alain
Eine profunde Einordnung und Beurteilung dieser unnötigen Initiative. In deinen Zeilen erkennt man(n)/frau den langjährigen Kenner und Praktiker. Solche Personen wie dich braucht es im Kontext der vielen Reformen, welche die Volksschule belasten und den wichtigen Unterricht aus dem Zentrum rücken.
Zum Glück. Es reicht mit dem Reformwahnsinn aus linker Küche.
Lieber Alain
Vielen Dank für deinen Einsatz für durchlässigere Oberstufenmodelle. Diese mindern die Nebenwirkungen der Selektion erheblich, lösen aber deren grundsätzliche Probleme nicht (vgl. Condorset-Artikel vom 20. März 2025).
Gerne möchte ich auf zwei Passagen aus dem LCH-Positionspapier «Für eine chancengerechtere Gestaltung der Selektion» hinweisen:
«Untersuchungen belegen, dass nicht nur die schulischen Leistungen, sondern auch andere Faktoren wie die soziale und wirtschaftliche Situation der Familie sowie individuelle Faktoren der Schülerinnen und Schüler beeinflussen, in welches Anforderungsprofil Schülerinnen und Schüler im Zyklus 3 eingeteilt werden. Dies widerspricht dem Grundsatz der Chancengerechtigkeit, wonach allein die persönliche Leistung zählen sollte. Solche Einteilungen sind sowohl für das betroffene Individuum als auch für die gesamte Gesellschaft nachteilig.»
Weiter hält der LCH fest: «Untersuchungen zeigen, dass unpassende schulische Zuteilungen und eingeschränkte Durchlässigkeit individuelle wie auch volkswirtschaftliche Nachteile verursachen.»
Diese Feststellungen zeigen klar: Die Selektion ist weder gerecht noch effizient. Umso erstaunlicher, dass der LCH dennoch daran festhält – wohl, um Konflikte mit den eigenen Mitgliedern zu vermeiden.
Bemerkenswert ist auch, dass ursprünglich ein umfassendes Faktenblatt geplant war. Weil die Ergebnisse wohl zu deutlich gegen die Selektion gesprochen hätten, begnügte man sich mit einem weicheren Positionspapier.
Wie dem auch sei: Der VSoS wird sich – wie du – weiterhin für eine gute Volksschule einsetzen.
Mit freundlichen Grüssen
Hanspeter Stalder