5. Dezember 2025
Populationsbiologie

“Überproduktion von Eliten begleitet von einer Verarmung der Massen kann zu Chaos führen”

Im Westen gibt es immer mehr junge Menschen mit Hochschulabschluss. Das entwertet die Diplome. Ihr wirtschaftlicher Nutzwert ist in vielen Ländern gleich null. Warum das zu einer zerstörerischen Dynamik führen kann, erklärt der Populationsbiologe Peter Turchin in einem Interview, das zuerst in LE FIGARO erschienen ist und von der WELT übernommen wurde.

 

Der russisch-amerikanische Wissenschaftler Peter Turchin ist Populationsbiologe. Heute modelliert er mathematischen Modelle zur Erklärung historischer Prozesse. In seinem Buch “End Times – Elites, Counter-Elites and the Path of Political Disintegration” (Endzeit: Eliten, Gegeneliten und der Weg der politischen Desintegration) analysiert er den Zerfall politischer Ordnungen anhand von Bevölkerungsdaten. Für Europa und die USA hat er eine gefährliche Tendenz festgestellt, die dem Trend vor den Revolutionen des 19. Jahrhunderts erschreckend ähnelt.

WELT: In Frankreich liegt derzeit die Erfolgsquote beim Abitur bei rund sechsundneunzig Prozent. Dasselbe Phänomen ist auch im akademischen Bereich feststellbar: 40 Prozent der 25- bis 34-Jährigen haben einen Bachelor-Abschluss oder sogar mehr, während es bei den 55- bis 64-Jährigen nur 16 Prozent sind. Ist diese Tendenz auch in den übrigen Ländern der westlichen Welt feststellbar? Und warum ist das so?

Peter Turchin: Es stimmt, es handelt sich hier um eine generelle Tendenz, die in einem Großteil der westlichen Länder festzustellen ist. So ist der Anteil der Absolventen weiterführender Schulen, die anschließend die Universität besuchen, von fünfzehn Prozent in den 1950er-Jahren auf über sechzig Prozent in den 2020er-Jahren gestiegen. Dieser Zuwachs wird oft mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel erklärt – also dem Übergang von einer industriellen zu einer auf Wissen basierenden Wirtschaft –, der zu einem größeren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften geführt hat.

“Zyklus der Instabilität”: Populationsbiologe Turchin (Bild: Peter Turchin/Wikipedia CC by 4.0)

 

Er ist jedoch auch das Ergebnis von politischen Entscheidungen, die den Zugang zu höherer Bildung verbessern wollen, sowie eines kulturellen Wandels, der eine Hochschulbildung mit einem sozialen Aufstieg und persönlicher Entfaltung verbindet. Doch wie ich in meinem Buch „End Times“ erklärt habe, bin ich der Meinung, dass dieser Wunsch, der Verarmung zu entgehen, die sich im Verlauf der letzten vier oder fünf Jahrzehnte entwickelt hat, einen zusätzlichen Antrieb darstellt, und zwar einen sehr mächtigen.

WELT: Wird der symbolische, vor allem aber der Marktwert dieser Diplome nicht dadurch beeinträchtigt?

Turchin: Selbstverständlich. Je mehr Diplome es gibt, desto geringer ist ihr Wert, symbolisch wie wirtschaftlich. Was früher noch eine ganz besondere Auszeichnung war, gilt nun als Mindestvoraussetzung. Das führt zu einer Inflation der Diplome, und man benötigt immer höhere Qualifikationen, um ein und dieselben Posten zu bekommen. Der wirtschaftliche Nutzwert eines Universitätsabschlusses ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte gesunken und liegt heutzutage praktisch bei null. Und was sind die Folgen von alledem? Eine hochdiplomierte Generation junger Menschen, die oft verschuldet ist, nur noch über begrenzte wirtschaftliche Perspektiven verfügt und dementsprechend entmutigt ist.

WELT: Es liegt also ein Risiko in dieser Massenbildung und dem derzeitigen Zugang zu Hochschulabschlüssen?

Turchin: Genau, und das Hauptrisiko liegt in dem, was ich die “Überproduktion von Eliten” nenne. Wenn immer mehr Menschen einen Hochschulabschluss schaffen und damit große Hoffnungen verknüpfen, die Anzahl der Arbeitsplätze, die für diese Eliten vorgesehen sind – prestigeträchtige Jobs, politische Mandate sowie Posten an großen Universitäten – jedoch nicht in demselben Maß ansteigt. Das hat eine enorme Konkurrenz zwischen den Eliten zur Folge, die zu einem Schneeballeffekt der Unzufriedenheit bei denjenigen führt, die sozial zurückfallen. Einige dieser Menschen werden dann zu Kontra-Eliten, die die Legitimität der bestehenden Institutionen infrage stellen. Im Laufe der Geschichte war diese Dynamik oft ein Hauptfaktor für politische Instabilität, zum Beispiel vor den Revolutionen von 1848.

Je mehr Diplome es gibt, desto geringer ist ihr Wert, symbolisch wie wirtschaftlich. Was früher noch eine ganz besondere Auszeichnung war, gilt nun als Mindestvoraussetzung.

 

WELT: Könnte der Frust der Eliten die Verärgerung der Massen am unteren Ende der sozialen Pyramide noch intensivieren?

Turchin: Natürlich. Eine große Anzahl von frustrierten Personen, die sich vom elitären Status ausgeschlossen fühlen, radikalisiert sich in politischer Hinsicht. Diese Kontra-Eliten kanalisieren die Unzufriedenheit der Menschen, indem sie zu Anführern oder Organisatoren von radikalen Bewegungen werden, und zwar sowohl der Linken als auch der Rechten. Diese Kombination einer Überproduktion von Eliten und der Verarmung der Massen entwickelt sich dann zu einer explosiven Dynamik.

Eugénie Boilait, Journalistin bei LE FIGARO

Der Aufstieg Trumps – und noch größeren Bewegungen in den Vereinigten Staaten und anderswo – kann übrigens durchaus als Folge eines derartigen doppelten Drucks angesehen werden. Auf der einen Seite haben wir die wachsende Gruppe der frustrierten Eliten und Kontra-Eliten, die die bestehende politische Ordnung ablehnen. Auf der anderen Seite die Arbeiter- und die Mittelklasse, die wirtschaftlich unter Druck stehen und sich kulturell ausgegrenzt fühlen. Trump hat es geschafft, beide für seine Zwecke zu nutzen: indem er den Randgruppen Status und eine Stimme angeboten und gleichzeitig die traditionellen Institutionen untergraben hat. Das ist ein Phänomen, das nicht nur in den USA zu finden ist. Es gehört zu einem größeren demografischen und strukturellen Zyklus der Instabilität.

WELT: Inwiefern kann es innerhalb einer Gesellschaft zu einem destabilisierenden Faktor werden?

Turchin: Wenn diese Überproduktion an Eliten gleichzeitig mit einer Massenverarmung und einer zunehmenden Schwächung des Staates einhergeht – durch unkontrollierte Verschuldung und nicht mehr vorhandenes Vertrauen in die Institutionen –, dann ist das ein idealer Nährboden für Instabilität. Man erkennt eine zunehmende politische Polarisierung, es gibt Demonstrationen, immer mehr Terrorismus, gewaltsame Ausschreitungen und wachsende Unterstützung für autoritäre oder systemkritische Personen. Historisch gesehen gingen derartigen Zeiten erheblicher Instabilität meist große Umwälzungen voraus: Revolutionen oder auch Bürgerkriege. Und auch wenn die Auswirkungen von Land zu Land unterschiedlich sind, so sind sich die zugrunde liegenden Dynamiken doch auf beunruhigende Art und Weise ähnlich.

WELT: Ist Chaos unter diesen Bedingungen unvermeidlich?

Turchin: Nein, unvermeidlich ist das Chaos nicht, es wird jedoch zu einem tatsächlichen und ständig wachsenden Risiko, wenn der ursächliche strukturelle Druck nicht vermindert wird. In zehn bis fünfzehn Prozent der historischen Fälle, die wir untersucht haben, konnten sich die Eliten schließlich doch einigen und Reformen beschließen, die die Krise letztendlich entschärft haben, und zwar ohne Bürgerkrieg oder eine größere Revolution. Der Schlüssel liegt in der Erkenntnis, dass es sich um systematische Probleme handelt, die wiederum systematische Lösungen erfordern. Werden diese jedoch ignoriert oder die Symptome nicht behandelt, beschleunigt das den Kurs in Richtung Zusammenbruch des Staates.

 

Dieser Artikel erschien zuerst bei “Le Figaro”, wie WELT Mitglied der Leading European Newspaper Alliance (Lena). Übersetzt von Bettina Schneider.

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