10. April 2025
Zum Tod von Peter Bichsel: ein pädagogisches Postskriptum

«Mein Lehrer hat mich zum Schriftsteller gemacht»

Kaum eine Tageszeitung, kaum eine Wochenpublikation, die Peter Bichsel und sein literarisches Schaffen nicht gewürdigt hat: als politischen Poeten, als Kolumnisten, als bundesrätlichen Redenschreiber. Seltsam wenig war vom pädagogischen Denker Bichsel zu hö-ren. Eine persönliche Erinnerung von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Es gibt Bücher, die gehen unter die Haut; sie bleiben darum im Gedächtnis. Ein Leben lang. Zu ihnen zählt das schmale Bändchen mit sieben «Kindergeschichten».[i] Sie wurden zum literarischen Evergreen, wie es der Literat Peter von Matt ausdrückt. Daraus trug der junge Peter Bichsel auf Einladung der Literarischen Gesellschaft Zug vor. Das war 1969. Die Redaktion der damaligen Zuger Nachrichten hatte mich «zum Schreiben» geschickt. «Amerika gibt es nicht. Peter Bichsel liest aus eigenen Werken», so überschrieb ich den kleinen Beitrag für die Zuger Lokalpresse.

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Mit «Was wäre, wenn?»-Fragen die Welt betrachten

Noch heute erinnere ich mich an den Abend im Gotischen Saal des Stadtzuger Rathauses, noch heute habe ich Peter Bichsels näselnde Stimme im Ohr, höre ich seine schlanken, schlichten Sätze, lausche ich seiner legendären literarischen Miniatur «Ein Tisch ist ein Tisch». Bichsel las seine «Kindergeschichten», ganz einfache, mit ganz gewöhnlichen Titeln: «Die Erde ist rund», «Der Mann mit dem Gedächtnis», «Jodok lässt grüssen». Doch ist das ganz einfach? Oder steckt dahinter nicht viel mehr?

Bichsel ist getrieben von der Sehnsucht nach einem ursprünglichen Betrachten der Welt. Es gleicht den Fragen eines Kindes; so legt er es uns nahe. Das Kind im Essay «Die grammatikalische Zukunft» will am Mittwoch von seiner Mutter wissen: «Was wäre, wenn Donnerstag wäre?» Die ungeduldige Mama kann mit der Frage nichts anfangen und reagiert unwirsch: «Frag nicht so saudumm.» Doch der Erzähler kommentiert: «Vielleicht weiss das Kind, oder ahnt es, dass die Frage unbeantwortet ist. Vielleicht will es nichts anderes, als seine Mutter ins Unbeantwortbare verlocken, ins Absurde, ins Konjunktivische, ins ‹Was-wäre-wenn›».[ii] Die naive Kinderfrage nach der Fiktion. Denn nur das Denken des Unmöglichen erweitere die Basis des bewusst Anerkannten, so Bichsel. Kinder lebten in Fragen, Erwachsene in Antworten, sagt er im gleichen Essay.

Bichsels Blümchen als Dichtersignatur

Wie gerne haben meine Primarschüler sie später gelesen, diese kurzen Kindergeschichten: herrliche Geschichten für Erwachsene auch – Klassiker der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Sie führen Kleine wie Grosse ins Nachdenken. Über Fragen der Zeit. In skurrilen Sequenzen verbergen sich poetische Meditationen über den Menschen in den Bedingungen seiner Tage. Unter Leichtem und Heiterem, hinter Launigem und Schrulligem versteckt sich Ernstes, Schweres, Schwieriges. Es sind kurze Texte in einfacher Sprache und mit epischer Kraft. Ohne Zufälliges, ohne Verlegenes, ohne Erzwungenes.

Unvergessen, wie Peter Bichsel sie damals (vor-)gelesen, unvergessen auch, wie er signierte. Er beliess es nicht einfach bei seiner Unterschrift und dem Namen des Zuhörers, nein, er zeichnete noch eine Art Blume dazu. Die dünne Pflanze wurzelt in etwas Erdigem. Über die Seite wächst sie empor. Bichsels Blümchen «blüht» noch heute; das Papier dagegen ist längst vergilbt.

Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel: Ich könnte ihr Kleid noch heute beschreiben.

Bichsels pädagogische Leitfrage

1955 wird der 20-jährige Bichsel Volksschullehrer im Kanton Solothurn. Und so erzählt er auch von Pädagogen, denen es gelingt, im Leben eines anderen Menschen Anlass zu sein, dass dieser zu dem wird, der er ist. Da ist beispielsweise seine Erstklasslehrerin: «Ich erinnere mich noch sehr deutlich an meinen ersten Schultag. Ich erinnere mich, wie ich mich augenblicklich in meine Lehrerin verliebte: für mich die einzige Erklärung dafür, dass ich kein Schulversager wurde. Ich könnte ihr Kleid noch heute beschreiben.»[1]

Und da ist vor allem Kurt Hasler. Von ihm berichtet Bichsel: «Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. […] Ich habe ihn geliebt.»[2] Dieser Lehrer, so Bichsel, sei der einzige gewesen, der seine Aufsätze gut fand. Er habe ihn ermutigt, an sich selbst zu glauben.[3] Der berühmte Pygmalion-Effekt! Vielleicht des Lehrers wichtigster Beitrag zur Entfaltung eines menschlichen Lebens.

In seinen Geschichten ist ja immer die Annahme enthalten: Die Welt lässt sich nicht einfach in Information verwandeln, sie lässt sich nicht einfach verarbeiten und verwalten – und auch nicht auf schulische Arbeitsblätter reduzieren. Nein, man muss sie erzählen.

Kinder brauchen Geschichten

Für Peter Bichsel bedeutsam bleibt – wen erstaunt’s? – das Erzählen. In seinen Geschichten ist ja immer die Annahme enthalten: Die Welt lässt sich nicht einfach in Information verwandeln, sie lässt sich nicht einfach verarbeiten und verwalten – und auch nicht auf schulische Arbeitsblätter reduzieren. Nein, man muss sie erzählen. Nur so würde das Widerständige der Wirklichkeit sichtbar: Bichsel Verständnis von Erzählen als einer widerständigen Handlung, wie es der Zürcher Hochschullehrer für Literatur, Philipp Theisohn, ausdrückt.

Bichsel ermutigt zum Erzählen – ähnlich wie beispielsweise der Lernpsychologe Hans Aebli. Der Berner Hochschullehrer zählt das «Erzählen und Referieren» zur ersten seiner zwölf Grundform des Lehrens.[4] Sie sind in der heutigen Pädagogik nahezu verdrängt und vergessen. Ihr Wert aber bleibt. Bichsels Botschaft und Aeblis wissenschaftliche Analyse erinnern daran. Menschen haben Geschichten gern – und sie brauchen Geschichten. Gute Geschichten. Das gilt auch für die Schulkinder.

Etwas pointiert formuliert, meint der Erzähler Bichsel gar, man könne auch die Grammatik erzählen. Man müsse sie nicht pauken. Er ist vom Bedeutsamen des Erzählens überzeugt – auch im Unterricht.

… denn schon längst sind sie zu Bildungsvollzugsbeamten geworden», konstatiert er, «und die Kinder [seien] keine Schüler mehr, sondern Vollzogene».[5]

Wenn Lehrer zu Bildungsvollzugsbeamten werden

Und immer wieder denkt der Lehrer-Dichter Peter Bichsel über die «Verführung» zum Lernen nach, und über den Stoffdruck, dem sich Lehrpersonen ausgesetzt sähen. Das habe Folgen – auch für die Kinder und die natürliche menschliche Lernwilligkeit. Leicht ginge sie verloren. „Ich bin – vorbereitet durch ältere Kameraden, vorbereitet durch meine Mutter – als Lernwilliger in die Schule gegangen. Aber man liess mir in der Schule nicht einmal das Erlebnis des Lernens. Ich habe das Lernen, auf das ich mich so freute, nicht bemerkt, weil man glaubte, mich mit Spielchen, Klebförmchen, mit Äpfelchen und Birnchen zum Lernen verführen zu müssen.»

Zu viele Inhalte in zu kurzer Zeit. Ohne die notwendige Musse, ohne das so wichtige Verweilen. Auch «die Schullehrer [litten] unter dieser «professionellen Bildungshysterie […], denn schon längst sind sie zu Bildungsvollzugsbeamten geworden», konstatiert er, «und die Kinder [seien] keine Schüler mehr, sondern Vollzogene».[5]

Der Dichter als Seismograph und präziser Beobachter pädagogischer Wirklichkeit? Bichsels Worte wären bedenkenswert.

[1] Ebda., S. 15

[2] In: DIE ZEIT, 24.06.2021, S. 17

[3] So erzählt es Bichsels Dichterfreund Franz Hohler, der in Olten den gleichen Primarlehrer hatte, zeitlich allerdings etwas versetzt, in: „Mit ihm stirbt ein spezifisches Stück Literatur“. NZZ, 18.03.2025, S. 30.

[4] Hans Aebli (2011), Zwölf Grundformen des Lehrens Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte didaktischer Kommunikation, der Lernzyklus. 14. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 33ff.

[5] Peter Bichsel (2015), Kinderarbeit im Bildungsvollzug, in: Ders., Über das Wetter reden. Kolumnen 2012-2015. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33f.

[i] Peter Bichsel (1969), Kindergeschichten. Neuwied und Berlin: Luchterhand Verlag.

[ii] Ders. (1985), Schulmeistereien. Darmstadt: Luchterhand Verlag, S. 7

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