10. Dezember 2024

Besondere Zeiten als stetiges Déjà-vu

Professor Dr. Ralf Lankau betreut die Webseite der Gesellschaft für Bildung und Wissen in Deutschland und arbeitet eng mit der Condorcet-Redaktion zusammen. Er warnt eindringlich vor den Gefahren einer ungebremsten und nicht hinterfragten Digitalisierung und sieht im Condorcet-Blog einen wertvollen Bündnispartner.

Allen Aktiven des Condorcet-Blogs ein Dankeschön zum Einjährigen

Ralf Lankau, GBW, Professor HS Offenburg

Es sind besondere Zeiten, in die diese Ein-Jahresfeier des Condorcet-Blogs fällt. Eine Pandemie legt weltweit das Wirtschafts- und Kulturleben ebenso lahm wie soziale Einrichtungen und nahezu das gesamte öffentliche Leben. Ausgeh- und Kontaktverbote erzeugen zwangsläufig Berufs- und Konsumverbote, erzwingen das Schließen der Schulen (Unterrichtsverbote) und führen zum Verlust der kulturellen Angebote. Damit fehlt nicht nur der Resonanzraum der Öffentlichkeit für das Individuum, sondern auch der Lebensraum demokratischer Gemeinschaft. Öffentlichkeit und Diskurs sind die Grundlage freiheitlicher, gleichberechtigter und selbstbestimmter Gesellschaften, die ein Auskommen im Einvernehmen suchen. Der Beginn des zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fühlt sich daher an wie eine Dystopie. Über 70 Jahre Frieden und Wohlstand (zumindest in den westlichen Ländern Europas) sind für uns so „normal“, dass die Gefährdungen des demokratischen Fundaments durch gesellschaftliche und/oder technische Entwicklungen nicht wahrgenommen oder, falls sie doch bemerkt werden, nicht „für wahr“ genommen werden. Wir sind – wieder einmal, was wohl eine Frage des Alters ist – mitten im Umbruch, diesmal algorithmisch berechnet.

Warum sehen wir nicht, was offensichtlich ist?

Orwellianische Staatsüberwachung in China

Die Frage: „Warum sehen wir nicht, was offensichtlich ist?“, könnte auch die Ausgangsfrage des Condorcet-Teams gewesen sein. Warum sehen wir nicht, dass unsere Gesellschaften und Sozialeinrichtungen umgebaut werden nach den technischen Anforderungen der Datenökonomie, nach den Parametern des „unbeschränkten Digitalkapitalismus nach amerikanischem Vorbild einerseits und orwellianischer Staatsüberwachung in China andererseits “, wie es der deutsche Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier auf dem Deutschen Kirchentag 2019 in Dortmund klar formulierte? Eine Bundespräsidentin oder einen Bundespräsidenten gibt es in der Schweiz in dieser Form nicht, wie ich beim Recherchieren für diesen Textes gelernt habe. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft kennt weder Staatsoberhaupt noch Regierungschef. Diese Funktion wird vom gesamten Bundesrat als Kollegium wahrgenommen, ein Mitglied jeweils für ein Jahr zur Präsidentin, zum Präsidenten gewählt. Möglicherweise ist dieses Kollegialitätsprinzip in der Schweizer Politik eine der Grundlagen des Erfolges der Condorcet-Teams: die Bereitschaft und der Wille zu Argument und Diskurs.

Das spiegelt sich in den Beiträgen in den Kontroversen und ist die zentrale Qualität der Texte: Man traut der Leserin, dem Leser das Selberdenken zu.

Sophie de Condorcet: Wer sich heute auf sie beruft, gilt als Aussenseiter.

Das spiegelt sich in den Beiträgen in den Kontroversen und ist die zentrale Qualität der Texte: Man traut der Leserin, dem Leser das Selberdenken zu. Wer heute von Liberalität und Offenheit für die Meinungen auch des politisch Andersdenkenden spricht, wer sich dabei auf den liberalen Aufklärer Jean-Marie de Condorcet (1743- 94) und seine Frau, Sophie de Condorcet (1764 – 1822) beruft, ist in einer ach so individualisierten und ach so konsumgesättigten Welt eher Außenseiter. Doch braucht es die Wenigen, die sich den Mut des Selbstdenkens als Angebots zum Selberdenken bewahren, den Mut zur Kontroverse aufbringen, um in einer zunehmend „smarten“, sprich algorithmisch optimal berechneten Welt mental und menschlich zu überleben. Danke dafür.

Professor Dr. Phil Ralf Lankau HS Offenburg

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Vorbemerkung: Der Klimastreik unserer Jugendlichen – eine kontroverse Debatte, auch im Bildungsblog

Seit Jahren arbeiten Alain Pichard, GLP-Mitglied und Mitherausgeber des «Einspruch» und Georg Geiger, Gymnasiallehrer und Mitglied der Vereinigung «Denknetz» in den Fragen der gegenwärtigen Schulreform zusammen.  Kennen- und schätzen gelernt haben sie sich vor Jahren an einer Veranstaltung der GBW und entdeckten sofort ihre Gemeinsamkeiten: Kritik an der Ökonomisierung, der Standardisierung und der Vermessung unseres […]

Widersprüchliche Entscheide, fragwürdige Entwicklungen: Warum das ÜGK-Fiasko nicht nur Zufall ist

Lange hat die Redaktion des Condorcet-Blogs auf einen Artikel des brillanten Schreibers Roger von Wartburg, Sekundarlehrer und Präsident des Basellandschaftlichen LehrerInnenvereins LVB, warten müssen. Nun ist er da. Roger von Wartburg gibt einen Überblick über die vergangenen Jahre der Reformkaskaden und stellt fest: Viele Reformen waren wirkungslos, andere sogar schädlich, vor allem aber erstaunen ihn die massiven Widersprüche. Die Redaktion ist sich einig: Dieser Text ist ein hervorragender Abschluss eines erfolgreichen Jahres und eignet sich bestens als Lektüre für einige geruhsamere Tage.

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Dezemberausgabe 2019).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert