3. Dezember 2024
Tagung der Ostschweizer Kinderärzte in St. Gallen zum Thema „Lerncoach oder Bandenchef“

Keine falsche Pädagogik sondern die Absenz jeglicher Pädagogik

Unsere Condorcet-Autorin Christine Staehelin trat zusammen mit dem Bochumer Professor Ricken in Rahmen der Veranstaltungsreihe der Ostschweizer Kinderärzte in St. Gallen auf. Alain Pichard war dabei und verliess die Veranstaltung mit einem wohl unerfüllbaren Wunsch.

Die Veranstaltungsreihe der Ostschweizer Kinderärzte ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Einerseits lässt die Tatsache aufhorchen, dass hier seit Jahren fachfremde Berufsleute – nämlich Kinderärzte – eine Bildungsreihe organisieren, andererseits gelingt es den Organisatoren immer wieder, namhafte und profilierte Persönlichkeiten für einen Auftritt zu gewinnen. Und ebenso auffallend ist auch, dass gerade zu bildungspolitisch umstrittenen Themen auch Leute eingeladen werden, die einen prononciert anderen Kurs verfolgen als die Allianz von Wissenschaft, Verwaltung und Politik.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Wonach wird nicht gefragt?

So traten denn auch des Öfteren Condorcet-Autoren wie Jochen Krautz, Carl Bossard, Beat Kissling oder Walter Herzog an diesen Podien auf. Am Mittwoch, den 25. September kam diese Ehre Christine Staehelin zu. Als Primarlehrerin in Basel-Stadt hätte man nun erwarten können, dass sie uns einige Dinge aus ihrer tagtäglichen Praxis erzählt und die Rolle der wissenschaftlichen Einordnung dann vom Herr Professor vorgenommen wird.

Diese stereotype Annahme wurden von der Referentin nicht erfüllt. Christine Staehelin ist zwar seit 37 Jahren Primarlehrerin, hat aber daneben noch Erziehungswissenschaften (bei Prof. Reichenbach) studiert, wirkte als wissenschaftliche Mitarbeiterin im LCH und ist auch im Basler Bildungsrat vertreten. Sie verfügt daher auch über umfangreiche Kenntnisse in der Bildungsforschung und ist in der Lage, die bildungspolitischen Postulate wissenschaftsbasiert und kritisch zu analysieren.

Das Thema war die Individualisierung des Unterrichts, eines der vielen Zauberworte der gegenwärtigen Bildungsdebatte. Staehelin begann zuerst mit drei Fragen:

  • Warum wird gefragt?
  • Wonach wird gefragt?
  • Wonach wird nicht gefragt?

Warum gefragt wird, ist klar: Traditionelle Klassenzimmer verschwinden, an deren Stelle treten Lernräume, so genannte Lernlandschaften, die das individualisierte Lernen ins Zentrum stellen. Gleichzeitig verschwinden damit auch die Lehrerinnen und Lehrer, sie werden zu Lerncoachs, welche Lernprozesse begleiten, Lerntechniken und Lernstrategien vermitteln und individuelle Coachinggespräche führen. Tieferliegende Begründungen gehen dahin, «dass sich gleichzeitig die Heterogenität in den Klassen aufgrund der integrativen Schule vergrössert hat. Lehrerinnen und Lehrer haben zunehmend das Gefühl, nicht mehr allen gerecht werden zu können. Individualisiertes, selbstorganisiertes und eigenverantwortliches Lernen in Lernlandschaften kann als mögliche Antwort auf diese Herausforderungen gesehen werden.»

Die Idee des selbstorganisierten Lernens suggeriere eine nicht vorhandene Freiheit der Schülerinnen und Schüler, die in Wirklichkeit in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen.

Das bedarf einer zwingend neuen Rolle der Lehrkraft. Gefragt sind fortan Lerncoaches, die den Lernprozess moderieren, wohlmöglich mit Hilfe digitaler Algorithmen. Was ist ein Lerncoach? Per offizieller Definition tritt er  stets in Verbindung mit Lernlandschaften auf, d.h. mit einer Unterrichtsform, bei welcher neben Inputlektionen das selbständige Lernen im Zentrum steht.

«Neben der Fokussierung auf das Lernen wird den Schülerinnen und Schülern hier sehr viel zugemutet, indem die Mündigkeit, welche eigentlich das Ziel von Bildung und Erziehung ist, hier bereits als Voraussetzung gegeben wird.»

Gnadenlos sezierte Staehelin die Widersprüchlichkeit dieser pädagogisch geklitterten Neusprechhülsen: «Neben der Fokussierung auf das Lernen wird den Schülerinnen und Schülern hier sehr viel zugemutet, indem die Mündigkeit, welche eigentlich das Ziel von Bildung und Erziehung ist, hier bereits als Voraussetzung gegeben wird.»

Die Idee des selbstorganisierten Lernens suggeriere eine nicht vorhandene Freiheit der Schülerinnen und Schüler, die in Wirklichkeit in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen.

Der Grund liege in der Asymmetrie der Lernorganisation, die ja nicht verschwindet.

Das interessante, was die Forscherinnen herausfanden, ist, dass in den Coachinggesprächen in Tat und Wahrheit irritierende Umformungen von pädagogischen Praktiken stattfinden.

Und so  «bleibt deshalb die Frage, inwiefern die Schule noch eine pädagogische Institution bleibt, wenn die Verantwortung für das eigene Fortkommen zunehmend an die jüngere Generation übergeben wird und wenn so getan wird, als wüsste diese selbst am besten, was für sie gut ist und als könnte sie tatsächlich frei darüber entscheiden, wie sie sich verhalten und was sie gerne lernen würde.»

Die Folgen sind dementsprechend verheerend. Staehelin stellte dazu die Studie von Hangartner und Fankhauser vor, die untersuchten, was geschieht, wenn Lehrerinnen und Lehrer zu Lerncoaches werden. Dabei wurden fünf Schulen untersucht, welche auf ein Schul- und Unterrichtssetting setzen, das die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler ins Zentrum stellt. «Die Berater sind zum Zuhören verpflichtet. Nur, wenn der Lerncoach in erster Linie zuhört, worin liegen dann die Ziele des Gesprächs? Sind sie tatsächlich ergebnisoffen? Ist es tatsächlich so, dass die Lerncoachs nicht auch in irgendeiner Form auf die Schülerinnen und Schüler einwirken wollen? Was sagen sie, wenn ein Schüler sagt, er habe einfach keine Lust auf Lernen? Auf das Lösen von Aufgaben? Er komme zu spät, weil er am Morgen so müde sei. Er könne sich nicht konzentrieren, darum könne er auch nicht länger an einer Aufgabe dranbleiben.»

Christine Steaehelin, Mitglied des Basler Bildungsrates, Primarlehrerin, studierte Erziehungswissenschaften.

Das interessante, was die Forscherinnen herausfanden, ist, dass in den Coachinggesprächen in Tat und Wahrheit irritierende Umformungen von pädagogischen Praktiken stattfinden.

Aus einem Befehl wird ein Vorschlag: Könntest du dich selbst etwas mehr unter Druck setzen?

Einwirkung versteht sich als Unterstützung: Ich fände es gut, wenn du beim nächsten Mal alle Unterschriften rechtzeitig einholen würdest.

Zielvorgaben verstehen sich als Angebote: Es werden Aufgaben bereitgestellt, welche die Schülerinnen und Schüler lösen können, doch am Ende wird erwartet, dass alle diese am Ende der Woche gelöst haben.

Am Schluss beschreiben die Autorinnen, dass „der Coach auch im intimen Zweiergespräch eine Autorität bleibt“.

Zusammenfassend könnte man sagen, das zwar so getan wird, als würde ein horizontales Gespräch mittels einer symmetrischen Beziehung angestrebt, doch die Realität zeigt, dass die Asymmetrie bestehen bleibt, auch wenn so getan wird, als handle es sich hier um ein Gespräch unter Gleichen. Mit anderen Worten, es sind keine Lerngespräche, es handelt sich vielmehr um MAG’s, in denen es um reine Anpassungsleistungen geht, um konformes Verhalten im Sinne der Bildungsideologen und ganz sicher nicht um inhaltliche Substanz, um das Verstehen oder das Erkennen von Lösungen.

Christine Staehelin endet mit der Feststellung: Hier handelt es sich nicht um eine «falsche Pädagogik» sondern um die Absenz jeglicher Pädagogik.

Und der Chronist dieser Veranstaltung verlässt den Saal mit einem wohl unerfüllten Wunsch. Möge doch so ein Referat einmal im Rahmen einer PH-Vorlesung stattfinden.

Im 2. Teil stellt uns Alain Pichard die Thesen von Professor Dr. Norbert Ricken vor, der im Anschluss an Christine Staehelin sein Referat hielt.

 

 

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Ein Kommentar

  1. Es ist die allumfassende Bankrotterklärung jeglicher Bildungsvermittlung und ein protokollliertes “sich vom Felde machen” der eigentlich Verantwortlichen, die als Erwachsene eben nicht erwachsen handeln, sondern kindisch.

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