29. April 2024
Nach der PISA-Studie

Es reicht nicht, das Smartphone zu verteufeln

In der zunehmenden Bildschirmzeit ist die vermeintliche Schuldige für die verbreitete Leseschwäche gefunden. Die beiden Journalistinnen der Tamedia, Mirjam Comtesse und Naomie Jones gehen verschiedenen Thesen nach, um am Schluss festzustellen: Es ist kompliziert.

Der Aufschrei nach Bekanntgabe der jüngsten Pisa-Ergebnisse im Dezember war gross. Die Lesefähigkeiten der Jugendlichen in der Schweiz wurden als “besorgniserregend” bis hin zu “erschreckend” eingeschätzt.

Mirjam Comtesse, Journalistin Tamedia.

Gemäss der Studie erreichen 25 Prozent der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler das geforderte Mindestniveau im Lesen nicht. Das heisst, ein Viertel kann nicht “Informationen in einem einfachen Text finden und mithilfe des eigenen Wissens Schlüsse ziehen”. Was sind die Gründe dafür? Wir haben fünf der am häufigsten genannten Thesen auf ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt geprüft.

These 1: Mehr Kinder haben einen Migrationshintergrund

Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine besuchen Intensivdeutschlektionen, um später in eine Regelklasse wechseln zu können. (Bild: Keystone)

Die Migration hat zwar in den vergangenen Jahren zugenommen, doch es ist nicht klar, ob es einen Zusammenhang mit der Leseleistung gibt.

Aber der Reihe nach: Seit dem Pisa-Test 2015 ist der Anteil der 15-Jährigen gestiegen, die “höchstens einen ganz einfachen Text verstehen und interpretieren” können. 2015 gehörten erst 20 Prozent der Jugendlichen zu dieser Kategorie, 2018 waren es 24 Prozent und jüngst eben bereits 25 Prozent.

Vergleicht man nun den Anteil der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz mit Migrationshintergrund, dann kommt man auf eine ähnliche Entwicklung. Das Bundesamt für Statistik hält fest, dass der Anteil kontinuierlich zugelegt hat: von rund 36 Prozent im Jahr 2015 auf aktuell 40 Prozent.

Naomie Jones, Journalistin Tamedia

Es würde jedoch zu kurz greifen, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Migration der alleinige Grund für das schlechtere Abschneiden im Pisa-Test ist. “Von Messung zu Messung verändert sich die Schülerpopulation stark”, sagt der Berner Bildungsökonom Stefan Wolter.

Das heisst, man müsste auch untersuchen, welchen sprachlichen Hintergrund die Migrantenkinder haben – vielleicht sind es in bestimmten Jahren besonders zahlreiche aus Deutschland – und ob ihre Eltern eher gebildet oder weniger gebildet sind. All das beeinflusst die Testresultate. Solange diese Angaben fehlen, ist keine verbindliche Aussage möglich.

These 2: Kinder verbringen zu viel Zeit am Bildschirm

Am Bildschirm lesen die Jugendlichen zwar, aber nur oberflächlich.

Rund 3 Stunden und 14 Minuten verbringen die Jungen durchschnittlich pro Tag im Internet. Am Wochenende sind es gar fünf Stunden, wie aus der James-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) von 2022 hervorgeht.

Wie die Zahl der Jugendlichen, die Mühe mit Lesen haben, hat auch die Zeit, die Jugendliche wöchentlich am Bildschirm verbringen, in den letzten zehn Jahren zugenommen: um mehr als 13 Stunden. “Das ist Zeit, die fehlt, um ein Buch zu lesen”, sagt Saskia Sterel von der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Nicht verteufeln, aber vertiefendes Lesen leidet

Sie möchte die neuen Medien nicht verteufeln. Jugendliche würden auch am Bildschirm lesen: etwa Nachrichten, Chats oder Informationen zu einem Thema, das sie interessiere.

Trotzdem hat das digitale Lesen einen negativen Einfluss auf die Lesefähigkeit. Laut der amerikanischen Leseforscherin Maryanne Wolf fördert es das Überfliegen von Texten. Dabei verlernen auch geübte Erwachsene das vertiefende Lesen, bei dem sie in eine fremde Gedankenwelt eintauchen.

Gerade für das Leseverständnis sei Übung besonders wichtig, sagt die Pädagogin Saskia Sterel. So entwickle sich in einem Roman die Geschichte über eine längere Zeit. “Geübte Lesende halten diese Unsicherheit aus, ungeübte geben auf.”

These 3: Eltern lesen nicht mehr so oft vor

Auch Eltern lesen vermehrt digital. Das Kind bekommt das Märchen auf Youtube vorgelesen.

Für das Lesenlernen sind Vorbilder wichtig. Doch Eltern lesen immer seltener vor. Gemäss dem Vorlesemonitor der deutschen Stiftung Lesen ist die Zahl der Eltern, die ihren Kindern mehrmals pro Woche vorlesen, zwischen 2014 und 2022 um neun Prozent gesunken. In der Schweiz dürfte die Situation ähnlich sein.

Jugendliche, die am Pisa-Test teilnehmen, sind bereits 15 Jahre alt und somit älter als die in der deutschen Studie untersuchten Kinder. Doch die Zahlen des Vorlesemonitors zeigen einen gesellschaftlichen Trend. Gemäss dem Vorlesemonitor haben 2022 aber immer noch 60 Prozent der Eltern von Kindern zwischen zwei und acht Jahren regelmässig vorgelesen.

Laut Barbara Jakob vom Schweizer Institut für Kinder- und Jugendmedien (Sikjm) ist allerdings nicht nur die abnehmende Zahl vorlesender Eltern ein Problem.

Viele Eltern würden mit dem Vorlesen aufhören, wenn das Kind in der Schule selber lesen lerne, sagt sie. “Das ist fatal.” Lesenlernen sei für das Kind sehr anstrengend. Gerade Kinder, die Geschichten liebten, weil ihnen oft vorgelesen worden sei, seien frustriert, wenn sie beim Selberlesen nicht mehr rasch genug vorwärtskämen.

These 4: Schulen animieren zu wenig zum Lesen

Ein Schüler der 1. Klasse schreibt mit Holzbuchstaben. Der Fachkräftemangel könnte ein mitbestimmender Faktor bei der Leseleistung sein.

Ein Schüler der 1. Klasse schreibt mit Holzbuchstaben. Der Fachkräftemangel könnte ein mitbestimmender Faktor bei der Leseleistung sein.

Einen direkten Beweis gibt es nicht, aber es liegt nahe, dass der Fachkräftemangel bei Lehrerinnen und Lehrern die Leseleistung von schwächeren Schülerinnen und Schülern negativ beeinflusst.

Zwar haben zahlreiche Schulen im Kanton Bern spezielle Angebote eingeführt, um das Lesen zu fördern – Klassen gehen zum Beispiel regelmässig in die Bibliothek, im Schulzimmer liest jedes Kind zu bestimmten Zeiten still für sich, und manche Schulen veranstalten auch Vorlesewettbewerbe.

An vielen Schulen fehlt ein verbindliches Konzept.

Doch die Lehrpersonen kämpfen an zahlreichen Fronten. “Die Rahmenbedingungen sind schwieriger geworden”, sagt Verena Pisall, Dozentin am Institut Primarstufe der PH Bern. Sie meint damit grosse Klassen, mehr Integration, Fachkräftemangel, viel Administration. Angesichts all dieser Herausforderungen drohen vor allem schwächere Schülerinnen unterzugehen.

An vielen Schulen fehlt ein verbindliches Konzept – im besten Fall mit einem fächerübergreifenden Programm zur Leseförderung vom Kindergarten bis zur 9. Klasse. Das würde helfen, damit weniger Kinder durch die Maschen fallen.

Pisall erklärt: “Sonst kann es passieren, dass die Lehrperson zwar feststellt, dass ein Kind nicht so gut liest, sie aber denkt: Es gibt gerade grössere Baustellen. In den höheren Klassen kann man dann ja weiterschauen.”

These 5: Heute werden höhere Lesefähigkeiten verlangt

Die Ansprüche sind tatsächlich gestiegen, doch der Pisa-Test dürfte diese Entwicklung höchstens zu einem Teil spiegeln. Denn letzten Endes misst er einfach, wie gut Jugendliche am Ende der obligatorischen Schulzeit lesen können. Es ist kaum möglich, den Schwierigkeitsgrad der Pisa-Testfragen miteinander zu vergleichen. Bei der Entwicklung über die Jahre sieht man aber den Versuch, die komplexer werdende Internetwelt abzubilden.

So müssen die Jugendlichen in der Ausgabe 2018 verschiedene Antworten in einem Onlineforum lesen und daraus die richtigen Informationen heraussuchen. Dies setzt nicht nur flüssiges Lesen voraus, sondern auch schnelles Unterscheiden zwischen Wichtigem und Unwichtigem.

Diese Fähigkeiten sind mit der Digitalisierung wichtiger geworden. “Das macht es allen, die Mühe mit Lesen und Schreiben haben, noch schwerer”, sagt Tonja Bollinger. Sie ist Sprecherin des Schweizer Dachverbands Lesen und Schreiben.

Mangel an Lehrpersonen geht zu Lasten der Schwächeren

Es gibt offensichtlich nicht eine einzige Ursache für die verbreitete Leseschwäche. Das Smartphone als harte Konkurrenz um Aufmerksamkeit ist sicher ein Faktor. Es absorbiert nicht nur Zeit, die dann zum Lesen fehlt, es verändert auch, wie wir Informationen aufnehmen: in kurzen Häppchen, mit vielen Unterbrüchen. Das ist dem langen Atem abträglich, den es braucht, um komplexe Texte zu lesen.

Doch die Digitalisierung ist nicht der einzige Grund. Daneben wirkt sich auch der Mangel an Lehrpersonen – allen voran Heilpädagoginnen – aus, die den Schwächeren helfen könnten. Gemäss dem Berufsverband Bildung Bern zeichnet sich der Fachkräftemangel seit den Nullerjahren ab. Seine Auswirkungen auf die Leseleistung könnten sich also durchaus in den neueren Pisa-Tests zeigen.

Ein genauer Blick auf die Resultate bestätigt den Verdacht, dass unter der mangelnden Unterstützung vor allem diejenigen leiden, die sich ohnehin schon schwertun. Die durchschnittliche Leseleistung der Schweizer Jugendlichen hat nicht abgenommen – nur der Anteil derer ist gestiegen, die selbst mit einfachen Texten Mühe haben. Das gleiche Phänomen zeigt sich bei den Mathematik-Kenntnissen. Dieses zunehmende Ungleichgewicht sollte uns Sorgen bereiten.

 

Mirjam Comtesse hat Zeitgeschichte, Politikwissenschaft sowie Deutsche Literatur studiert und arbeitet als Redaktorin im Ressort Bern. Ihre Schwerpunkte sind Bildungspolitik und Religion. 

Naomi Jones ist Redaktorin im Ressort Bern. Sie schreibt vorwiegend über Bildung. Aber immer gerne auch über Umwelt, Politik, Themen aus der Agglomeration oder über Tagesaktuelles.

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Ein Kommentar

  1. Die beiden Autorinnen haben der Komplexität des Themas weitgehend Rechnung getragen. Die Einflüsse auf das Leseverhalten von Kindern in den Lebensbereichen ausserhalb der Schule sind überzeugend aufgeführt worden. Im Schulbereich hingegen sind die Antworten, weshalb die Schwächsten dermassen abgehängt worden sind, nur teilweise befriedigend. Leider wird nicht erwähnt, dass durch das Mehrsprachenkonzept der Primarschule die Bildungsziele aufgesplittert und vor allem bildungsferne Kinder mit ausländischen Wurzeln stark überfordert werden. Wenn diese Kinder neben Deutsch noch Französisch und Englisch gleichzeitig lernen müssen, kommen viele nicht mehr mit. Aber auch Schüler mit deutscher Muttersprache spüren die Kürzungen an Übungszeit im Deutsch und den schleichenden Abbau beim deutschfördernden Realienunterricht.

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