20. Dezember 2024
Schulsystem in der Krise

Warum der Pisa-Studienleiter mit Deutschlands Lehrern hart ins Gericht geht

Schleicher-Schelte und kein Ende. OECD-Bildungsdirektor Schleicher leitet die Pisa-Studie – und nimmt sich die Lehrer in Deutschland vor: Sie seien gut bezahlt, unterrichteten aber weniger als der Durchschnitt. Er stellt einen zentralen Unterschied zu Lehrkräften in Ländern mit größerem Erfolg fest. Auch von China könne man lernen. Die Welt-Journalistin Sabine Menkens führte mit Andreas Schleicher ein Interview, das wir hier gerne aufschalten.

Seit 2002 leitet Andreas Schleicher als Bildungsdirektor die Pisa-Studie, die alle drei Jahre im Auftrag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt wird. Der 59-Jährige gilt als scharfer Kritiker des deutschen Bildungssystems.

WELT: Herr Schleicher, Sie sind als Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) der Erfinder und Leiter der internationalen Schulleistungsstudie Pisa. Der Deutsche Philologenverband fordert jetzt, die Teilnahme Deutschlands an Pisa auszusetzen, solange Sie die Studie leiten. Grund ist Ihre scharfe Kritik am Berufsstand der Lehrer. Was ist da los?

Gastautorin Sabine Menkens, Journalistin WELT

Andreas Schleicher: Festzuhalten ist: Die Resultate für Deutschland sind sehr enttäuschend. Es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, sonst wird sich auch in Zukunft nichts verbessern. Kein Bildungssystem kann besser sein als seine Lehrkräfte.

WELT: Sie haben unter anderem beklagt, dass zu viele Lehrer nur Befehlsempfänger seien, die stumpf den Lehrplan abarbeiten und daran scheitern, Schülern das selbstständige Denken beizubringen. Warum diese pauschale Lehrerschelte?

Schleicher: Bleiben wir doch zunächst bei den Beobachtungen. Wir sehen, dass der Lehrerberuf in Deutschland sehr gut bezahlt ist und die Arbeitsbelastung im Mittelfeld der OECD Staaten liegt. Lehrkräfte in Deutschland unterrichten nicht mehr, sondern weniger Stunden als im OECD-Durchschnitt.

Gleichzeitig sehen wir, dass Schüler in Deutschland oft gut sind bei der Reproduktion von Fertigwissen, aber es schwer haben, ihr Wissen kreativ auf neue Themenfelder anzuwenden. Das zählt heute aber. Und da braucht man ein Unterrichtsdesign, das kreativer, interessanter und spannender ist als bisher. Stattdessen arbeiten wir immer noch nach alten Lehrplänen. Das funktioniert heute so nicht mehr. Die Google-Welt belohnt uns nicht mehr für Antworten, sondern fürs Fragenstellen.

Andreas Schleicher (Bild: picture alliance/photothek/Janine Schmitz)

 

WELT: Provokant gefragt: Sind deutsche Lehrer dümmer, fauler oder weniger innovativ als in anderen Ländern?

Schleicher: Dazu macht Pisa keinerlei Aussagen, wir schauen dort auf die Schülerleistungen. Und da sehen wir große Leistungsdefizite und eine sehr ungerechte Verteilung von Bildungschancen. Das hat viele Gründe, aber das, was im Unterricht passiert, ist Teil dieser Baustelle.

WELT: Sind aus Ihrer Sicht also die Lehrkräfte daran schuld, dass die deutschen Schüler bei Pisa so schlecht abschneiden?

Schleicher: Noch einmal, wir sehen bei Pisa das Gesamtergebnis, das von vielen Faktoren beeinflusst wird, es geht also nicht um Schuldzuweisungen. Aber natürlich hat das, was Schüler können und wissen, damit zu tun, was im Klassenzimmer passiert. Ich will das keinem einzelnen Lehrer vorwerfen. Man muss objektiv sehen, dass Lehrkräfte in Deutschland weniger Gestaltungsfreiheit haben als zum Beispiel in Dänemark oder den Niederlanden.

Ich glaube aber auch, dass sie ihre vorhandenen Freiräume nicht so intensiv nutzen wie die Kollegen in anderen Ländern. Die Arbeitsorganisation ist in Deutschland immer noch sehr vertikal ausgerichtet. In Ländern wie Estland, Singapur oder Dänemark sitzen die Kollegen anschließend noch im Team zusammen und beraten gemeinsam über bestimmte Schülergruppen und lernen auch voneinander. Sie kennen ihre Schüler meist auch besser.

WELT: Wie kommen solche Unterschiede zustande?

Schleicher: Viel hat schon mit dem Rollenverständnis zu tun. Lehrkräfte sind heute auch viel mit sozialen Problemen konfrontiert. Man hört dann oft den Vorschlag, dass die Schulen mehr Sozialarbeiter brauchen.

Lernerfolg und Disziplin im Klassenzimmer sind immer auch eine Folge der Qualität von Beziehungen.

 

In vielen erfolgreichen Ländern begreifen sich die Lehrkräfte nicht nur als Wissensvermittler, sondern auch als Coach, Mentor und Sozialarbeiter. Sie verbringen mehr Zeit mit ihren Schülern außerhalb des Klassenverbandes. Dadurch kennen sie ihre Schüler besser und wissen, wie sie sie auf ihrem Weg begleiten können. Das macht sehr viel aus. Lernerfolg und Disziplin im Klassenzimmer sind immer auch eine Folge der Qualität von Beziehungen.

WELT: Viele Lehrkräfte beklagen, dass Schule nicht der Reparaturbetrieb der Gesellschaft sein kann. Sie behaupten offensichtlich das Gegenteil. Warum?

Schleicher: Die Anforderungen und Erwartungen an das Schulsystem und den Lehrerberuf verändern sich – so wie das in jedem anderen Job auch der Fall ist. Schulen sind die Institutionen, die sich die Gesellschaft geschaffen hat, um junge Menschen auf diese Welt vorzubereiten. Das müssen sie auch leisten, und in diesen Bemühungen muss sie das Bildungssystem entsprechend unterstützen.

WELT: Dazu bräuchte es aber vermutlich auch mehr Personal. Wie soll das gehen beim derzeitigen Lehrermangel?

Schleicher: Wenn Deutschland beim Personal schlechter gestellt wäre als leistungsfähigere Bildungssysteme, würde ich sofort zustimmen. Dem ist aber nicht so. Der Lehrerberuf ist einer der anspruchsvollsten Berufe überhaupt, und er ist auch schwieriger geworden.

Die Schulen mit den größten Herausforderungen sollten die besten Lehrkräfte bekommen. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt.

 

Aber einfach nur mehr vom Gleichen wird es nicht bringen. Wir müssen wie in allen anderen Berufen gut überlegen, wie wir Zeit und Personal effizient einsetzen. Das bedeutet vor allem: Die Schulen mit den größten Herausforderungen sollten die besten Lehrkräfte bekommen. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt.

WELT: Hier landen die besten Lehrer an den Gymnasien in den bürgerlichen Vierteln…

Schleicher: Ganz genau. Deshalb brauchen wir hier mehr Steuerung und attraktive Anreize, um Ressourcen effizient einzusetzen. Die internationalen Vergleiche zeigen, dass es Bildungssysteme gibt, die mit Herausforderungen wie der Zuwanderung besser umgehen als wir. In Kanada lernen Flüchtlingskinder innerhalb von zwei Jahren Englisch und Französisch.

WELT: Der Philologenverband kritisiert unter anderem, Sie lobten die Schulsysteme autoritärer Staaten wie China und redeten so dem Missbrauch schulischer Bildung durch totalitäre Systeme das Wort. Was entgegnen Sie?

Schleicher: Das ist absolut nicht der Fall. Wir schauen auf die Bildungssysteme mit guten Leistungen und schauen, was sie erfolgreich macht. Da können wir von Bildungssystemen wie China und Singapur ebenso lernen wie von Estland und Portugal.

Darf man schulische Bildung durch totalitäre Systeme wie jenes in China auch als Vorbild nehmen?

WELT: Was machen die Lehrkräfte in den Staaten, die bei Pisa gut abschneiden, denn besser?

Schleicher: Zum einen wenden die Lehrkräfte meist viel mehr Zeit dafür auf, ihre Schüler richtig kennenzulernen. Die Qualität der Schüler-Lehrer-Beziehung ist ein wichtiger Faktor. In den leistungsfähigsten Bildungssystemen definieren die Lehrkräfte ihr Rollenverständnis so, dass sie dafür da sind, Schülern aller sozialer Schichten zu helfen. Sie glauben fest daran, dass alle Kinder lernen können. In diesen Systemen gelingt es auch, die besten Lehrkräfte für die schwierigsten Schulen zu gewinnen, indem sie Anreize und Karrierepfade schaffen, um diese Leute zu motivieren, die schwersten Herausforderungen anzunehmen.

WELT: Mehr Geld also?

Schleicher: Auch das, ja. Man kann durchaus anerkennen, dass nicht jeder den gleichen Job macht. Es gibt aber noch einen dritten Punkt. In den leistungsfähigsten Bildungssystemen ist die soziale Rolle des Lehrers in der Gesellschaft eine andere. Meistens gibt es viele Bewerbungen auf eine Lehrerstelle, weil es ein spannender Beruf ist, der in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat. Das rührt daher, dass die Lehrkräfte auch außerhalb der Schule sichtbar sind, weil sie regelmäßigen Kontakt mit den Eltern haben und auch in die Erziehungsarbeit eingebunden sind. Meist ist die Ausbildung hier auch praxisnäher. In Finnland zum Beispiel werden die Studierenden in der Praxisphase ausgesiebt.

In den leistungsfähigsten Bildungssystemen ist die soziale Rolle des Lehrers in der Gesellschaft eine andere.

 

WELT: Woran liegt es, dass Lehrkräfte in Deutschland keine so hohe Wertschätzung in der Gesellschaft haben? Wird in den Verbänden zu viel gejammert?

Schleicher: Die Lehrerverbände tun sich damit jedenfalls keinen Gefallen. Wer seinen eigenen Berufsstand ständig infrage stellt, wird sein Ansehen kaum heben.

WELT: Philologen-Verbandschefin Susanne Lin-Klitzing sagt, sie habe kein Vertrauen mehr in die seriöse Interpretation der Pisa-Daten durch Sie. Sie hätten der empirischen Bildungsforschung Schaden zugefügt.

Schleicher: Die Pisa-Daten sind frei verfügbar, jeder kann sich damit auseinanderzusetzen. Möglicherweise kann man sie auch unterschiedlich interpretieren. Dieser Diskurs ist sehr wichtig. Aber es ist ein großer Vorteil, dass wir diese Diskussion heute nicht mehr auf Grundlage von Ideologie oder persönlichen Meinungen führen müssen, sondern aufgrund von empirischen Daten.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Die feine Art des Widerstands

Das Umsetzungskonzept zum Integrationsartikels des Kantons Bern in der Gemeinde Orpund wurde von einer nicht unterrichtenden Fachperson geschrieben, enthielt fünf Seiten, wurde von der Schulkommission abgesegnet und den Lehrkräften als Beschluss mitgeteilt (nicht zur Beschlussfassung, notabene). Die erste der fünf Seiten enthielt nur Abkürzungen und deren Erklärungen (insgesamt 22 Übersetzungen). Ein älterer Kollege verfasste daraufhin eine Stellungnahme, der im Kollegium zustimmendes Schmunzeln, beim Schulkommissionspräsidenten einen Lachanfall und bei den Integrationsfachleuten der Bildungsverwaltung betretenes Schweigen auslöste.

Von der denkenden Hand

Handy statt Notizheft hiess es lange, Tastatur statt Stift, Bildschirm statt Papier. Die Handschrift hatte es schwer. Das Digitale machte sie überflüssig. Doch das Denken geht auch über die Hand. Verschiedene Länder haben das erkannt und setzen wieder auf Bücher und Bleistift. Gedanken von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Ein Kommentar

  1. Ich hab den Artikel nicht gelesen. Ich habe das auch nicht vor, als überbezahlter Lehrer mit zu viel Freizeit. Aber vielleicht interessiert es ja einen anderen . . . .

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert