23. November 2024
Ein Abend mit Allan Guggenbühl

Eine halbchaotische Institution, die viel Kreativität und wenig Steuerung braucht

Es war die Starke Volksschule Zürich, welche zu einem Referat mit dem Psychologen und Psychotherapeuten Allan Guggenbühl eingeladen hatte. Die etwa 50 Anwesenden erlebten ein Feuerwerk geistreicher Analysen und verblüffend einfacher Erkenntnisse. Condorcet-Autor Alain Pichard war dabei.

Natürlich hat der bekannte Ausbildner und Autor zahlreicher Fachbücher und Artikel zu den Themen Konfliktmanagement, Gewaltprävention, Bildung sowie Jungen- und Männerarbeit ein Heimspiel. Vor den 50 eher älteren Zuhörerinnen und Zuhörern wirkt der auch schon in die Jahre gekommene Referent spritzig, ja fast jugendlich. Der Vater von vier Kindern – das wird sofort klar – weiss, wovon er spricht. Kaum einer kennt die Jugendlichen in ihren Nöten und Bedürfnissen besser, und in der Gilde der Psychologen ist er – der ständig nah an der Praxis ist – schon fast seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen.

Allan Guggenbühl in Zürich bei einem Referat der Starken Volksschule Zürich: PH’s schaffen sich eine eigene Definitionsmacht

Guggenbühl kommt denn auch sofort zur Sache. Die Schule sei derzeit auf einer falschen Bahn. Ein Heer von Erziehungswissenschaftlern versucht seit ca. 15 Jahren, die Schule top-down von oben zu gestalten und umzuformen. Das erweise sich als schwierig, weil die Schule sehr schwierig zu steuern sei. Es handle sich hier um eine halbanarchische Institution mit vielen chaotischen Färbungen.

Die Arbeit in dieser Institution erfordere viel Kreativität, im Moment gehe aber gerade diese in einem auf Kompetenzen getrimmten Unterricht verloren. Der ehemalige Gitarrenlehrer weist darauf hin, wie wichtig die Vermittlung eines Kulturkanons sei, betont beispielsweise die Bedeutung des Singens. «Singen ist ein Teil der Arbeit, schon die Arbeitenden auf den Baustellen oder auf dem Felde pflegten früher zu singen.» Heute liest man im Lehrplan zur Musik Sätze wie: «Kann seinen Körper funktionell wahrnehmen und musisch darauf reagieren.»

Alle 10 Jahre kämen von den Pädagogischen Hochschulen neue Trends. Was bleibe, seien – vor allem auf der Oberstufe – demotivierte Schüler.

Skeptisch beurteilt der Referent auch die Tendenz, die Schule zu einem Erziehungsort verschiedener gesellschaftlicher Anliegen zu machen. Das führe meist ins Leere und zu einer Überfrachtung des Schulprogramms.

Guggenbühl – nun ganz in seinem Element – betont die Wichtigkeit der Klassengemeinschaft. Es sei für die Kinder wichtig dazuzugehören, denn die Schüler orientierten sich an Menschen. Die Rede von der kompletten Individualisierung sei ein Blödsinn. Die Idee des selbsttätigen Schülers, der alleine schon aufgrund der Tatsache, dass er selbst entscheiden könne, woran er arbeite, vor lauter Lernfreude explodiere, sei ein Betrug an den Lernenden. Man lerne in der Gemeinschaft und man lerne, weil die anderen es auch tun. Die Lehrkraft – am besten ein verantwortlicher Klassenlehrer oder eine selbstbewusste Klassenlehrerin – sei hier zentral. Sie müsse belastbar und risikofreudig sein, hinstehen, wenn es nötig ist, und auch Mut zur Emotion zeigen. Die Persönlichkeit des Lehrers sei ein zentraler Gelingensfaktor. Der Einzug der vielen zusätzlichen Bezugspersonen im Klassenzimmer führe zu einer Verantwortungsdiffusion.

Hingabe und Mut zur Emotion – die Lehrperson hat eine zentrale Bedeutung.

Kritisch geht er auch mit den Lernzielen in Sachen Sozialkompetenz ins Gericht. Für einen Lacher sorgte Guggenbühl, als er von einem Experiment an einer Schule erzählte, in der die Schüler den Unterricht hielten und die Lehrpersonen die Lernenden waren. «Sie können sich kaum vorstellen, wie oft die Lehrkräfte zu spät in den Unterricht kamen, wie undiszipliniert sie sich während der Lektionen verhielten.»

Hart ins Gericht geht Guggenbühl auch mit den Pädagogischen Hochschulen, die sich immer mehr eine eigene Definitionsmacht von Schule schaffen würden.

Es gibt Kritiker, die Guggenbühl eine gewisse Intellektuellenfeindlichkeit vorwerfen. Das hat auch mit dessen Referatstechnik zu tun. Guggenbühl untermauert seine Thesen immer wieder mit Praxisbeispielen und Anekdoten – positiven und negativen – und verzichtet gänzlich auf Literaturhinweise oder Quellenangaben. Es gilt die freie Rede ohne Manuskript. Es fallen verblüffende Sätze, deren Evidenz man dennoch überprüfen sollte. So behauptet Guggenbühl, dass die Anwesenheit einer zweiten Lehrperson sofort die Aufmerksamkeit beider Lehrkräfte auf die Schüler reduzieren würde. Da würde man gerne erfahren, welche Untersuchung dies belegt.

«Es wird in der Schule noch nie so viel Papier produziert wie heute und noch nie so wenig gelesen».

Hart ins Gericht geht Guggenbühl auch mit den Pädagogischen Hochschulen, die sich immer mehr eine eigene Definitionsmacht von Schule schaffen würden. Die würden aber in separaten Räumen fernab der schulischen Realität kreiert, gefüttert von ständig fliessenden Forschungsmitteln. Sie entwickelten sich damit immer mehr zu Playern der Bildungssteuerung. «Die obligatorische Weiterbildung gehört abgeschafft, es braucht mehrere Anbieter. Die Lehrkräfte sollen selber auswählen, was ihnen dient.»

Timotheus Bruderer moderierte den Abend souverän

Er fordert zudem einen Stopp der Papierproduktion: «Es wird in der Schule noch nie so viel Papier produziert wie heute und noch nie so wenig gelesen». In der Bürokratiekritik spricht man von Datenfriedhöfen. Als eine Massnahme schlägt der Psychologe – nun in typischer Guggenbühl-Art – vor, mit dem Protokollieren der Elterngespräche aufzuhören. So etwas zerstöre den Gesprächsfluss und die ungezwungene Gesprächskultur. Es schaffe auch einen autoritätsbehafteten Graben zwischen Lehrkraft und Eltern.

Der Mahner und Analyst Guggenbühl trägt seine Forderungen – und das unterscheidet ihn von vielen anderen Reformkritikern – stets charmant und freundlich vor. Man vernimmt kaum einen Alarmismus, und die missionarische Strenge fehlt völlig. Er verlässt sich auf die gnadenlose Plausibilität seiner Aussagen.

Wie wäre diese Veranstaltung wohl abgelaufen, wenn sich Allan Guggenbühl auf einem Podium an einer PH mit einem Vertreter der von ihm kritisierten Bildungsnomenklatura vor 200 Studis hätte messen können?

Je länger das Referat dauerte, desto mehr hatte man das Gefühl, dass hier vorne eine Person aus dem Vollen schöpft und er dies noch stundenlang tun könne. Allan Guggenbühl aber – ganz der Psychologe – weiss, wann die Aufmerksamkeitsspanne ihre Grenzen erreicht. Das Publikum quittiert seine Ausführungen mit einem warmen Applaus. Dem Moderator Timotheus Bruderer gelingt es in der anschliessenden Fragerunde, die nervigen Co-Referate in Grenzen zu halten und sorgte damit auch für eine gehaltvolle Diskussion.

Dem Berichterstatter hinterlässt der Abend eine kleine Wunschprosa-Frage. Wie wäre diese Veranstaltung wohl abgelaufen, wenn sich Allan Guggenbühl auf einem Podium an einer PH mit einem Vertreter der von ihm kritisierten Bildungsnomenklatura vor 200 Studis hätte messen können? Es ist anzunehmen, dass die Leitungen der PH’s ein solches Risiko scheuen.

 

 

 

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Annemarie Aeschbacher, Lehrerin für textiles und bildnerisches Gestalten, ist eine Kollegin von Condorcet-Autor Alain Pichard am OSZ-Orpund und fleissige Leserin des Condorcet-Blogs. Die beiden schätzen sich, sind aber nicht immer einer Meinung. Das zeigt sich unter anderem auch beim Thema “Fernunterricht”. Mit den Schlussfolgerungen der niederländischen Studie zeigte sich Annemarie Aeschbacher nicht einverstanden und erhebt Einspruch.

3 Kommentare

  1. Allan Guggenbühl ist ja selber Teil einer PH. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr hoch, dass die Sache mit den PHs nicht eine ganz so schwarz-weisse Sache ist, wie sie hier sehr gerne dargestellt wird 😉

    Auf seiner Website:
    “Dozent für Psychologie und Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich und Ausbildner insbesondere zu den Themen Konfliktmanagement, Gewaltprävention, Intervention in Konfliktfällen, Team- entwicklung, Kommunikation, Adoleszenz, Erziehung, Männer und Buben in Ausbildung und Beruf. Autor zahlreicher Fachbücher und Artikel” (Quelle: https://www.ikm.ch/das-ikm/team/).

  2. Schade war ich nicht dabei. Als – vor allem, aber nicht nur – Sprachlehrerin kann ich die von guten Pädagogen kritisierten Schulreformen nur unterstreichen. Warum genügten früher vier Jahre Unter- und ein Jahr Oberseminar, um Generationen guter Lehrer und Lehrerinnen auszubilden? Weil man ihnen Freiheiten zugestand , sie – learning by doing – Erfahrungen machen liess, solange sie noch jung und enthusiastisch waren. Und weil der Stoff klar definiert und auch den Eltern verständlich war. Die PH heute sind viel zu kopflastig, diplomgläubig und dauern zu lange. Who cannot teach teaches teachers ….Die einseitige Förderung von wirtschaftsrelevanten Fähigkeiten (Digitalisierung u.a.) mag Schreibtischtäter von Lehrplan 21 und Autoren gewisser Lehrmittel zwar favorisieren, aber den Kindern mit ihren drei bis fünf Kilo schweren Rucksäcken und übermässig vielen Wochenstunden hilft das nicht, gerne zu lernen. Die Hauptaufgabe der Lehrpersonen heute ist nicht mehr die Kopf-Herz-Hand-Förderung bei den Kindern, sondern umfassende Betreuung in der Schule und möglichst viel Administratives. Nur so als Anmerkung: gewisse Dinge lassen sich mit keiner Ausbildung nachprüfen: die Liebe zum Unterrichtsfach und die Freude am Lehren. Jeder begabte Quereinsteiger, jede Quereinsteigerin mag da für die Kinder geeigneter sein als sog, qualifizierte Fachpersonen, die sich einfach den Regeln eines Masterplans und gerade modernen Vorschriften anpassen, in die innere Emigration gehen und sich mit dem Salär und anderen Annehmlichkeiten schadlos halten.

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