Die Stimmen häufen sich: Lehrerinnen und Lehrer wie Eltern klagen über den aktuellen Zustand der Volksschule. Wie und wo der Schuh drückt – und zwar intensiv –, das zeigte sich bei einem öffentlichen Podium «Lehrerinnen- und Lehrermangel» in Schwyz.[1] Das Interesse war gross und die Debatte intensiv. In der engagierten Diskussion fielen deutliche und klare Voten: zu wenig Zeit für die elementaren Basisfächer Deutsch und Rechnen, kaum mehr Raum zum Üben und Korrigieren, zu viel Unruhe im Schulzimmer als Folge der verstärkten Integration.[2] Dazu kommen zeitraubende Koordinationsaufgaben für die Zusatzkräfte im Unterricht und viel zu viel Bürokratie wegen der vielen Vorgaben und Vorschriften. Ob Schwyz überall ist, lässt sich nicht sagen. Aber eines wurde deutlich: Muss die Schule alles tun, tut sie nichts mehr richtig: Sie entgrenzt sich inhaltlich. Der Basler Bildungsdirektor Conradin Cramer drückt es so aus: «Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen.»[3] Und die Menetekel mehren sich.
Boomende private Lerninstitute
Wer als Eltern diesen Risiken ausweichen will, sucht für seine Kinder heute nicht selten einen externen Lerncoach. Aufgabenhilfe und Zusatzunterricht boomen – vor allem in den städtischen Gebieten.[4] Auch in ländlichen Regionen wachsen die Angebote, zeitlich allerdings etwas verzögert. Das Lern- und Coachingcenter «fit4school» beispielsweise bietet schulergänzende Lernunterstützung und Nachhilfe an 27 Orten der Schweiz an. Die Nachfrage ist gross. In der Stadt Bern verdoppelten sich die Anmeldezahlen seit dem Start im April dieses Jahres im Monatstakt.
Warum dieser Boom? Lernforscherinnen und Bildungsfachleute diagnostizieren, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Hier liegt mit ein Grund für diesen exponentiellen Anstieg schulexterner Anbieter. Und noch etwas zeigt sich: Wenn Schülerinnen und Schüler diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Eine Google-Recherche zu den Stichworten «Nachhilfe, Gymi-Vorbereitung, Zürich» ergibt eine lange Liste von Angeboten – vom Schwarz- und Graumarkt für Zusatzlektionen nicht zu reden. Die Nachfrage muss gross sein, sonst gäbe es diesen Markt nicht.
Die Chancengleichheit ist gefährdet
Diese Zahlen sind öffentlich: Doch niemand aus der Bildungspolitik und der Bildungsverwaltung hält dagegen. So etwas verwundert und ärgert zugleich. Das verstösst gegen ein elementares Prinzip unserer Gesellschaft: die Chancengleichheit! Hier liegt das Problem. Es ist ein systemisches Problem. Eine solche Situation dürfte es eigentlich gar nicht geben. Die Fakten aber sprechen eine andere Sprache.
Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache».
Die Schule hat sich inhaltlich entgrenzt
Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache». Viele Dinge werden nur noch flüchtig gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Fürs notwendige Üben und Automatisieren bleibt kaum Zeit. Unfertiges wird so zum Dauerzustand.
Mit andern Worten: Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert. Lernschwächere und mittelmässige Schüler sind benachteiligt. Das wissen wir aus der Forschung. Das Viele reduziert die systematische Übungszeit. Um etwas ins Langzeitgedächtnis zu bringen und zu automatisieren, braucht der Mensch sechs bis acht Wiederholungen. Der Moment des Vergessens beginnt im Moment des Merkens. Wiederholen, Vertiefen und Anwenden sind für einen lernwirksamen Unterricht unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und fehlerfreies, kohärentes Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren. Diese Zeit fehlt oft.
Eltern wollen nicht als Bildungsverlierer dastehen
Darum haben viele Eltern das Gefühl: Mein Kind kommt nicht voran. Es wird wohl aktiviert, doch es lernt zu wenig und das Erarbeitete bleibt an der Oberfläche. Abends müssen wir mit Nachhilfe vertiefen. Die Eltern wollen nicht als Verlierer der Bildungsreformen dastehen. Im Gegenteil: Die Kinder sollen die sozioökonomische Position ihrer Herkunft zumindest halten. Statusängste sind in erster Linie Zukunftsängste.[5] Darum erwarten sie für ihr Kind eine solide Schulbildung. Diese Erwartungssicherheit schmilzt.
Das trägt mit zum Boom privater Lerninstitute bei. Gratis sind diese Zusatzkurse und Nachhilfestunden nicht. Eltern greifen zum Teil tief in die Taschen. Doch dieses Zusätzliche können sich nicht alle leisten. Das widerspricht der Idee der gemeinsamen Volksschule und gefährdet die Chancengleichheit nicht nur unter Schülerinnen und Schülern, sondern auch unter den verschiedenen Familien.
Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit.
Private Bildung als lukratives Geschäftsmodell
Das öffentliche Bildungssystem muss lernleistungsfähig bleiben. Nur das verhindert den leisen Exodus von Kindern in die Privatschule und den weiteren Anstieg schulexterner Lernhilfen. Not tut eine Rückkehr zum Eigentlichen und Wesentlichen, eine Besinnung auf den Kernauftrag der Schule. Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit. Mit genau diesen Attributen aber werben private Anbieter. Und sie stossen bei vielen Eltern auf offene Ohren. Private Bildung wird heute zu einem interessanten Investitionsfeld und darum auch zu einem lukrativen Geschäftsmodell.
Die Signale ernst nehmen
Bildungspolitik und Bildungsverwaltung stehen in der Pflicht. Lange, allzu lange haben sie über die Sorgen und Nöte der Lehrpersonen im pädagogischen Alltag hinweggesehen. Boomende Lerninstitute sind ein deutliches Warnsignal. Das Portemonnaie darf nicht über die Bildung der Kinder entscheiden. Zu hoffen ist, dass die Bildungskarawane nicht einfach weiterzieht und die Stimmen der Basis negiert. Leidtragende sind die Kinder.
[1] «Der Zustand der Volksschule wurde stark kritisiert», in: Bote der Urschweiz, 08.09.2023, S. 8.
[2] Vgl. den aufrüttelnden Bericht: https://www.srf.ch/play/tv/reporter/video/integrative-schule—lehrpersonen-stossen-an-ihre-grenzen?urn=urn:srf:video:5c09dab8-dbfa-4ca4-ad94-23406ab704e4
[3] Sebastian Briellmann, Conradin Cramer zur integrativen Schule: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell», in: Basler Zeitung, 19.09.2023
[4] Mirjam Comtesse, Überforderte Jugendliche. Eltern schicken ihre Kids zum Lerncoach, in: Berner Zeitung, 20.09.2023.
[5] Heinz Bude (2011), Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Carl Hanser Verlag, S. 97.
Gute Analyse – m. E. falsche Schlussfolgerung.
Klar reduzieren private Bildungsangebote, die privat auch kosten, vordergründig die Chancengleichheit. Es kann aber nicht sein, dass vor lauter Chancengleichheit einer Volksschule gehuldigt wird, die schon lange nicht mehr eine Schule für das Volk ist, sondern eher ein pseudopädagogisches Experimentierfeld für angebliche Wissenschaftler:innen, die eine Wissenschaft vertreten, die m. E. weder Wissen schafft noch vom Schaffen weiss.
Der dadurch gepushte Reformdruck (man könnte durchaus auch von Reformwahnsinn sprechen) hat m. E. die Volksschule zerstört. Da verstehe ich solvente Eltern, die nun die Schnauze endgültig voll haben und nach Alternativen suchen – selbstredenderweise ohne staatlichen Support. Und hier könnte man allenfalls ansetzen. Beim Verursacher der Reformschäden nämlich – Stichwort Bildungsgutschein.
Lieber Herr Bossard,
Die Eltern haben leider einen entscheidenden Einfluss auf den Niedergang des Bildungswesens. Schon vor 40 Jahren wollten sie unter allen Umständen so viele Kinder wie irgendwie möglich auf das Gymnasium schicken, obwohl nur 10% der Schüler dem Niveau dieser Schulen gerecht werden können. Es sei denn, man will das Niveau verwässern. Masse statt Klasse führt immer zum Abstieg. Der Effekt schlug dann zwangsläufig auf die Grund- und Hauptschule durch. Wer das immer noch nicht begreifen will, sollte sich den Schlamassel in Deutschland ansehen – ein negatives Beispiel aus dem Bilderbuch. Dies war klar abzusehen. Deshalb müssen auch die Eltern die Suppe auslöffeln, die sie sich selbst eingebrockt haben. Die Schuldzuweisungen lassen sich nicht ewig zwischen Lehrern, Eltern und Politikern hin- und herschieben. Alle haben damals das Bildungsparadies versprochen. Um Lichtjahre klüger als die alten weissen Frauen und Männer wähnten sie sich. Hochmut kommt eben vor dem Fall, und der wird tief!
Mit freundlichen Grüssen
Jürgen Wisser
Ein randvolles Bildungsprogramm nach Vorgaben des neuen Lehrplans, extreme Ansprüche an die Individualisierung des Unterrichts und unerfüllbare Integrationsforderungen haben das System Volksschule überfordert. Die Schule musste in den letzten zwanzig Jahren alles akzeptieren, was vonseiten der Bildungspolitik mit Unterstützung einer euphorischen Didaktik an sie herangetragen wurde: Drei Sprachen lernen in der Primarschule, Favorisieren von Lernformen mit Lehrpersonen in der Rolle als Coachs, Fördern von verhaltensauffälligen Schülern in heterogenen Regelklassen und vieles mehr. Die Lehrerschaft ist geradezu überrumpelt worden von all den gesellschaftlichen Ansprüchen, welche an die Schule gestellt wurden. Was fehlte, war eine Analyse, wo die Grenzen für die einzelnen Forderungen im Rahmen eines leistungsfähigen Systems der Volksschule liegen. Man hat es verpasst, das Wünschbare vom Machbaren zu unterscheiden.
Wie Carl Bossard überzeugend darlegt, musste deshalb der didaktische “Fortschritt” auf Kosten des vertieften Lernens mit weniger Übungszeit und mehr Hektik im Schulbetrieb erreicht werden.
Dank unzähliger engagierter Lehrerinnen und Lehrer ist unser Schuldampfer im aktuellen Sturm noch nicht verloren. Aber es ist höchste Zeit, eine scharfe Kurskorrektur vorzunehmen.