Rhetorik ist die listige Schwester der Logik. Sie tut so, als argumentiere sie zwingend, dabei will sie vor allem eines: manipulieren. Sie kann auch Gespräche totschlagen. Hier eine kleine Auswahl von Keulen, die gegenwärtig im Schwange sind.
Zwischen zwei Personen, A und B, spielt sich folgende Diskussion ab.
A: «Ich finde die Hinrichtung von Homosexuellen in Iran eine gottverdammte Schande!»
B: «Wie wagst du es, ein solch schlimmes Wort zu gebrauchen!»
A: «Glaubst du nicht auch, dass das Töten von Menschen schlimmer ist als der Gebrauch eines ‹schlimmen› Wortes?»
B: «Ich höre nicht auf jemanden, der ein solches Wort in den Mund nimmt.»
A: «Gut, ich nehme es zurück. Aber was ist mit Iran?»
B: «Ich bin jetzt zu genervt, um diese Diskussion überhaupt noch fortzusetzen.»
In einschlägigen Kreisen heisst diese Keule «tone trolling» oder «tone policing». Der Ton-Troll stösst sich am Ton seines Gesprächspartners, an einem unglücklich gewählten Wort. Es tut nichts zur Sache, und doch bauscht der Ton-Troll es zur «Sache» auf. Er trägt die Keule des Beleidigtseins, Betroffenseins, Empörtseins immer schlagbereit mit sich, wartet auf jeden falschen Ton: Schock! Skandal! Shit!
Auf die Eingeweide hören
Von sich reden macht eine spezifische Variante dieses Arguments: die Keule des Unwohlseins, traditionell bekannt als «reductio ad nauseam». «Dein Argument erzeugt bei mir Unwohlsein bis zur Übelkeit, also nimm es gefälligst zurück.» Ein duseliges Allheilmittel aus den Eingeweiden.
Umso bedenklicher, dass nun zum Beispiel Verlage Lektoren – «sensitivity readers» – beschäftigen, um Texte zu erschnüffeln, die «Unwohlsein» erzeugen könnten. Diese vorauseilende Überempfindlichkeit stumpft ab gegenüber einer anderen Sensibilität, jener für Witz, Satire, Ironie, Mehrdeutigkeit, Widerspruch, ja Provokation – kurz, für fröhlich-streitbare Intelligenz.
Gewiss, gerade ein gutes Argument bereitet oft Unwohlsein. Daraus folgt aber nicht: Mir ist unwohl, also habe ich ein gutes Argument. Der bündige Bescheid darauf lautet: «Nimm ein Alka Seltzer, oder geh frische Luft schnappen.» Umso bedenklicher, dass nun zum Beispiel Verlage Lektoren – «sensitivity readers» – beschäftigen, um Texte zu erschnüffeln, die «Unwohlsein» erzeugen könnten. Diese vorauseilende Überempfindlichkeit stumpft ab gegenüber einer anderen Sensibilität, jener für Witz, Satire, Ironie, Mehrdeutigkeit, Widerspruch, ja Provokation – kurz, für fröhlich-streitbare Intelligenz. Ein Virtuose dieser Intelligenz war der kürzlich verstorbene Hans «der Grosse», Hans Magnus Enzensberger.
Das Banner der Identität
Besonders eine Keule wird heute gern geschwungen: «identity first». «Ich als postkoloniales Subjekt . . .», «Ich als Frau und Lesbe . . .». Die Redewendung macht vorweg klar, dass die Identität vor der Sache steht. A priori errichtet man zwischen Ich und Gegenüber eine halbdurchlässige Wand, die meine Aussagen an dich passieren lässt, aber nicht in umgekehrter Richtung.
«Nimm einfach an, dein Gegner liege falsch, erkläre seinen Irrtum, und die Welt liegt dir zu Füssen.»
Clive Staples Lewis, irischer Schriftsteller
«Ich als X . . .» ist potenzieller Gesprächsabbruch. Auf diese Eröffnung kann man mit «Und ich als Y . . .» reagieren. «Ich als X . . .» ist das Banner der Identitätspolitik. Man duckt sich in eine diskursive Schützenstellung. Der amerikanische Politikwissenschafter Mark Lilla bemerkte 2017: «Früher hätte eine Diskussion im Klassenzimmer vielleicht mit den Worten begonnen: ‹Ich denke A, und dies aus den folgenden Gründen.› Heute heisst es: ‹Ich als X fühle mich beleidigt, weil du B behauptest.› Anstelle einer Auseinandersetzung findet eine Tabuisierung konträrer Denkweisen und Meinungen statt.
Aufmerksamkeit durch Opferstatus
Komplementär dazu ist das «Du als X . . .». A sagt: «Die ganze Wokeness-Unkultur ist Symptom dafür, Aufmerksamkeit durch Opferstatus zu erheischen.» B erwidert: «Das sagst du doch nur als frustrierter alter weisser Cis-Mann, dem die Aufmerksamkeit fehlt.»
Das klassische Argumentum ad hominem also. Der irische Schriftsteller Clive Staples Lewis hat es 1941 unvergesslich auf die Schippe genommen mit seiner fiktiven Figur Ezekiel Bulver. Ezekiels Vater erklärte der Mutter, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei grösser als die dritte Seite. Die Mutter schmetterte die Beweisführung ab: Du sagst das nur, «weil du ein Mann bist».
Das fiese Axiom der Cancel-Culture ist die Schuldsvermutung.
Aus heutiger Sicht könnte man sagen, die Mutter reagiere auf das Mansplaining des Vaters. Aber Lewis zielt auf etwas anderes: «In diesem Moment durchfuhr meinen sich öffnenden Geist die Einsicht (. . .): Nimm einfach an, dein Gegner liege falsch, erkläre seinen Irrtum, und die Welt liegt dir zu Füssen.» Das klingt frappant nach «querdenkerischer» Kritik an der Wissenschaft in der Pandemie. Die Experten liegen sowieso falsch, also erkläre man ihren Einfluss durch Verschwörungstheorien. Im Englischen nennt man die Keule «Bulverism».
Fiese Schuldsvermutung
Eine Variante, das «Brunnenvergiften», mischt Bulverismus mit dem Appell an Emotionen, insbesondere an moralische. Das Argument erzeugt eine delegitimierende Voreingenommenheit gegenüber dem Gesprächspartner: «Woher nimmst du das Recht, als weisser Historiker über den afrikanischen Sklavenhandel zu schreiben . . .?» Oder eine Kritik der hanebüchenen homophoben Äusserungen des katarischen WM-Botschafters sieht sich als implizit rassistisch «entlarvt».
Das fiese Axiom der Cancel-Culture ist die Schuldsvermutung: Im Zweifel gegen den Angeklagten – du stehst unter Verdacht einer «schuldigen» Haltung, bis deine Unschuld bewiesen ist. Und exakt das sucht Canceln zu verunmöglichen. Eine extreme Spielart dieser Taktik ist die Nazi-Keule oder «reductio ad Hitlerum»: «Dein Engagement für die Tiere erinnert mich daran, dass auch Hitler ein grosser Tierschützer war.»
Das Thema umschiffen
Altbekannt ist die Keule des Tu-quoque-Arguments, des «Du-auch». Geläufig heute unter der Bezeichnung Whataboutismus. A wirft B vor: «Mit deinem Fleischkonsum trägst du zum Klimawandel bei.» B erwidert: «Fliegst du nicht viermal pro Jahr in die Ferien?» Beide Gewohnheiten haben natürlich mit dem Klimawandel zu tun. Aber ein heikles Thema lässt sich mit Whataboutismus elegant umschiffen, deshalb ist er ein beliebtes Instrument von Politikern und Verbandschefs.
Der Whataboutismus ist ein falsches Pfund, mit dem sich in Debatten üppig wuchern lässt.
Während der US-Präsidentenwahl 2016 wütete der Whataboutismus in den amerikanischen Medien. Wer Trump pathologisches Lügnertum vorwarf, lief umgehend in den Konter: Was ist denn mit Hillary Clintons Schwindeleien? Jüngst entdeckte der Fifa-Boss Gianni Infantino das Argument. Gegen Kritik am Unrechtsstaat Katar schwang er die «Was ist denn mit Europa?»-Keule: «Ich bin Europäer. Für das, was wir im Laufe von 3000 Jahren rund um die Welt getan haben, sollten wir uns in den nächsten 3000 Jahren entschuldigen, bevor wir moralische Lektionen erteilen.»
Pseudowissenschafter greifen auch gern zum Whataboutismus: Wie steht es denn mit den Wissenschaftern; auch sie verletzen Forschungsnormen, sind Querdenker oder schummeln? Der Fehlschluss der falschen Äquivalenz: Man schliesst von einem gemeinsamen besonderen Merkmal auf die allgemeine Gleichwertigkeit. Natürlich ist Schummeln keine Bagatelle, aber es spielt in Wissenschaft und Pseudowissenschaft eine unterschiedliche Rolle. Darauf einzugehen, verlangt Differenzierungskraft. Und genau das vermeidet der Whataboutismus. Er ist ein falsches Pfund, mit dem sich in Debatten üppig wuchern lässt.
Benimm des Denkens
Wie gesagt, es handelt sich hier um eine Auswahl. Sie genügt meines Erachtens, um eine allgemeine Diagnose zu stellen: Es fehlt an Benimm des Denkens. Man hört jetzt oft, dieser Benimm sei ja allzu lange von den alten, weissen, cis-männlichen Türhütern der Diskurse – Intendanten, Chefredaktoren, Universitätsprofessoren – definiert worden. Daran mag etwas sein, aber das ist kein Grund zum Keulenschwingen.
Offene Diskurse haben eine Verfassung, die Werte wie Objektivität, Faktentreue, Wahrheit, Schlüssigkeit hütet. Sie definieren rationale Fairness in der Kritik. Freie Meinungsäusserung basiert bei allem Kampf um soziale und ethnische Gerechtigkeit auf der Bereitschaft zu einer solchen Fairness. Ihr Schwächeln kann man als trauriges Symptom des «Verfassungsbruchs», ja der Verluderung unserer Gesprächskultur deuten.
Also den Benimm neu lernen, Keulen weglegen. Wenn das nur so einfach wäre.
Oho – die derzeit grösste Keule zur Durchsetzung der Diskursverweigerung ist die verschwörungstheoretische Unterstellung. In den Mainstream-Medien und vor allem von den Mainstream-Medien geradezu inflationär angewandt, ist alles Verschwörungstheorie, was nicht auf die Mainstream-Autobahn passt.