In unserem Lehrerzimmer hängt ein Artikel aus dem Magazin «Franz und Fränzi», der mich in den letzten Tagen beschäftigt hat (Wenn Kinder den Knopf später aufmachen, online https://www.fritzundfraenzi.ch/schule-wenn-kinder-den-knopf-spaeter-aufmachen) Dieser verlangt eine Volksschule ohne Selektion, weil Talente vor allem Zeit bräuchten. Diese Perspektive ist verständlich – und doch greift sie zu kurz. Denn sie blendet zentrale Realitäten schulischen Lernens aus und ersetzt sie durch pädagogische Schlagworte, die gut klingen, aber wenig Orientierung bieten.

Talent entscheidet nicht über Erfolg
Zunächst zur zentralen Annahme: Erfolg in der Schule beruhe auf Talent, das sich bloss unterschiedlich spät entfalte. Diese Vorstellung ist pädagogisch bequem, aber empirisch fragwürdig. Schulerfolg basiert weit weniger auf angeborenem Talent als auf Arbeitshaltung, Ausdauer, Selbstdisziplin und der Bereitschaft, sich auch trotz Widerständen anzustrengen.
Genau diese Eigenschaften entwickeln sich nicht automatisch durch «Zeit», sondern durch klare Erwartungen, Rückmeldungen und Leistungsanforderungen. Wer Jugendlichen signalisiert, Leistungsunterschiede seien vorerst zweitrangig, nimmt ihnen nicht Druck, sondern Orientierung.
Ohne Leistungsbeurteilung kein Unterricht
Besonders problematisch ist die implizite Abwertung von Leistungsbeurteilung. Eine Schule, die nicht beurteilt, kann weder gezielt fördern noch gerecht sein. Beurteilung ist kein Selektionsinstrument per se, sondern ein pädagogisches Werkzeug: Sie macht Lernstände sichtbar und schafft Verbindlichkeit. Wer Selektion kritisiert, muss erklären, wie Entscheidungen ohne belastbare Leistungsrückmeldungen getroffen werden sollen.
Heterogenität hat Grenzen
Der Vorschlag, nach sechs Jahren Primarschule vollständig auf Separation zu verzichten, unterschätzt die tatsächliche Spannweite der Leistungs- und Entwicklungsunterschiede in der Sekundarstufe I. Diese ist nicht nur gross, sondern in zentralen Bereichen wie Abstraktionsfähigkeit, Arbeitstempo, Sprachkompetenz oder Selbstorganisation kaum mehr in einer gemeinsamen Lernumgebung sinnvoll zu bewältigen.
Eine maximale Durchmischung, wie es der Artikel fordert, mag sozial gut gemeint sein, führt aber im Unterricht oft zu Überforderung – bei leistungsschwächeren wie bei leistungsstarken Schülerinnen und Schülern. Wer alles zusammenhält, riskiert, niemandem wirklich gerecht zu werden.
„Fördern statt filtern“ – ein falscher Gegensatz
Schliesslich arbeitet der Artikel mit griffigen, aber irreführenden Schlagworten wie «fördern statt filtern». Diese Gegenüberstellung ist künstlich. Jede Förderung setzt eine Form von Unterscheidung voraus: Was kann ein Kind bereits? Was nicht? Was braucht es als Nächstes? Eine Schule, die vorgibt, nicht zu filtern, filtert dennoch – nur später, weniger transparent und oft brutaler, etwa beim Übergang in die Berufsbildung oder beim Scheitern in überfordernden Bildungsgängen.
Realismus statt pädagogische Wunschbilder
Niemand bestreitet, dass das Bildungssystem gerechter werden muss. Doch Gerechtigkeit entsteht nicht durch das Ausblenden von Leistungsunterschieden, sondern durch einen realistischen Umgang mit ihnen. Eine Schule, die fördert, muss auch fordern. Sie braucht klare Leistungsziele, verbindliche Beurteilungen und differenzierte Bildungswege – nicht deren Auflösung.
Die Schule der Zukunft wird nicht dadurch besser, dass sie Unterschiede leugnet, sondern dadurch, dass sie sie ernst nimmt.

