5. Dezember 2025
Buchbesprechung: Verheissung einer neuen Schule

Zwischen Freiheit und Führungsverlust

Stefan Ruppaner, Rektor der Alemannenschule Wutöschingen, Preisträgerschule des Deutschen Schulpreises, schrieb ein Buch. Raffael Tondeur entlarvt diese Schrift als reine Wunschprosa.

Die Verheissung einer neuen Schule

Stefan Ruppaners Buch “Das könnte Schule machen” präsentiert vordergründig ein radikal reformpädagogisches Modell, das traditionelle Schulstrukturen aufbrechen und Lernen als selbstgesteuerten, eigenverantwortlichen Prozess neu denken will. Lehrpersonen werden zu sog. „Lernbegleiterinnen und Lernbegleitern“, der Unterricht löst sich zugunsten offener Lernräume und individueller Lernpfade auf, und an die Stelle von Noten und festen Prüfungen treten individuelle Rückmeldungen. So verlockend dieses Konzept in seiner plakativen Modernität und seiner Abkehr von relativ fixen Lehrplänen erscheinen mag, so problematisch ist es aus humanethologischer und entwicklungspsychologischer Perspektive.

Raffael Tondeur. lic. phil. Psychologe, Winterthur: Plakative Modernität

Schulisches Lernen braucht Beziehung

Ruppaner negiert in seiner selbsternannten «Schmetterlingspädagogik» weitgehend die humanethologischen Erkenntnisse über die biologische und soziale Natur des Lernens – auch und gerade beim jungen Menschen. Der Mensch ist gerade kein beliebig formbares, rein rationales Wesen, sondern ein emotional gebundenes Sozialwesen, dessen Lernverhalten auf Bindung, Orientierung und Beziehung beruht.

Lernen entsteht evolutionär betrachtet nie im luftleeren Raum, sondern in einer sozialen Matrix von Nachahmung, Anleitung und Rückmeldung. Indem Ruppaner die klassische Lehrpersonenrolle radikal auflöst und durch den neutralen „Lernbegleiter (m/w)“ ersetzt, wird diese natürliche Lehr- und Lernbeziehung, die für die Individuation bekanntermassen essentiell ist, in ihrem Kern entwertet. Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden wird nicht mehr als asymmetrisch, entwicklungsstützend und strukturgebend verstanden, sondern als partnerschaftlich und selbstorganisiert – ein ideologisch aufgekochtes Ideal, das der Entwicklungsrealität von Kindern und Jugendlichen nur bedingt entspricht.

Idealisiertes Bild

Individuation braucht Führung

Aus der humanethologischen Forschung ist gut belegt, dass Individuation – also die Herausbildung einer eigenen Persönlichkeit und Autonomie – nicht durch frühzeitige Selbststeuerung, sondern durch stabile Bindungen, klare Grenzen und verlässliche Führung erst ermöglicht wird. Persönliche Autonomie entsteht aus Sicherheit, nicht aus grenzenloser Freiheit. Ruppaners Ansatz übersieht diese Dialektik. Die Lernenden sollen sich selbst organisieren, ihren Lernweg eigenständig gestalten und Verantwortung übernehmen, oft ohne die notwendige entwicklungspsychologische Voraussetzung dafür. Das führt paradoxerweise nicht zu mehr Selbstständigkeit, sondern häufig zu Überforderung, Orientierungslosigkeit und Leistungsabfall. Dies sind bekannte Phänomene, die bereits in den antiautoritären Erziehungsbewegungen der 1970er Jahre beobachtet wurden. Wir erinnern uns daran.

Alte Fehler im neuen Gewand

Gerade darin liegt eine zentrale Schwäche des Buches und des Ansatzes der Schmetterlingspädagogik: Sie greifen, ohne es zu reflektieren, Elemente jener antiautoritären Pädagogik wieder auf, die bereits historisch gescheitert sind. Der Glaube, Kinder könnten sich ohne klare Autorität, Struktur und Bewertung optimal entfalten, hat sich als pädagogische Illusion erwiesen. Statt produktiver Freiheit erzeugte er oft Beliebigkeit und soziale Unverbindlichkeit, was nicht das Ziel einer funktionierenden Volksschule sein kann.

Ruppaner von der ASW präsentiert alte Ideen in modernem Gewand – digitalisiert, architektonisch neu verpackt, aber pädagogisch kaum weiterentwickelt. Der euphemistische Begriff des sog. „Lernbegleiters“ verschleiert dabei, dass die zentrale pädagogische Verantwortung der Lehrperson als orientierende, bewertende und beziehungsstiftende Instanz weitgehend entfällt.

Ruppaner entwirft in seinem Buch ein pädagogisches Modell, das die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung im Lernen anspricht, dabei aber die anthropologischen, humanethologischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen des Menschseins kategorisch ignoriert.

Die soziale Realität bleibt aussen vor

Darüber hinaus blendet das Konzept die realen Bedingungen unseres Schulsystems aus. Das idealisierte Bild der selbstorganisierten Lernlandschaft funktioniert allenfalls in hochmotivierten, ressourcenstarken Umfeldern, nicht aber flächendeckend in heterogenen Schulkontexten. Es setzt ein Mass an Selbstregulation, sozialer Kompetenz und familiärer Unterstützung voraus, das viele Schülerinnen und Schüler schlicht nicht mitbringen. Damit droht eine Verschärfung der Bildungsungleichheit: Wer ohnehin privilegiert ist, profitiert; wer Struktur und Halt braucht, fällt zurück. Chancengerechtigkeit ist damit nicht gegeben.

Bildung braucht Beziehung – nicht nur Struktur

Ruppaner entwirft in seinem Buch ein pädagogisches Modell, das die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung im Lernen anspricht, dabei aber die anthropologischen, humanethologischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen des Menschseins kategorisch ignoriert. Lernen ist immer Beziehungsgeschehen – ein Prozess zwischen Individuation und Sozialbindung, zwischen Freiheit und Führung. Wo diese Spannung einseitig aufgelöst wird, verliert Bildung ihre menschliche Tiefe.

Das könnte Schule machen”will Schule “revolutionieren”, verkennt dabei aber, dass Bildung weniger durch Strukturen als durch Begegnung gelingt – durch engagierte Lehrpersonen, die weit mehr sind als passive Lernbegleiter: sie sind Beziehungsträger, Vorbilder, Autoritäten und Wegweiser im Prozess des komplexen Erwachsenwerdens.

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5 Kommentare

  1. Revolution, wie immer mehrschneidig, wie es durch reale Revolutionen bewiesen wird. Denn oft genug werden nicht nur die Kinder, sondern noch Unbeteiligte gefressen. Um den heissen Brei herumquasseln, damit man sich noch tiefer im pseudophilologischen und -pädagogischen Dschungel verlieren kann.

    1. Biologisch und nachahmend lernt der Mensch in der Tat: laufen, sprechen, Radfahren, die Namen und über Werden und Wachsen im Garten, und so weiter …

      Kaum etwas echtes wird in der Schule vermittelt. Selbst Lesen, Rechnen und Schreiben bringen sich junge Menschen überall immer wieder in der Orientierung zum Umfeld und ohne Schulbesuch bei.

      Eine Besprechung taugt nichts, wenn diese Verweise ausbleiben, Schule sogar als freiwilliger Raum des Sozialen und der Anregung gedeutet wird und die Nachzeichnung der von Ruppaner eröffneteten Lernwege ausbleibt, lediglich “betitelt” wird. (Alles, ohne Ruppaners Begriff zu erläutern, seine Ausgangslage, Ideen, Widerstände, Entwicklungen und Wahl der Wege).

      Wenn dann noch ein Verweis auf befürchtete Gerechtigkeitslücken eingewebt wird, ist der Weg der “Besprechung” verlassen und endlich eine Widerrede zu erkennen gegeben und würzend abgerundet.

      Das Buch von Ruppaner ist durchaus lesenswert, ebenso Dumbing Us Down von John Taylor Gatto, insbesondere allen staatsdienenden Lehrern mit stabilem Selbstbild möchte ich seine Gedanken empfehlen.

      Dass Sie, geehrte Redaktion, hier einen mutmaßlich hinuntergefrusteten, mindestens zur Verteidigung des Selbstbildes gedachten Erguss als Buchbesprechung verschlagworten, sagt so einiges zum Stande der Bildung und Wachheit im deutschsprachigem Raum …

      Christian Eckert

      1. Herrn Eckert sei die Lektüre des neuesten Buches von Michael Felten (2025) (Gerne und gut unterrichten, Reclam Verlag) empfohlen. Dort wird alles, was Stefan Ruppaner anführt, ausführlich begründet und wissenschaftlich verbürgt. Insbesondere behandelt er die Methoden des lernwirksamen Unterrichts, zeigt den tatsächlichen Weg zur Selbstständigkeit, erklärt, wie Klassenführung gelingen kann, nennt schonungslos die Klippen und Schwierigkeiten, die auftreten können und wie man damit umgehen sollte. Zudem deckt er die Schwachstellen im Denken pädagogischer Fantasten auf. Das alles ohne den üblichen Pädagogik-Schwulst, sondern in klarer Sprache und praxisorientiert. Herrn Eckerts Seitenhieben gegen die Staatsschule kann man entgegenhalten, dass die “staatsdienenden” Lehrpersonen sehr vielen grossen Geistern auf die Sprünge geholfen haben, z.B. dem Physiker Albert Einstein, dem Biologen Adolf Portmann, dem Astrophysiker Thomas Zurbuchen, dem Klarinettisten Eduard Brunner, etc. Wer sich alleine auf seine “Umfelder” verlässt, muss auch damit rechnen, dass seine Deutsch- und Rechtschreibekenntnisse nicht unbedingt die beste Qualität aufweisen.

  2. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie das zu und her ginge, sollten unsere Fluglehrer, mit denen ich auch schulen durfte, sich lediglich als Lernbegleiter verstehen würden.

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