5. Dezember 2025
Bildung

Wie die Schule das Schreiben verdirbt

Wie die Zentralmatura Schüler in Amtsdeutsch dressiert – und ihnen die Freude an der Sprache austreibt. Wir bringen einen Beitrag, der zuerst im österreichischen “Falter” erschienen ist.

 

Kürzlich las ich in der Zeit, dass immer weniger Menschen lange Texte oder gar Bücher lesen. Nicht nur Schüler und Studenten, auch angehende Lehrer greifen kaum noch zum Buch. Das Eintauchen in Geschichten, das Erfassen komplexer Handlungen, die Entwicklung von Empathie – all das leide. ChatGPT fasst eh alles zusammen (unsere Coverstory dazu lesen Sie hier).

Ich war froh, dass wir unseren Kindern die Liebe zu Büchern und Geschichten schon im Kleinkindalter beigebracht haben. Jeden Abend lasen wir ihnen vor. Sie kuschelten sich an uns, hörten zu und begannen nach und nach selbst zu lesen. Heute lesen sie noch immer – trotz der ständigen Ablenkungen durch Social Media. Weniger, ja, aber immerhin. Dank BookTok, der Young-Adult-Welle und den schönen Ausgaben von Herr der Ringe bleibt auch das Besitzen eines Buches ein Erlebnis.

Florian Klenk (1973), Chefredakteur der österreichischen Wochenzeitung FALTER

Nun aber erlebe ich etwas Merkwürdiges: Schulbücher scheinen Kindern den Sinn für Sprache, Poesie und Literatur regelrecht abzutrainieren. Mein Sohn lernt derzeit das Genre der “Textanalyse”, was immer das sein soll. Dafür bekommt er langweilige Texte vorgesetzt, die er nach einem starren Schema zerlegen, also “analyisieren” muss. Wer davon abweicht, verliert Punkte. Er muss das lernen, die Lehrerin trifft keine Schuld. Das sind die Vorgaben für die Zentralmatura.

Wie ein Text aus der Hölle

Das machte mich neugierig. Also nahm ich mir – zum ersten Mal seit 34 Jahren – ein Deutschschulbuch zur Hand. Es heißt Wortwechsel und stammt von einer Gruppe niederösterreichischer Lehrerinnen. Darin findet sich ein “Beispiel für eine Textanalyse”. Es soll Schüler offenbar lehren, wie sie richtig schreiben. Schon die ersten Zeilen lesen sich wie ein Text aus der Hölle:

 

Die Adressatinnen und Adressaten (des zu analysierenden Textes, Anm. FK) sind potenzielle Kundinnen und Kunden, also Firmen oder Privatpersonen, die selbst nicht über ausreichende Werbestrategien bzw. über Erfahrungen in dieser Branche verfügen. Eingeleitet wird der Text durch eine Aussage, die das Team der Agentur angeblich häufig zu hören bekommt: ‘Wir brauchen keine Werbung, Werbung bringt doch nichts, kostet nur Geld.’ Gleich anschließend werden die Gründe genannt, die dafür sprechen, sehr wohl Werbemaßnahmen zu setzen: Durch mangelnde Information können Besucherinnen und Besucher bzw. Kundinnen und Kunden ausbleiben oder Geschäfte schlecht laufen.”

 

Spätestens hier hörte ich auf zu lesen. Dieses Gemisch aus geschlechtergerechtem Amtsdeutsch, umständlichen Gliedsätzen und Wortwiederholungen macht mich depressiv.

Da stellte ich mir die Frage: Welche Sprache lernen Jugendliche eigentlich hier? Warum sollen sie so schreiben und diesen Mist lesen? Wer gibt das vor? Wer bezahlt dafür unser Steuergeld?

Erst heute erkenne ich den Wert dieses Unterrichts.

 

Mein eigener Deutschunterricht liegt fast 35 Jahre zurück. Ich hatte eine strenge Lehrerin, die Frau Professor Cerny (Grüße gehen raus!). Wir lasen Goethes Faust und das Nibelungenlied, Thomas Bernhards Heldenplatz und Henrik Ibsens Nora, Maxim Gorkis Kleinbürger und Thomas Manns Zauberberg. Wir lasen im Unterricht laut, mit verteilten Rollen. Und am Nachmittag spielten wir Theater und setzten Literatur in Szene. Erst heute erkenne ich den Wert dieses Unterrichts.

So sollen unsere Kinder schreiben?

Aber solch sinnlose Gebrauchsprosa hätte uns die Cerny nie vorgesetzt – schon gar nicht als “Musterbeispiele”. Von der Bürokratie wurde sie auch nicht dazu gezwungen. Und wenn, dann hätte sie sich dem widersetzt.

Leser quälen statt gewinnen

Ich halte das nicht für eine Nebensache. Im Gegenteil: Offenbar verlangt die Zentralmatura einen Schreibstil, der an Amtsprosa, Verwaltungssprache und “wissenschaftliches Schreiben” erinnert. Eine Sprache, die Leser quält statt gewinnt – und die ich meinen Studenten austreibe wie ein alter Exorzist die Dämonen, weil sie sonst buchstäblich sprachlos werden.

Wolf Schneider, dessen exzellentes Buch Deutsch für junge Profis ich jedem ans Herz legen möchte, hat es einmal so formuliert: Man muss nur zwei Texte bis zum Ende lesen – den Erpresserbrief und das Testament.

Ich wünsche mir vom Bildungsminister daher ein neues Schulfach: Packend schreiben.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Pfenningers Sargnagel für unausgegorene Frühfremdsprachen-Konzepte

Gemäss Raphael Berthele von der Uni Fribourg handelt es sich bei der Untersuchung von Simone Pfenninger und David Singleton um eine «ausgeglichene und einfühlsame Studie», die sich mit einem Thema befasst, das uns alle interessiert. Pfenninger und Singleton präsentieren dabei neue Daten und analysieren diese sorgsam. Die Autoren untersuchen die Auswirkungen sowohl interner als auch externer Faktoren unter Anwendung modernster statistischer Modelle.
Die Studie ist die bisher einzige Schweizer Langzeitstudie, welche frühe mit späten Englisch-Startern vergleicht. Die Datenerhebungen erfolgten zwischen 2009 und 2015. Condorcet-Autor Urs Kalberer, der ebenfalls eine Studie über die Wirksamkeit von Frühenglisch durchführte, sieht sich bestätigt und stellt uns das Buch vor.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert