5. Dezember 2025
Manuelle Arbeit

Resultate statt Identitätskrise

Ich wuchs in einer Sekte auf. Mein Job als Hilfselektriker lehrte mich, Verantwortung zu übernehmen. Die Klarheit des Tuns führt zu einer Klarheit des Denkens. Dieser Beitrag des US-amerikanischen Schriftstellers und Philosophen Matthew Crawford ist zuerst im “Schweizer Monat” erschienen.

 

Ich begann als Elektrikergehilfe zu arbeiten, kurz bevor ich 14 wurde. Das war 1979. Seit meinem zehnten Lebensjahr hatte ich in einem Ashram gelebt, einer Gemeinschaft hinduistischer Asketen, die sich von der Gesellschaft zurückziehen und sich einer höheren Berufung widmen. Unsere kleine Gemeinschaft von ein paar hundert Menschen gehörte zu einer Sekte namens Siddha Yoga, eine Sekte, die besonderen Wert auf seva legt, den “selbstlosen Dienst”.

Der Hauptsitz des Ashrams war in Indien, doch der Guru reiste regelmässig in den Westen und nahm seine Anhänger mit. So zogen wir ein bis zwei Jahre lang umher. Unsere übliche Vorgehensweise war es, eine renovierungsbedürftige Immobilie zu finden, sie instand zu setzen, eine Weile darin zu leben und sie dann zu verkaufen – bevor wir dann unsere “Welttournee” fortsetzten, um neue Anhänger zu gewinnen. In jenem Jahr renovierten wir ein baufälliges Hotel in Miami Beach.

Forscher zwischen zwei Böden

In Florida wurde ich eines Tages von der Elektrikergruppe rekrutiert – vermutlich, weil ich so dünn war und als Einziger in einen Doppelboden passte, der für alle anderen zu eng war. Der Zwischenraum zwischen Fuss- und Erdboden oder zwischen Decke und Dach beherbergt einen Grossteil der unsichtbaren technischen Infrastruktur eines Gebäudes. Meine Aufgabe war es, durch den schmalen Spalt über der Decke des künftigen Meditationsraums zu kriechen und mit Stift und Papier sämtliche elektrischen Installationen zu kartieren. So sollte die Mannschaft einen Überblick bekommen, womit wir es zu tun hatten.

Matthew Crawford, amerikanischer Schriftsteller und Philosoph

Mit dieser Aufgabe wurde mir klar, dass ich eingeladen war, mich den Männern anzuschliessen. Genauer gesagt, den Besten unter den Männern. In dieser autarken Gemeinschaft gab es zwar Gemüseschneider, Toilettenputzer, Buchhalter und alle erdenklichen anderen Rollen – aber die Bauarbeiter, sie waren eine Truppe für sich. Wenn sie mit ihren staubigen Knieschützern in den Speisesaal kamen, scherzend und sich neckend, schien sich ein Meer aus Ehrfurcht vor ihnen zu teilen. Sie gingen direkt an den Anfang der Essensschlange, manchmal wagten sie es sogar, zwei Teller auf einmal zu beladen. Am unglaublichsten war für mich, dass sie vom morgendlichen Rezitieren befreit waren. Ihre Arbeit erforderte einen frühen Start, und irgendwie war das sogar wichtiger als die 182 Strophen der Guru Gita, ein Text, den die Gemeinschaft sonst ausnahmslos jeden Morgen gemeinsam rezitierte.

Zur Vorbereitung auf meine Schachtexpeditionen gab mir der leitende Elektriker Rohidas einen Crashkurs über elektrische Leitungsrohre, die im Grunde genommen simple Metallrohre sind, durch die Kabel gezogen werden. Diese Rohre kommen in drei Meter langen Stücken und werden mit Kupplungen verbunden. Und das Wichtigste, was mir eingeschärft wurde: Das Überleben unserer Gemeinschaft könnte von der Qualität meiner Kupplungen abhängen, denn ein schlecht verbundenes Rohr könnte bei einem Kurzschluss den Meditationssaal in Brand setzen.

“In dieser autarken Gemeinschaft gab es zwar Gemüseschneider, Toilettenputzer, Buchhalter und alle erdenklichen anderen Rollen – aber die Bauarbeiter, sie waren eine Truppe für sich.”

 

Ein beklemmendes Gefühl überkam mich, als ich meine schmächtigen, fast 14-jährigen Finger neben seinen kräftigen betrachtete, die von vielen kleinen Schnitten übersät waren. Rohidas schien mein Zögern zu bemerken, denn ein zweifelnder Blick huschte über sein Gesicht, dann hob er die Augenbrauen, als hätte er eine Entscheidung getroffen. Er schloss die Lektion mit einem Ausdruck des Vertrauens: “Ich weiss, dass du das kannst.” Doch zuerst musste ich auf Erkundung gehen. Es war Zeit, die Leiter hinaufzusteigen, hinauf in den Kriechraum.

Staub, Schweiss und Blut

Als ich zum ersten Mal meinen Kopf in die Dunkelheit steckte, traf mich die Hitze – eingeschlossen zwischen der Decke und dem flachen Teerdach unter der Sonne Floridas – mit plasmaartiger Dichte. Es war eine Erfahrung der Neuorientierung, wie sie vermutlich auch Höhlenforscher durchmachen. Die Taschenlampe beleuchtete immer nur schmale Streifen: Lüftungsrohre, Streben, Leitungen und Stahlträger, allesamt gleichmässig stumpf vom lichtverschluckenden Staub.

Der Raum war zu niedrig zum Kriechen, also entwickelte ich eine Art horizontales Watscheln mit gespreizten Ellbogen und Knien. Zwischen den vielen Hindernissen war es schwierig, die Taschenlampe vor mir herzuführen, bis ich eine Technik perfektionierte: Erst die Taschenlampe nach vorne schieben, dann ein paar Mal in ihre Richtung watscheln, dann mit einem Ellbogen vorbeiwatscheln – dabei eine Hand an der Seite lassen, um die Taschenlampe am Ende wieder aufzunehmen, ähnlich wie die Hand eines Schwimmers nach dem Zug aus dem Wasser auftaucht. Mir blieb keine andere Wahl, als in Kauf zu nehmen, dass meine Haut an den scharfen Kanten aufgeschürft wurde und ich Gott weiss was inmitten der alten, bröckelnden Isolierung einatmete.

Matthew Crawford betreibt eine eigene Motorradwerkstatt (Bild: Screenshot Youtube)

Die Hitze war überwältigend. Ein wenig Herumstochern im Staub förderte den Kadaver einer Ratte zutage, die bei – was? – 54 Grad Celsius niedergegart worden war. Nachdem ich meine ursprüngliche Aufgabe, die vorhandenen Leitungsrohre zu kartieren, erledigt hatte, entdeckte ich die Überreste früherer Arbeiten – Süssigkeitenverpackungen, verlorenes Werkzeug und herumliegende Baumaterialien – und fühlte eine heimliche Verbundenheit mit dieser Miniaturrasse von Doppelbodenhöhlenforschern. Einer von ihnen, mein Bruder im Geiste, hatte freundlicherweise ein “Playboy”-Magazin hinterlassen. Nicht gerade passend für einen Meditationssaal, aber ich merkte mir den Fundort für später. Hier oben fand ich eine im Ashram-Leben sonst unbekannte Privatsphäre.

Trotz der “spirituellen” Natur des Ashrams war es kein Leben, das zur Selbstreflexion und zum Grübeln anregte; wichtig war das Tun, das Üben, das Dienen.

 

Als ich die Leiter hinunterstieg, traf ich auf einige Crewmitglieder im Gang, die offenbar nicht mitbekommen hatten, dass ich über ihnen in der Decke gewesen war. Und vielleicht wussten sie auch nicht, dass ich jetzt zum Elektrikerteam gehörte. Überrascht schauten sie zu mir hoch. Mit einer Schicht aus Staub, Schweiss und Blut überzogen, versuchte ich, eher gelassen als triumphierend zu wirken. Doch ich hörte die kriegerische Freude in meiner eigenen Stimme, als ich nach einem Stück Sperrholz fragte, damit ich durch den Kriechraum gleiten konnte, statt mich auf den Ellbogen vorwärts zu bewegen. Sie fanden bereitwillig eines für mich. Ich fühlte mich jetzt wie ein junger Mann, der Dinge anfordern konnte; unter Gleichgestellten sind alle Ressourcen gemeinsam.

Was ich im Ashram gelernt habe

Wenn ich heute an diese erste Expedition zurückdenke, erscheint sie mir symbolisch für das, was ich am Leben im Ashram schätzte. Es war ein Leben, das Charakterstärke förderte und die Fähigkeit, Schmerz im Dienst verschiedener Güter zu ertragen. Manche dieser Güter waren spiritueller Natur, andere physischer Art, und einige waren mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft verbunden. Meine Familie, die in den Strömungen der Gegenkultur zerbrochen war, hatte mir nicht beigebracht, Verantwortung für andere zu übernehmen; die Arbeit in der Elektrikercrew wurde mir daher zur Zuflucht und zum Heilmittel zugleich. Es war ein Leben, das harte Anforderungen stellte – genau die Art von Herausforderungen, nach denen sich ein junger Mann sehnt. Ich bin dankbar, dass sich niemand um Kinderarbeitsgesetze scherte!

Ich erinnere mich daran, mit 15 Jahren während eines Gewitters auf einem Strommast gestanden zu haben. In den Jahren nach meinem Einstieg in die Elektrikercrew übernahm ich zunehmend mehr Verantwortung.

Trotz der “spirituellen” Natur des Ashrams war es kein Leben, das zur Selbstreflexion und zum Grübeln anregte; wichtig war das Tun, das Üben, das Dienen. Dies steht rückblickend in deutlichem Kontrast zu dem Druck, den junge Menschen heute verspüren mögen, eine “Identität” zu entwickeln und sich ständig mit ihrem Innenleben zu beschäftigen.

Es hat etwas Befriedigendes, sich durch handwerkliches Können greifbar in der Welt zu verwirklichen; es verleiht bekanntermassen einem Menschen Ruhe und Gelassenheit. Es befreit ihn von dem Drang, sich ständig in wortreichen Selbsterklärungen zu verlieren und seine Existenz zu rechtfertigen.

 

Bei manueller Arbeit ist dein Platz in der Welt offensichtlich. Die Auswirkungen deiner Bemühungen sind für alle sichtbar. Deine Kompetenz ist nichts, was du dir selbst einbildest, sondern eine einfache Tatsache – eine gemeinsame Tatsache, die Grundlage für Beziehungen und Austausch, und nicht eine schwer fassbare “Identität”.

Jedes Mal eine Freude, wenn ich am Ende einer Arbeit den Schalter umlegte. Und es wurde Licht.

Nach dem College, lange nachdem ich den Ashram verlassen hatte, gründete ich in Santa Barbara, Kalifornien, ein 1-Mann-Elektroinstallationsunternehmen. (Auf meinen Flyern stand “ohne Lizenz, aber sorgfältig” – natürlich war das illegal.) In meinen eigenen Händen sollte ich die von Schnitten übersäten Hände von Rohidas wiedererkennen, das Merkmal eines Handwerks, dessen Gewerkschaft sich Internationale Bruderschaft der Elektroarbeiter nennt. In jenen Jahren erfüllte es mich jedes Mal mit Freude, wenn ich am Ende einer Arbeit den Schalter umlegte. Und es wurde Licht.

Es hat etwas Befriedigendes, sich durch handwerkliches Können greifbar in der Welt zu verwirklichen; es verleiht bekanntermassen einem Menschen Ruhe und Gelassenheit. Es befreit ihn von dem Drang, sich ständig in wortreichen Selbsterklärungen zu verlieren und seine Existenz zu rechtfertigen. Er kann einfach schweigend darauf zeigen: Das Gebäude steht, das Licht brennt, das Auto läuft wieder.

 

Legende Beitragsbild: Das Licht brennt, das Gebäude steht, das Auto läuft wieder: Manuelle Arbeit hat etwas Befriedigendes. (Bild: Keystone/Ennio Leanza)

 

Aus dem Englischen übersetzt von Michael Straumann.

Matthew Crawford ist amerikanischer Schriftsteller und Philosoph und betreibt eine eigene Motorradwerkstatt.

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