Deutsche Schüler scheitern immer häufiger an den Regelstandards. Dies berichtete die “Bild”-Zeitung in einem Vorabbericht zum “IQB-Bildungstrend 2024” (“Bild”). Die Zeitung meldete, sie habe den Bericht aus politischen Kreisen vorab erhalten. Der vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen erstellte Bericht bewertete der Zeitung zufolge die Ergebnisse in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern Mathematik, Physik, Chemie und Biologie in der Sekundarstufe I als negativ. “In allen vier untersuchten Fächern werden die Regelstandards seltener erreicht und die Mindeststandards häufiger verfehlt als in den Jahren 2012 und 2018”, heißt es demnach in dem Bericht. Getestet wurden laut Bild 48’000 Schülerinnen und Schüler.

Der Anteil der Neuntklässler, die den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss verfehlten, sei von 2018 auf 2024 um drei Prozentpunkte gestiegen. Die Werte beim Mindeststandard für den Mittleren Schulabschluss hätten um fast zehn Prozentpunkte zugenommen.
Alle Bundesländer verzeichnen einen Negativ-Trend.
Fast neun Prozent aller Neuntklässler hätten im Jahr 2024 im Fach Mathematik den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss (Hauptschule) verfehlt und ungefähr 34 Prozent den Mindeststandard für den Mittleren Schulabschluss.

Unter Jugendlichen, die eine Mittlere Reife anstreben, ist laut dem Bericht fast ein Viertel an den Mathematik-Anforderungen gescheitert, in Chemie sind es 25 Prozent, in Physik 16 Prozent, in Biologie zehn Prozent. Der negative Trend betreffe ohne Ausnahme alle Bundesländer, berichtet “Bild”.
Als Gründe für die schlechteren Ergebnisse der Schüler führen die Forscher laut der Zeitung die Auswirkungen der Corona-Pandemie sowie den gestiegenen Anteil an Zuwanderern an.
Leistungsabfall quer durch alle Gruppen
Wie es im “Bild”-Beitrag dazu heisst, schneiden Kinder von Ausländern oder Flüchtlingen bei Mathe/Bio/Chemie/Physik zwar weiterhin schlechter ab als Mitschüler ohne Migrationshintergrund. Aber die Rückschritte im Bildungsstand betreffen Jugendliche unabhängig vom sozialen oder familiären Hintergrund. Ob reiche Eltern, Zuwanderung oder Herkunft – der Leistungsabfall zieht sich durch alle Gruppen.
Alle Bundesländer verzeichnen einen Negativ-Trend. Am glimpflichsten kamen Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Meck-Pomm davon (“überdurchschnittlich gut”). Am unteren Ende stehen Bremen, Hessen, NRW und das Saarland. Insgesamt fühlen sich immer weniger Schüler zu Mathe und Naturwissenschaften hingezogen.
Was hilft?
Um Nachteile von Flüchtlings- und Ausländerkindern auszugleichen, empfehlen die Forscher bessere Integration, vor allem durch Sprachförderung, wie “Bild” weiter schreibt. Dazu bessere Lehrer-Qualifizierung und weniger Quereinsteiger im Lehrerzimmer. Die Schule allein könne diese Herausforderungen nicht lösen. Es brauche ein Zusammenspiel von Familien, Kitas und Schulen über Ämter und Jugendhilfe bis zu Universitäten, Trägern und Bildungsverbänden.
Fazit: “Nur durch ein abgestimmtes Zusammenwirken aller Beteiligten können die Lern- und Entwicklungsziele für Kinder und Jugendliche in Deutschland nachhaltig gesichert werden.”
Legende Titelbild: Unterricht an einer Realschule in Duisburg (Bild: Funke Foto Services)
Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag besteht aus Inhalten von zwei Zeitungsbeiträgen zum gleichen Thema und wurde von Condorcet redaktionell bearbeitet.


Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends dokumentieren nur eine Entwicklung, die seit Jahren offensichtlich ist, wenn man im Bildungsbereich arbeitet. Der Bericht nennt einige Ursachen, nach meinen Einschätzungen aber gibt es weitere Aspekte:
Die Bildungsbegeisterung der Bevölkerung insgesamt scheint gerade im MINT-Bereich recht gering. Eine empirische Stütze dieser Einschätzung erbringt jeder Besuch in einem größeren Spielzeuggeschäft: Gab es früher ein reichhaltiges Angebot an Experimentierkästen, ist dieses heute auf wenige und wenig anspruchsvolle zusammen geschrumpft. Außerschulisches Lernen scheint es auch kaum zu geben, obwohl die Möglichkeiten durch digitale Medien von Wikipedia bis YouTube ausgesprochen gut sind. Heutzutage kann jeder mit relativ preiswerten Computern naturwissenschaftliche Phänomene erkunden, interessante Programme schreiben – aber das wird allenfalls von einer sehr kleinen Minderheit gemacht. Die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler geht dagegen davon aus, dass die Inhalte des schulischen Unterrichts sie im Leben kaum weiterbringen werden. Für die Mathematik könnte ich das konkretisieren, will aber gleich weitergehen uns sagen, dass es für dieses Fach wichtig wäre, vor allem zwei Ziele zu verfolgen und den Lernenden transparent zu machen:
1. Logikschulung: Die Mathematik zeigt, die allein durch rationale Argumentation sicheres Wissen generiert wird. Die Fähigkeit, Argumente auf Gültigkeit zu prüfen und damit selbst denken und entscheiden zu können, ohne auf Autoritäten angewiesen zu sein, ist seit der Aufklärung ein Ziel und wird im KI-Zeitalter noch wichtiger. Leider reduzieren Lehrpläne und Schulbücher die Präzession der Argumentation immer mehr.
2. Realitätsschulung: Gerade weil Mathematik keine empirische Wissenschaft ist, kann sie in ganz vielen Situationen wertvolle Erkenntnisse liefern. Zum Aufbau eines angemessenen Weltbildes gehört es, dies zu wissen und die Relevanz von Mathematik für das Verständnis von Naturphänomen und die Weiterentwicklung von Technik einschätzen zu können. Leider dominieren in aktuellen Schulbüchern oft Pseudoanwendungen, die Schüler nicht davon überzeugen, dass die Dinge relevant sind.
Ich fürchte allerdings, dass es nicht leicht sein wird, diese Forderungen umzusetzen, denn all das hat seinen Preis, es geht nicht ohne Konzentration und Anstrengungsbereitschaft. Die Inhalte der „entrümpelten“ Lehrpläne sind nicht zu schwer, sondern zu unattraktiv. Damit ist auch der Beruf des Lehrers für begeisterte Menschen ein Stück unattraktiver geworden: Wer etwa die Schönheit eines mathematischen Beweises schätzt, möchte diese gerne erklären und weitergeben. Aber in den letzten Jahrzehnten haben konstruktivistische Pädagogen Lehramtsstudenten mit dem Dogma geimpft, dass Lehrer nichts erklären sollen. Evtl. trägt also auch die Pädagogik eine Teilverantwortung für den Leistungsrückgang. Das ist freilich eine Hypothese, die die universitäre forschende Pädagogik vermutlich relativ schnell als haltlos erweisen wird.
Man könnte ja locker spotten: Nach dem PISA-Schock sind entscheidende Änderungen in die Wege geleitet worden, zahlreiche kompetenzorientierte Schulreformer sind als Tiger losgesprungen, um alles zu verbessern, und jetzt landen sie als Bettvorleger, weil die Verbesserungen offensichtlich nicht eingetreten sind.
Aber im Ernst: Ich vermisse die Bereitschaft der Reformer, mal etwas Selbstkritik zu üben und wenigstens zu überlegen, ob manche Missstände nicht trotz, sondern gerade wegen gewisser Reformen bestehen. Stattdessen werden die nächsten Reformen propagiert, überall soll die “Schule der Zukunft” entstehen, man soll “Schule neu denken” und eine “neue Lern- und Prüfungskultur” einführen, Noten und das Sitzenbleiben abschaffen. Die “Schüler-ID” wird als universelle Lösung für alles angeboten, mehr Digitalisierung würde den Unterricht verbessern, die Schülerleistungen steigern und so ganz nebenbei auch noch die große Bildungsgerechtigkeit realisieren, alles durch eine “individuelle datenbasierte Lernverlaufsdiagnostik”.
Liebe Schulreformer: Wir glauben euch nicht mehr, es ist die Stunde der Skeptiker, die lieber mal die Sprüche und Vorschusslorbeeren VOR Einführung der Nach-PISA-Reformen mit der heutigen Realität vergleichen würden. Dieser Vergleich aber wird so wenig vorgenommen wie der Vergleich des heutigen Wetters mit der Wettervorhersage vor zwei Tagen. Dabei sind die Meteorologen eher entschuldigt als die Erziehungs- und Bildungswissenschaftler sowie die Schulminister, die ihrem Rat gefolgt sind.
Herr Kühnel macht in seinem Beitrag etwas Ungeheuerliches: Experten an alten Aussagen messen – da könnte man gleich fragen, was die Politik von den eigenen Wahlversprechungen erreicht. Aber Scherz beiseite, in der Tat muss man festhalten, dass der Optimismus in vielen Aspekten übertrieben war. So schrieb kann man etwa in https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/2009_12_10-Konzeption-Bildungsstandards-Bs.pdf nachlesen, was angestrebt wurde:
Mit ihrer Überprüfungs- und Entwicklungsfunktion sollen Bildungsstandards zur Entwicklung
eines Unterrichts beitragen, der auch den Kriterien „guten“ Unterrichts, die aus der Unterrichtsforschung abgeleitet werden können, entspricht. Im Kern geht es dabei um einen Unterricht, der
• auf die Entwicklung eines gesicherten Verständnisses der Inhalte abzielt,
• sinnstiftendes Lernen fördert, indem neue Zusammenhänge erschlossen werden und der
Gegenstand für die Lernenden von tatsächlicher Bedeutung ist,
• eigene Lernaktivitäten der Schülerinnen und Schüler durch kognitiv herausfordernde
Prozesse fördert und fordert,
• die Entwicklung einer positiven Einstellung zu den Lerninhalten unterstützt, indem die
Freude der Schülerinnen und Schüler am Lernen und die Entwicklung fachlicher Interessen gezielt gefördert werden,
• Schülerinnen und Schülern durch Lernangebote, die möglichst zutreffend auf den Stand
der individuellen kognitiven Voraussetzungen und des bereichsspezifischen Vorwissens
abgestimmt sind, die Chance bietet, die in den Standards formulierten Kompetenzerwartungen auch tatsächlich zu erfüllen,
• Lernstrategien und die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen vermittelt,
• Selbstvertrauen, kombiniert mit einem hohen Maß an Selbstwirksamkeitserleben fördert
und Wertorientierungen vermittelt (personale Kompetenz),
• soziale Kompetenzen (z.B. Kooperation und prosoziales Verhalten) aufbaut und in besonderer Weise fördert.
Man muss zugeben, dass diese Ziele nicht alle übererfüllt wurden. Andererseits gab es in den letzten Jahren auch gesellschaftliche Veränderungen, die die Schule vor enorme Herausforderungen gestellt haben. Es ist also nicht so einfach, den Lehrkräften oder den Didaktikern pauschal ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Allerdings stimme ich Herrn Kühnel zu, dass mehr Selbstkritik angemessen wäre – das habe ich auch schon früher angemahnt (https://ojs.didaktik-der-mathematik.de/index.php/mgdm/article/view/1215/1388). Ich denke vorallem, dass einige Interpretationen des Konstruktivismus so radikal waren, dass sie negativ wirkten, weil sie den Bedarf an fachlicher Orientierung unterschätzten. Man muss sich aber klar machen, dass kritische Positionen in Pädagogik und Didaktik es nicht immer leicht haben. So hat beispielhaft der Pädagoge Siebert seine Toleranz für abweichende Positionen so ausgedrückt: “So sei den Kritiken des Konstruktivismus zu bedenken gegeben, dass die Denkstruktur der absoluten Wahrheiten, der verbindlichen Lehrpläne, der eindeutigen Antworten, der objektiven Erkenntnisse solchen Gesellschaftssystemen entspricht, für die hierarchische, autoritäre, technokratische Strukturen charakteristisch sind.”
Wenn der erneute Leistungsabfall an deutschen Schulen keine Überraschung ist: Warum dann noch länger warten mit Handeln?
Natürlich wär’s toll, man könnte an den externen Stellschrauben drehen, wir hätten also mehr Personal, bessere Integration, dosiertere Inklusion – aber das kommt ja höchstens mittelfristig.
Anderes ginge aber schon morgen – wenn man sich die bisherigen Schwachstellen nur eingestünde:
> Smartphones rigiros raus aus dem Unterricht – und zuhause abends einsammeln lassen!
> Strukturierter unterrichten – ist gerade für schwächere Schüler enorm förderlich!
> Schulleistungen endlich angemessen bewerten – mangelhafte Kenntnisse dürfen nicht länger als ‘3’ durchgehen … warum sonst sollen Schüler sich anstrengen?
Also keine weiteren Arbeitsgruppen, Papiere, Konferenzen – sondern Taten, entlang der zentralen Bruchlinien der Bildungslandschaft!
Tatsächlich werden auch jetzt wieder die Sirenen nach der Großen Transformation rufen.
Im übrigen hat der MINT-Bereich seine Spezifika. Gewiss, in Sachen Didaktik und Fachsprache besteht Nachholbedarf. Aber Mathe etwa kann man einfach nicht immer mundgerechter machen. Mathe ist das Fach, das sich am wenigsten nebenbei erledigen lässt, das am meisten innere (kognitive) Beteiligung der Lernenden erfordert. Und solche Anstrengung scheint immer mehr jungen Menschen schwer zu fallen – angesichts der gewohnten Reize digitalen Driftens.
Es wird wohl zu einer neuen MINT-Elite kommen: diejenigen, die sich anstrengen & konzentrieren können & wollen – und die anderen.
So eine Entwicklung macht mich nachdenklich – gerade weil Mathematik und Naturwissenschaften grundlegende Bausteine sind für viele Berufe, Innovation und Technik. Wenn dort Bestandsprobleme bestehen, dann betrifft das nicht nur Schule, sondern ganze Zukunftschancen der Gesellschaft. Es zeigt mir: Man kann nicht einfach „weiter so machen“ im Bildungssystem – hier braucht es tiefgreifende Reflexion und Aktion.