NZZ: Herr Binswanger, sind wir Schweizer faul geworden?
Mathias Binswanger: So würde ich das nicht sagen. Aber es hat in Bezug auf Arbeit ein Wandel stattgefunden. Viele fragen sich: Warum soll ich noch mehr arbeiten? Ich bin bereits im Wohlstand aufgewachsen. Mehr geht nicht. Auch meine Kinder können es nicht mehr besser haben. Darum stellt man sich die Frage: Wie führe ich ein gutes Leben? Zum Beispiel mit mehr Freizeit. Rein ökonomisch gedacht, ist die Wahl von mehr Freizeit richtig, wenn ich dadurch meinen persönlichen Nutzen maximiere.
Das mag, individualistisch gedacht, aufgehen. Aber kann sich eine Gesellschaft das leisten?
Wir leben nach wie vor besser als in fast allen anderen Gegenden der Welt. Aber es gibt Herausforderungen. Wenn für jede Arztstelle drei Ärztinnen ausgebildet werden müssen, dann führt dies zu einer Gesellschaft mit vielen gut und teuer ausgebildeten Menschen, die aber nur wenig arbeiten. Trotzdem funktioniert dies in der Schweiz noch relativ gut, weil wir eine sehr hohe Erwerbstätigenquote haben. Das heisst: Über 80 Prozent der Menschen im Alter zwischen 15 und 64 sind erwerbstätig. Ein höherer Wert als in fast allen anderen Ländern. Es gibt aber auch noch einen anderen Punkt: Schweizer verzichten immer mehr auf Tätigkeiten, die wenig prestigeträchtig sind. Das beste Beispiel ist der Ingenieur.
Wie bitte? Ein Ingenieur hat keinen guten Ruf?
Einen guten Ruf schon, aber nur wenig Prestige. Seit Jahrzehnten will man mehr Ingenieure ausbilden, sie werden von der Wirtschaft stark nachgefragt. Aber es ist ein chancenloses Unterfangen. Für Schweizer Jugendliche gibt es wenig Gründe, sich für einen Beruf zu begeistern, der ein hartes Studium verlangt, geringes Sozialprestige hat und nicht einmal besonders gut bezahlt ist. Und dann kommt die Geschlechterfrage hinzu.

Die Schweiz schafft es nicht, Frauen für Mint-Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – zu begeistern, obschon man sich das zum Ziel gesetzt hat . . .
Ja. Das ist aber kein Vorwurf an die Frauen. Wo liegt der Anreiz, Fächer zu studieren, die keinen Glamour haben und bei denen man schnell als Nerd gilt? Es passiert das Gegenteil, es findet eine Feminisierung der Männer statt. Diese wollen zunehmend auch keine Mint-Berufe mehr ergreifen, sondern lieber Top-Manager werden. Bleiben wir beim Beispiel des Ingenieurs: Der Lohn ist nicht besonders hoch, weil sich dieser aus dem internationalen Wettbewerb ergibt. Also holen die Unternehmer lieber einen günstigen und gut ausgebildeten Ausländer. Das ist übrigens bei den Ärzten ähnlich. Darum erleben wir, was ich eine Luxemburgisierung nenne.
Was meinen Sie damit?
Die Verwaltung des Wohlstands. Die Einheimischen arbeiten in der Verwaltung – und haben dort gut bezahlte Jobs. Die eigentliche Arbeit wird von Ausländern gemacht.
Also konzentriert sich alles im Staat?
Nein, keineswegs. Die Bürokratisierung erfasst sowohl den Staat als auch die Privatwirtschaft. Auch in der Privatwirtschaft gibt es immer mehr verwaltende Jobs.
Wenn wir nur verwalten, verlieren unsere Arbeitskräfte wertvolle Fähigkeiten – und so bleiben wir nicht das innovative Land, das wir noch sind.
Ist diese Verwaltung des Wohlstands ökonomisch sinnvoll?
Kurzfristig profitiert man von dieser internationalen Arbeitsteilung. Die Jobs in der Verwaltung sind gut bezahlt, und Ausländer finden einen besser bezahlten Job als im eigenen Land. Langfristig betrachtet ist es jedoch gefährlich. Wenn wir nur verwalten, verlieren unsere Arbeitskräfte wertvolle Fähigkeiten – und so bleiben wir nicht das innovative Land, das wir noch sind.
Was heisst das konkret?
Dass wir uns eine Leistungsgesellschaft vorgaukeln, in der Leistung in Wirklichkeit gar nicht grossgeschrieben wird. Wir sind ja überzeugt, dass viele Schweizer in tollen, innovativen Unternehmen arbeiten. Die Firmen sind das auch – aber die Jobs, die Einheimische bekleiden, haben oft wenig mit innovativen Leistungen zu tun: Sie arbeiten im Controlling, in der Zertifizierung, im Compliance. Das ist nicht so grossartig, wie man es sich vorstellt. Darum geht oft die Motivation verloren, weil Arbeit auch Sinn ergeben sollte. Und heute muss man sagen: Bei vielen Jobs ist es schwierig, einen tieferen Sinn zu finden.
Wie konnte es so weit kommen?
Das beginnt schon bei unserem Bildungssystem. Einerseits setzt man Jugendliche unter Druck, möglichst zu studieren, weil sie sonst angeblich keine Chance auf einen guten Beruf mehr haben. Gleichzeitig muss man aber die effektiv verlangte Leistung an Fachhochschulen und Universitäten senken, weil sonst ein steigender Anteil gar keinen Bachelor oder Master erreichen würde.
Leistungen gehen schleichend zurück
Das klingt paradox.
Ja, es ist ein Paradox. Wir meinen, wir müssten mehr leisten, dabei geht die Leistung schleichend zurück, indem weniger verlangt wird. Die härteren Fächer werden aus dem Curriculum gedrängt. Und anstatt anspruchsvoller Prüfungen gelten zunehmend Gruppenarbeiten und Präsentationen als Leistungsnachweise.
Aber es ist doch wahr, dass gerade Jugendliche und junge Erwachsene immer überforderter sind, Burnouts zunehmen, psychische Probleme sowieso. Das klingt eher danach, dass die Ausbildung anspruchsvoller wird.

Subjektiv empfinden sie es oft so, weil sie persönlich überfordert sind. Sie wurden zu einem Studium gedrängt! Und es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt. Menschen sehen oft den Sinn ihrer Tätigkeit nicht mehr, sind aber gleichzeitig unter Dauerstress, dieses Projekt zu beenden, jenen Bericht oder jene Strategie fertigzustellen. Dabei fragt man sich: Wozu soll ich mich abrackern für Dinge, die mich nicht begeistern? Das ist unbefriedigend und sorgt für Stress.
Die Lehrpläne sind doch so abgestimmt, dass eben nicht mehr die reine Lehre abgefragt wird, sondern Kompetenzen gefragt sind, die dann später direkt im Beruf angewandt werden können.
Die heutige Mode der ausschliesslichen Kompetenzorientierung ist ein Problem. Der Lehrplan 21 hat Tausende solcher Kompetenzen, ist aber grossenteils ein Potemkinsches Dorf. Ein Beispiel, was von 12- bis 14-Jährigen in der Wirtschaft erwartet wird: Schüler erwerben Kompetenzen für die verantwortungsvolle Mitgestaltung einer gegenwärtigen und zukünftigen Welt für alle. Toll! Nur was heisst das konkret? Sobald man sich von der Metaebene der formulierten Kompetenzen in die reale Welt begibt, werden solche Kompetenzen zum Wunschtraum. Da muss man froh sein, wenn ein rudimentäres Verständnis darüber vorliegt, wie ein Markt funktioniert.
Dass Wissen vernachlässigt, dessen Wichtigkeit heruntergespielt wird, weil man ja alles nachschauen kann: Das führt zu Pseudo-Kompetenzen, die mehr Schein als Sein sind
Die Bildungsreformer sind überzeugt, dass Kompetenzen wichtiger sind als Wissen.
Ich weiss, aber ich halte das für einen fundamentalen, ja gefährlichen Irrtum. Kompetenzen im klassischen Sinn – also etwas können – hat man nicht ohne Grundwissen. Und wer sie anwenden will, muss denken. Wenn ich aber nichts weiss, keine Fakten im Gehirn habe, die ich abrufen kann, dann kann ich nicht sinnvoll denken. Dass Wissen vernachlässigt, dessen Wichtigkeit heruntergespielt wird, weil man ja alles nachschauen kann: Das führt zu Pseudo-Kompetenzen, die mehr Schein als Sein sind.
Das stimmt doch nicht. Heute heisst es aus den Hochschulen, dass die Studenten grosse Fortschritte machten, wenn es um den Auftritt gehe. Das ist im Berufsleben entscheidend.
Ja, die Präsentationen und Auftritte sind heute gut, aber dafür wird der Inhalt in den Hintergrund gedrängt. Dann spielt es auch keine Rolle mehr, wenn eine Bachelorarbeit mit Chat-GPT zusammengekleistert werden kann. Die Arbeiten werden zur l’art pour l’art.

Jetzt übertreiben Sie.
Schön wäre es. Aber schriftliche Arbeiten sind zum Teil einfach lästige Pflichtübungen, die man mit möglichst wenig Aufwand erledigen möchte, da sie für die spätere Tätigkeit gar nicht relevant sind. Wenn ich genauer nachfrage, fehlt sofort das Wissen.
Was können die Studenten überhaupt noch?
Damit das klar ist: Es gibt nach wie vor sehr gute und motivierte Studenten. Aber tendenziell sind sie immer kompetenter darin, oberflächlich daherzureden und gute Präsentationen zu machen. Aber sie wissen zunehmend weniger, worüber sie sprechen. Und sie haben Mühe, sich zu konzentrieren. Ein längerer Text ist eine Überforderung. Das wird aber einfach so als Entwicklung hingenommen, der man sich anzupassen hat.
Gegenseitiges Abjagen von Studenten
Wieso akzeptieren das die Universitäten und Fachhochschulen?
Da kommen die Anreize mit ins Spiel. Hochschulen wollen möglichst viele Studenten, weil ihre finanziellen Abgeltungen davon abhängig sind. Besonders stark ist der Wettbewerb an den Fachhochschulen: Für jeden Studenten gibt es Geld vom Bund, also findet ein regelrechtes gegenseitiges Abjagen statt. Das sind Fehlanreize im Bildungssystem.
Sind auch Ihre Prüfungen einfacher geworden?
Nein, die sind mehr oder weniger gleich geblieben. Generell verlieren aber die sogenannten harten Fächer an Bedeutung. Heute gibt es Studenten, die Vollzeit arbeiten und gleichzeitig Vollzeit studieren. Gewisse Lehrgänge kann man absolvieren, ohne je anwesend zu sein. Ich sage es so drastisch, weil es wahr ist: Man kann in gewissen Fällen den Bachelor erlangen, ohne die Inhalte wirklich zu verstehen. Dadurch wird die Hochschulbildung entwertet.
Sie nennen solche Akademiker heute “Fachmenschen ohne Geist”. Eine Begrifflichkeit, die vor hundert Jahren von Max Weber geprägt worden ist. Kann man nicht sagen: alles nicht so schlimm, alles schon immer so gewesen?
Nein, es ist heute anders. Weber hat zwar schon damals über die Zunahme der Bürokratie geschrieben, aber mit dem Fachmenschen ohne Geist meinte er vor allem den klassischen Arbeiter, etwa einen Fliessbandarbeiter, der ein Rädchen im Uhrwerk der Produktion darstellt. Heute finden wir den Fachmenschen ohne Geist vor allem am Bildschirm – als funktionierendes Tool einer Controlling-Bürokratie.
Das Idealbild unseres Wirtschaftssystems ist, anders als behauptet, eben nicht der Homo oeconomicus, der mit neuen Ideen glänzt und für schöpferische Störung sorgt, sondern der Fachmensch ohne Geist.
Oftmals haben diese Bürokraten das Sagen in einem Unternehmen.
Ja, die Bürokratie dominiert zunehmend. In einer Bank braucht es immer weniger Finanzanalysten, denn deren Arbeit erledigt jetzt die KI. Dafür wächst die Compliance-Abteilung unaufhaltsam. Da arbeiten dann moderne Fachmenschen ohne Geist und sind mit Dingen wie Verwaltung, Controlling, Evaluation, Regulierung oder Zertifizierung beschäftigt. Sie sehen: Das Idealbild unseres Wirtschaftssystems ist, anders als behauptet, eben nicht der Homo oeconomicus, der mit neuen Ideen glänzt und für schöpferische Störung sorgt, sondern der Fachmensch ohne Geist. Er ist heute in seiner kleinen Sache gut, er kennt die neusten Anwendungen, aber er kümmert sich nicht um übergeordnete Zusammenhänge.
Der Homo oeconomicus ist doch genau der Typ, der an eine Hochschule gehört?
Ja, natürlich braucht es eine kleine innovative Elite, die für schöpferische Zerstörung durch Innovationen sorgt. Alle reden von Ideen und Innovation, aber in Wirklichkeit wird etwas anderes gefördert. Belohnt wird in vielen Organisationen derjenige, der alles vorschriftsgemäss erledigt und dem man keine Fehler vorwerfen kann.

Können Sie das nicht selbst verändern?
Dazu ist mein Einfluss zu begrenzt. Ich kann nur eindringlich auf diese Phänomene aufmerksam machen.
Es gibt immer mehr Studenten, gerade an den Fachhochschulen. Ist das auch die Schuld der Wirtschaft, die immer höhere Qualifikationen für ihre Jobs verlangt?
Ja, aber sie reagieren nur auf einen Teufelskreis, in dem wir uns befinden. Weil die Anforderungen in vielen Berufen steigen, glaubt man, höhere Qualifikationen für ausgeschriebene Stellen verlangen zu müssen. Dies führt dazu, dass sich die Berufschancen für Menschen mit einer Berufslehre verschlechtern. Also streben auch Jugendliche mit guten handwerklichen oder technischen Fähigkeiten eine akademische Ausbildung an. Dadurch wird es schwierig, weiterhin gute Lehrlinge zu finden. Darauf reagieren Unternehmen, indem sie höhere Qualifikationen verlangen, was dazu führt, dass noch mehr studieren und die Qualität der Lehrlinge noch weiter zurückgeht.
Weniger Jugendarbeitslosigkeit bei tiefen Maturitätsquoten
Aber das ist ja nicht überall so. In Kantonen mit tiefer Maturitätsquote sind die Lehrlinge gut – und sie geniessen einen guten Ruf.
Ja, zum Glück ist das noch so. In der Schweiz zeigt es sich, dass Kantone mit tiefen Maturitätsquoten – Zug ist die Ausnahme – geringere Jugendarbeitslosenquoten haben als jene mit hohen Maturitätsquoten. Das ist die grosse Stärke der Schweiz mit ihrem dualen Bildungssystem – dort, wo die Berufslehre stark ist, haben wir noch eine Leistungsgesellschaft mit Leistung.
Muss man deswegen konstatieren, dass die Einführung der Fachhochschulen ein Fehler war?
Nein, sie sind eigentlich eine gute Idee, da sie das Bildungssystem durchlässig machen. Heute kann man mit einer Berufslehre ohne Probleme ein Studium an einer Fachhochschule absolvieren. Das sollte die Berufslehre eigentlich aufwerten. Aber stattdessen wird sie zunehmend zu einer Ausbildung zweiter Klasse. Kommt dazu, dass in verschiedensten Bereichen eine teilweise groteske Akademisierung gefördert wird. So muss ein künftiger Hauswart heute Facility-Management studieren – oder eine angehende Kindergärtnerin braucht einen Bachelor of Arts in Pre-Primary und Primary Education.
Die Hochschulen waren früher nicht der singuläre Königsweg. Da müssen wir wieder hin. Nicht die Weiterbildung per se soll belohnt werden, sondern die gute Leistung in der Praxis.
Das klingt nicht mehr nach unserem erfolgreichen dualen Weg, für den uns die ganze Welt bewundert.
Natürlich nicht. Bei uns hiess es mal: Nicht der Tellerwäscher wird zum Millionär, sondern der Lehrling kann zum CEO werden. Die Hochschulen waren früher nicht der singuläre Königsweg. Da müssen wir wieder hin. Nicht die Weiterbildung per se soll belohnt werden, sondern die gute Leistung in der Praxis. Solange jedoch das Denken vorherrscht, dass die Berufslehre zweitklassig ist, führt dies zu einer Abwertung unseres dualen Bildungssystems. Dabei ist dieses ein wesentlicher Grund dafür, dass die Schweiz heute ein so wohlhabendes Land ist.
Legende Titelbild: “Pseudo-Kompetenzen, die mehr Schein als Sein sind”: Mathias Binswanger über wenig sinnstiftende Arbeit. (Bild: Martin Rütschi/Keystone-SDA)

