
Heute widmen wir uns einer neuen Veröffentlichung, die unter folgendem Motto stehen könnte: “Mal wieder eine neue Lernkultur”
Wikipedia weiß: “In der schulpädagogischen Diskussion wurde in den letzten Jahren immer wieder die Entwicklung einer „neuen Lernkultur“ gefordert (z. B. Arnold & Schüssler; 1998; Reusser 1994; Gasser 2008). Trotz des nahezu inflationären Gebrauchs des Terminus „neue Lernkultur“, steckt hinter dem Begriff keine fest eingeführte und etablierte pädagogische Kategorie.”
Aktuell geht es um neue Empfehlungen, die sich elf “Experten” für eine neue erdachte Schule mit datengestützter Erneuerung auf allen Ebenen ausgedacht haben, mit freundlicher Beteiligung der Bertelsmann-Stiftung:
Die meisten dieser Experten sitzen an wichtigen Schaltstellen, allein sieben sind leitende Mitarbeiter von Ministerien oder Landesinstituten, dazu zwei Professorinnen und noch zwei vom DIPF, der Direktor Prof. Maaz und Frau Diedrich, vorher im Landesinstitut Hamburg tätig. Es überwiegen Leute aus Schulministerien und zugehörigen Landesinstituten, die zur rot-grünen Politik passen.
Über die Montag Stiftung hält man sich einen Bürgerrat, der rein “zufällig” (natürlich in einer orchestrierten Aktion) auf nahezu dieselben Empfehlungen gekommen ist, hier das salbungsvolle Eigenlob:
“Die soziale Spreizung ist kein Phänomen, das die Schule verursacht, sondern die ist bereits vorhanden. Die Schule hat nicht die Fähigkeit zu kompensieren. Das muss man anerkennen.”
Es ist auch kaum zufällig, dass die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung hier ebenfalls eine “neue Lernkultur” postuliert mit dem Hinweis “Neues Lernen braucht Neues Prüfen”:
https://www.boell.de/de/neue-lernkultur

In einem Interview mit Frau Diedrich
https://www.ihk.de/ihklw/online-magazin/unsere-ihk/gedankengut-jesteburg-5871836
sagt sie: “Die soziale Spreizung ist kein Phänomen, das die Schule verursacht, sondern die ist bereits vorhanden. Die Schule hat nicht die Fähigkeit zu kompensieren. Das muss man anerkennen.”
Da reibt man sich verwundert die Augen und fragt: “Warum denn wurden jahrzehntelang Reformen am Schulsystem vorgenommen bzw. empfohlen, und zwar ausdrücklich mit eben dem Ziel, die Unterschiede zwischen den sozialen Herkunftsgruppen zu schließen?
Auch in den Empfehlungen selbst steht: “Wenn es nicht gelingt, bis zur Einschulung auf die Ausprägung einer grundlegenden Kompetenzbasis hinzuarbeiten, ist Schule größtenteils nicht in der Lage, die bereits entstandenen Unterschiede zwischen den sozialen Herkunftsgruppen zu schließen.”
Da reibt man sich verwundert die Augen und fragt: “Warum denn wurden jahrzehntelang Reformen am Schulsystem vorgenommen bzw. empfohlen, und zwar ausdrücklich mit eben dem Ziel, die Unterschiede zwischen den sozialen Herkunftsgruppen zu schließen? Warum brauchten wir angeblich Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen, Ganztagsschulen, die alle eben diesem Zweck dienen sollten? Auch das Startchancenprogramm gehört doch gemäß Ankündigung dazu, die sozialindizierte Mittelzuweisung ebenso.
Da hätte man sich doch gleich auf die Zeit VOR der Einschulung konzentrieren und für das sorgen können, was heute “frühkindliche Bildung” heißt. Frau Diedrich nennt dazu: “Vielen fehlt es an einfachsten Dingen, sie können nicht zählen, nicht mit der Schere umgehen oder einen Stift halten. […] Viele Kinder haben kein Raumkonzept, keine phonologische Bewusstheit, können Laute nicht auseinanderhalten.”
Das erinnert an die sog. Berlin-Studie zu der Reform, neben Gymnasien nur noch Sekundarschulen zu haben. Vorher wurde immer gesagt, die Hauptschulen seien als “Restschulen” ursächlich für die Existenz der sog. Risikoschüler, im Bericht der Berlin-Studie steht plötzlich, dass die Risikoschüler sich schon in der Grundschule herausbilden, die aber noch nie gegliedert war. Vermutlich wird man bald feststellen, dass die Risikoschüler sich schon vor der Einschulung als solche entwickeln.
Diese Art Bildungswissenschaft scheint jahrzehntelang in die falsche Richtung gedacht und gearbeitet zu haben. Jetzt erklärt man plötzlich, die Schule könne die Versäumnisse aus der Vor-Schulzeit ohnehin nicht kompensieren.
Die “Geschwindigkeit, mit der sich die Welt verändert”, wird als pauschale Begründung dafür genommen, dass jetzt ständig eine neue “Lern- und Prüfungskultur” in den Schulen Einzug halten müsse.
Umso seltsamer ist es, dass diese Empfehlungen als Begründung Dinge nennen, die – abgesehen von Medien- und Digitalkompetenzen – schon seit Gründung der Bundesrepublik vor 75 Jahren Gültigkeit hatten. Die “Geschwindigkeit, mit der sich die Welt verändert”, wird als pauschale Begründung dafür genommen, dass jetzt ständig eine neue “Lern- und Prüfungskultur” in den Schulen Einzug halten müsse. Ebenso pauschal werden “gesellschaftliche Veränderungen” herangezogen, um beliebig alles und jedes zu begründen. Ich denke, Wissenschaft sieht anders aus. Da müssten zumindest diese gesellschaftlichen Veränderungen präzisiert und in Beziehung zu den geplanten Maßnahmen gesetzt werden. Die “multiperspektivische und multiprofessionelle Zusammenarbeit” wird ja nun schon lange postuliert, aber in aller Regel im Zusammenhang mit konkreten Defiziten, die man festgestellt hat, z.B. eine offenbar wachsende Neigung zu Gewalt unter Schülern, wachsende psychische Probleme und mangelnde Einordnung von Schülern in das System “Schule” schlechthin, neuerdings sogar religiöse Spannungen bis hin zum Mobbing.
Es ist eine alte Erfahrung, dass freiwillige Angebote gerade von denen häufig nicht genutzt werden, die das am nötigsten hätten. Dieses Dilemma wird nie wirklich thematisiert.
Dass eine ständig wachsende Zahl von Schülern “nicht-deutscher Herkunftssprache” beim Deutschunterricht zu gewissen Schwierigkeiten führen würde, war eigentlich von Anfang an klar. Da kann niemand überrascht sein. Hier wird das ausgedrückt, was sonst wohl kaum ausgesprochen wird:
https://guteschuleblog.wordpress.com/2025/07/19/leugnung-der-padagogischen-evidenz/
Wenn man konsequent die frühkindliche Bildung in den Vordergrund rücken wollte, müsste man sich auch mit Art. 6 im Grundgesetz auseinandersetzen, der den Eltern das alleinige (!) Erziehungsrecht an ihren Kindern gibt. Folglich waren schon bisher alle Angebote in dieser Richtung FREIWILLIG, und es ist eine alte Erfahrung, dass freiwillige Angebote gerade von denen häufig nicht genutzt werden, die das am nötigsten hätten. Dieses Dilemma wird nie wirklich thematisiert, aber dem Staat sind in gewisser Weise die Hände gebunden, wenn er verhindern will, dass Eltern ihre Kinder in bildungsmäßiger Hinsicht vernachlässigen oder “verderben”. So langsam beginnt man zu erkennen, dass eine jahrzehntelange Zuwanderung aus unterschiedlichen Kulturkreisen bei eben diesem Punkt der frühkindlichen Bildung Probleme produzieren muss, weil diese (zu gewissen Teilen archaischen) Kulturkreise weiterhin — über Vorstellungen der Eltern — die Kinder prägen. Plötzlich bricht im ehemaligen Land der Dichter und Denker eine “Spracharmut” aus wie eine Epidemie (“In vielen Elternhäusern findet Sprache nicht mehr statt.”).
Ein gewisser Opportunismus bei wechselnden Begründungen scheint der “neuen Bildungswissenschaft” immanent zu sein. Ständig werden neue Empfehlungen aus dem Hut gezaubert, ohne empirisch zu prüfen, was die Befolgung der schon älteren Empfehlungen eigentlich gebracht hat.
Ein gewisser Opportunismus bei wechselnden Begründungen scheint der “neuen Bildungswissenschaft” immanent zu sein. Ständig werden neue Empfehlungen aus dem Hut gezaubert, ohne empirisch zu prüfen, was die Befolgung der schon älteren Empfehlungen eigentlich gebracht hat.
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/migrationsquote-grundschulen-100.html
Was soll konkret geschehen? Da gibt es jetzt die Empfehlung: “Um allen Heranwachsenden das Erreichen des Bildungsminimums und des individuellen Bildungsmaximums zu ermöglichen, ist die Stärkung der frühen Bildung in institutionellen Kontexten eine wesentliche Voraussetzung.” Die dahinter stehende Logik erinnert daran, dass nach dem PISA-Schock zahlreiche Empfehlungen für die Grundschule postuliert wurden, offenbar in der Meinung, es gebe da einen einfachen und direkten Zusammenhang. Auch diejenigen, die ein einheitliches Schulsystem einführen wollten, beriefen sich auf Veränderungen in der Grundschule, obwohl die schon immer einheitlich war. Und als die Tendenz bei den großen Grundschultests später auch nach unten zeigte, wurde plötzlich nicht mehr so laut behauptet, die Grundschule sei doch insgesamt besser, gerade weil sie einheitlich ist. Ein gewisser Opportunismus bei wechselnden Begründungen scheint der “neuen Bildungswissenschaft” immanent zu sein. Ständig werden neue Empfehlungen aus dem Hut gezaubert, ohne empirisch zu prüfen, was die Befolgung der schon älteren Empfehlungen eigentlich gebracht hat.

Und es heißt: “Um Prüfungen konsequent in den Dienst des Lernens zu stellen, richten sie sich verstärkt auf die kriteriale und die individuelle Bezugsnorm aus.” Und weiter: “Bildungsministerien entwickeln dazu ihre Prüfungsordnungen dahingehend weiter, dass sie weniger dem formalisierten Nachweis curricular festgeschriebener Lernziele dienen als vielmehr der Dokumentation des individuellen Lernfortschritts. Dies erfordert eine mutige Steuerung, die Freiräume öffnet.” Auf diese Prüfungsordnungen und die “mutige Steuerung” durch Ministerien darf man sich schon heute freuen. “Schulen sollten alternative Formen der Leistungsdokumentation wie Lerntagebücher oder Portfolios ermöglichen.” Das klingt so, als ob das Durchfallen durch Prüfungen tendenziell abgeschafft werden soll. Das passt zu der bereits stattfindenden Noteninflation im Abitur, es passt auch zu den großen IQB-Tests, die wiederholt feststellten, dass die geforderten Kompetenzen von einem großen Teil der Schüler einfach nicht erfüllt werden. Für die Schüler hat das jedenfalls keine Konsequenzen, man geht achselzuckend zur Tagesordnung über. Die angeblich “verbindlichen” Bildungsstandards werden so zu einer unverbindlichen Nebensächlichkeit, ganz im Gegensatz zu den Ankündigungen, als sie formuliert wurden.
Der Gipfel der Unlogik wird dann in Abschnitt 8 präsentiert. Es heißt: “Dieses Umdenken setzt eine konsequent datengestützte Steuerung auf allen Ebenen des Systems voraus.” Es ist die Rede von einer “Lernverlaufsdiagnostik, die ein lernbegleitendes Feedback zu bereits Erreichtem ebenso wie noch zu Lernendem ermöglicht. “
“Und vor allem brauchen wir bei jedem Schritt ein bedingungslos auf gemeinsames Lernen und Entwicklung ausgerichtetes Mindset aller schulischen Akteure mit dem Ziel, allen Heranwachsenden bestmöglichen Lern- und Entwicklungserfolg zu gewähren.” Es ist wohl der Traum aller Schulreformer, dass sie — sozusagen auf einen Schlag — die Vorstellungen und Überzeugungen aller Lehrer (neudeutsch: deren Mindset) gegen neu formulierte austauschen können. Wer aber befiehlt da mit welchem Recht ein “Mindset” aller Akteure? Ist das ein demokratisches Prinzip?
Der Gipfel der Unlogik wird dann in Abschnitt 8 präsentiert. Es heißt: “Dieses Umdenken setzt eine konsequent datengestützte Steuerung auf allen Ebenen des Systems voraus.” Es ist die Rede von einer “Lernverlaufsdiagnostik, die ein lernbegleitendes Feedback zu bereits Erreichtem ebenso wie noch zu Lernendem ermöglicht. “Bisher setzte man an diese Stelle das “Monitoring” durch standardisierte Tests, deren Statistiken dann gewisse Vergleiche auch zwischen Schulen, Bezirken und Bundesländern ermöglichten. Die Lehrer werden für ihre Klassen natürlich auch irgendwelche Notizen haben, die etwas aussagen.
Aber was genau will man jetzt erfassen, wo es um den “individuellen Lernverlauf” geht? Bei 10-11 Millionen Schülern will man durch die Noten zentral erfassen, wer sich verbessert oder verschlechtert hat, ohne die genauen Gründe auch nur zu kennen? Will man dann auch erfassen, wer die Schule schwänzt, wer gegen Mitschüler gewalttätig wird, wer sich am Cybermobbing beteiligt? Soll auch das einzelne “Portfolio” der Schüler mit erfasst werden, etwa mit elektronischen Fotos? Sünden von Erstklässlern bleiben so jahrzehntelang in der Datenbank? Dazu braucht es dann jedenfalls eine “Verankerung datenbezogener Kompetenzen von Lehrkräften”, aber was genau soll das Ziel sein?
Man postuliert “hochwertige Daten für die individuelle Diagnostik und Förderung: qualitativ hochwertige Individualdiagnostische Instrumente”. Die sollen dann erst von anderen entwickelt werden. Was ist den “hochwertig”, und was will man dann mit den Daten genau anfangen? Ganz abgesehen von den immer wieder gemeldeten Sicherheitslücken bei solchen Systemen. Man kann fast darauf wetten, dass es eine größere Datenpanne geben wird, weil die Behörden das System nicht unter Kontrolle haben.

Zum Schluss fehlt noch die Rolle der Bertelsmann-Stiftung bei diesem Spiel: “Die Bertelsmann Stiftung fungierte in diesem Prozess in der Rolle als Brückenbauerin – zwischen Praxis, Forschung und Bildungsverwaltung. Zu diesem Zweck hat sie die Arbeitssitzungen der Expert:innengruppe und die Erarbeitung der Empfehlungen organisatorisch und inhaltlich begleitet und das Programm für die Arbeitssitzungen gemeinsam mit der Expert:innengruppe entwickelt.”
Also die Bertelsmann-Stiftung hat das nicht nur in Auftrag gegeben und finanziert, sondern sie hat sich inhaltlich eingemischt und dafür gesorgt, dass alles im Sinne ihrer “Agenda” ausfällt. Sie fühlt sich dabei als einer der “verantwortlichen Akteur:innen”, so steht es gleich auf der ersten Seite. Wichtig ist da natürlich die weitere Digitalisierung der gesamten Schulverwaltung, denn nur damit könne man die hehren Ziele erreichen.
Wie soll man das nennen? Vielleicht: “gelenkte Wissenschaft” in Anlehnung an “gelenkte Demokratie”?
Einen schönen Sonntag wünscht
Wolfgang Kühnel

