“70 bis 80 Prozent der Studenten haben massive Probleme, sich auch nur mittelschwere Texte zu erarbeiten.”
(Michael Sommer, Althistoriker, Universität Oldenburg)
“Es dauert drei Semester, bis wir zur eigenständigen Beschäftigung mit Literatur kommen. Vorher üben wir Schritt für Schritt ein, wie man sich literarische Texte oder Fachartikel erschließt.”
(Maximilian Benz, Germanist, Universität Bielefeld)
“Man hört schon mal von den Studierenden: Für zwei ECTS-Punkte lese ich doch kein Buch! Das Lesepensum hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre in etwa halbiert.”
(Caroline Roeder, Literaturdidaktikerin, PH Ludwigsburg)
“Viele Erstsemester erwarten, dass sie alle Informationen mit dem Löffel gefüttert bekommen. Wenn man sagt, lest das mal im Lehrbuch nach, sind viele geschockt.”
(Jennifer Ewald, Biologin, Universität Tübingen)
“Der größte Unterschied ist vielleicht: Früher waren komplexe Fragestellungen möglich, das ist nun nicht mehr so.”
(Sonja Emmerling, Altgermanistin, Universität Regensburg)

Gefallen sind diese und ähnliche Sätze in Gesprächen mit rund zwei Dutzend Professorinnen und Professoren in den vergangenen Wochen. Die meisten der Befragten teilen die Diagnose: Die neue Generation Studierender liest kaum noch längere Texte, von Büchern ganz zu schweigen. Weil sie nicht will oder nicht kann.
Dabei gehört die Ehrfurcht, ja Überforderung angesichts des in Staatsbibliotheken versammelten menschlichen Wissens zur Aura einer Hochschule. Da stehen endlose Regalreihen, gefüllt mit Standardwerken aus Ökonomie, Filmwissenschaften, Soziologie neben armdicken Abhandlungen über die Figur des Gauklers im Mittelalter neben den kommentierten Ausgaben von Nietzsches Gesamtwerk.
Universitäten, an denen nicht mehr gelesen wird – das klingt absurd.
Und wenn schon Studierende, die künftige Geisteselite des Landes, von Büchern überfordert sind, dann ist das womöglich ein Zeichen dafür, dass das Lesen insgesamt infrage steht. Dass es gewissermaßen zurück in die Zukunft geht: weg vom gelesenen Wort, zurück zum gesprochenen, das nun audiovisuell und multimedial daherkommt, bestehend aus Videoschnipseln, KI-generierten Avataren, Podcasts.
Lässt sich die Lesekrise bemessen? Welche Gründe hat sie? Und: Ist es überhaupt schlimm, wenn weniger gelesen wird?
An diesen Fragen hängt viel. Für den Organismus Hochschule, dessen Zellen sich aus der Auseinandersetzung mit Text, Theorie, Komplexität speisen. Und mehr noch für uns als Gesellschaft. Denn wenn die wichtigste Kulturtechnik der Moderne, die Aufklärung und Demokratie brachte, ihre Kulturtechniker verliert – verändert das nicht auch unser Denken, Fühlen, Handeln?
Ganze Romane würden von zu wenigen vorbereitet, um wirklich gemeinsam daran arbeiten zu können. Die Studierenden beschwerten sich: “Zu viel, zu lang.”

Augsburg im Februar, Annina Klappert wartet in einem Raum der Universität auf ihre Studierenden. Die Professorin für vergleichende Literaturwissenschaften unterrichtet seit etwa 20 Jahren – und nimmt “zunehmend Kurzgeschichten in den Seminarplan auf”, wenn es sinnvoll sei. Ganze Romane würden von zu wenigen vorbereitet, um wirklich gemeinsam daran arbeiten zu können. Die Studierenden beschwerten sich: “Zu viel, zu lang.” Die Veranstaltung heute heißt “Close Reading”. Es geht darum, gemeinsam durch den Text zu gehen, Motive und Bezüge zu finden und diese zu diskutieren.
Papier hat niemand der sechs Studierenden vor sich, die heute gekommen sind. Auf den grauen Tischen stehen Tablets und ein Laptop, ein Student liest auf dem Handy. Das Seminar verläuft die meiste Zeit nach einem Schema: Die Professorin stellt eine Frage, etwa “Warum ist diese Geschichte Literatur?”. Die Studierenden zögern. Die Professorin hilft: “Denken Sie an den Umgang der Autorin mit Zeit.” Dann meldet sich jemand. Nach 30 Minuten stoßen zwei weitere Studierende verspätet zum Seminar dazu, Lehramtsstudentinnen, wie die meisten an literaturwissenschaftlichen Fakultäten.
Kurze Umfrage unter den Seminarteilnehmern: Wie ist das so mit dem Lesen im Studium?
“Dass ich für die Uni ein ganzes Buch lesen muss, passiert sehr selten.”
“Bei der Theorie, da bin ich ehrlich, habe ich das meiste nie gelesen. Das verstehe ich ab dem dritten Satz eh nicht mehr, und es bringt mir auch nichts.”
“Wir hatten ein Seminar, da sollten wir ein ganzes Buch mit 300 Seiten lesen. Da sind nach der ersten Stunde viele nicht mehr gekommen.”

Es gibt Hunderte Hochschulen in Deutschland, zwei Millionen Studierende. Wofür stehen diese acht aus Raum D-1006 an der Universität Augsburg – von denen immerhin drei sagen, in ihrer Freizeit viel zu lesen? Repräsentative Erhebungen, welche die akademischen Lesezeiten und Fähigkeiten von Studierenden im Langzeittrend vergleichen, fehlen. Es gibt sie weder in Deutschland noch international. Dennoch existiert neben persönlichen Erfahrungen eine Vielzahl von Indizien, die in eine Richtung weisen: Die Literalität geht zurück.
Digitale Geräte machen Büchern Konkurrenz – und verlangen nach Aufmerksamkeit. © Caroline Heinecke für DIE ZEIT
Die Lesefähigkeiten deutscher Schülerinnen und Schüler haben einen Tiefpunkt erreicht, das zeigen Vergleichsstudien der Kultusminister. Es betrifft nicht nur die Gruppe der bildungsschwachen Jugendlichen. Auch an den Gymnasien sinken die Leistungen seit 15 Jahren kontinuierlich.
Gleichzeitig steigt laut Pisa-Daten die Zahl der Lesemuffel. Hier gibt nur noch jeder zweite Neuntklässler an, zum Vergnügen zu lesen, vor 15 Jahren waren es noch fast zwei Drittel.
Das Klagen über die Leseschwäche an der Uni zieht sich quer durch die Fächer. Zwar gelte sie nicht für alle Studierenden, betonen die Professoren. “Die Spitze, die besten 10 bis 20 Prozent, ist wahnsinnig gut, eloquent, sie lesen viel”, sagt der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer.
Das gilt auch für Deutschlands Akademiker. Jährlich erhebt das Allensbach-Institut das Leseverhalten verschiedener Bevölkerungsgruppen. 2024 lasen demnach nur noch 17 Prozent der Studierenden täglich, 2002 waren es 43 Prozent. Fast jeder fünfte Student schaut nicht einmal jeden Monat in ein Buch.
Das Klagen über die Leseschwäche an der Uni zieht sich quer durch die Fächer. Zwar gelte sie nicht für alle Studierenden, betonen die Professoren. “Die Spitze, die besten 10 bis 20 Prozent, ist wahnsinnig gut, eloquent, sie lesen viel”, sagt der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer. Annina Klappert aus Augsburg und andere erkennen auch eine deutlich erhöhte Lesebereitschaft im Masterstudium.
“Deep Reading” heißt diese Fähigkeit, vertieftes Lesen. Es dauert mehrere Jahre, bis sich die Schaltkreise dafür im Gehirn bilden. Man muss sie sich erarbeiten.
Klar, auch vor 10 bis 15 Jahren sei längst nicht jeder Studierende ein Vielleser gewesen. Dennoch hätten sich die Verhältnisse verschoben, verschärft seit der Pandemie. “Die ganz Schwachen gab es immer. Jetzt betrifft die Lesekrise die breite Mitte”, sagt Michael Sommer aus Oldenburg. Maximilian Benz, Literaturprofessor aus Bielefeld, ergänzt: “Man muss die Texte gemeinsam durchgehen und besprechen, damit die wesentlichen Infos hängen bleiben. Früher haben Studierende vielleicht auch nicht ständig Romane verschlungen, aber sie konnten sie selbst bewältigen.”
Das ist schon eine Horrorvision, dass Leute, die selbst keine Bücher lesen, Kindern bald die Freude am Lesen vermitteln sollen.
Damit ist nicht die Fertigkeit gemeint, Sätze zu entziffern und zu verstehen. Beim akademischen Lesen geht es um das Eintauchen in eine These oder Theorie, in die Widersprüchlichkeit eines Protagonisten. “Deep Reading” heißt diese Fähigkeit, vertieftes Lesen. Es dauert mehrere Jahre, bis sich die Schaltkreise dafür im Gehirn bilden. Man muss sie sich erarbeiten. Maryanne Wolf, eine der führenden Leseforscherinnen der Welt, schreibt dazu: “Auf dem Weg zum guten Leser gibt es keine Abkürzung.” Er endet auch nicht mit dem Abitur. “Das akademische Lesen ist ein Kontinuum”, heißt es in einer Studie zur Leseentwicklung Studierender. Vom Erstsemester bis zum Expertenleser in einem Fach kann es deutlich länger dauern, als es vom Erstklässler zum Harry-Potter-Leser braucht.
Gerade unter angehenden Lehrern und Lehrerinnen scheint Lesen alles andere als selbstverständlich zu sein, ist in vielen Gesprächen zu hören. “Das ist schon eine Horrorvision, dass Leute, die selbst keine Bücher lesen, Kindern bald die Freude am Lesen vermitteln sollen”, sagt etwa Geschichtsprofessor Michael Sommer.
Die Top 10 der Abi-Lektüre
- Woyzeck (1837) Georg Büchner
- Corpus Delicti (2009) Juli Zeh
- Der zerbrochene Krug (1811) Heinrich v. Kleist
- Faust I (1808) J. W. v. Goethe
- Heimsuchung (2008) Jenny Erpenbeck
- Der Sandmann (1816) E. T. A. Hoffmann
- Faust II (1832) J. W. v. Goethe
- Mario und der Zauberer (1930) Thomas Mann
- Das kunstseidene Mädchen (1932) Irmgard Keun
- In der Strafkolonie (1919) Franz Kafka
Fragt man Professorinnen und Professoren nach den Gründen, warum die Leselust und die Lesekompetenzen abnehmen, lautet eine Antwort: weil die Leistungen der Studierenden insgesamt sinken. Das ist plausibel, rein rechnerisch betrachtet. Vor 40 Jahren studierte nur jeder Vierte eines Jahrgangs, heute ist es jeder Zweite, darunter viele, die ohne Bücherwand aufgewachsen sind, eine andere Muttersprache als Deutsch sprechen. “Wenn man die Abiturientenquote derart ausweitet, ändern sich auch die Verhältnisse an der Universität. Das kann gar nicht anders laufen”, sagt Christian Dawidowski, Leseforscher an der Universität Osnabrück. Das Bildungsniveau der Bevölkerung ist durch diese Demokratisierung also insgesamt gestiegen, jenes an den Universitäten hingegen eher verwässert worden.
Eine naheliegende These: Das Smartphone ist schuld, das digitale Dauerfeuer. Danach haben sich die Gehirne des konzentrierten Vertiefens in einen Text entwöhnt, weil das Belohnungszentrum, angetrieben von TikTok oder Instagram, immer neuen Zucker braucht.
Doch das ist nur eine Erklärung. Denn die Krise der Lesekultur reicht über Deutschland hinaus und betrifft auch Spitzenuniversitäten, die nur die besten eines Jahrgangs nehmen. “The Elite College Students Who Can’t Read Books”, titelte das US-Magazin Atlantic im vergangenen Oktober.

Eine naheliegende These: Das Smartphone ist schuld, das digitale Dauerfeuer. Danach haben sich die Gehirne des konzentrierten Vertiefens in einen Text entwöhnt, weil das Belohnungszentrum, angetrieben von TikTok oder Instagram, immer neuen Zucker braucht. Tatsächlich verdichten sich die Belege dafür, dass Smartphones der Konzentration und Aufmerksamkeitsspanne – und damit den Grundlagen des Lesens – schaden. Kognitionsforscher Christian Montag, der die Auswirkungen der Digitalisierung auf unser Denken erforscht, sagt: “Wir wissen mittlerweile, dass eine exzessive Smartphone-Nutzung mit schlechteren akademischen Leistungen und mit weniger Volumen in manchen Bereichen des Gehirns korreliert.” Dabei sei aber nicht klar, “ob das Smartphone zu weniger Hirnvolumen führt oder weniger Hirnvolumen zu einer exzessiveren Smartphone-Nutzung”. Besonders negative Konsequenzen hätten “die sozialen Medien, deren Geschäftsmodell es ist, unsere Aufmerksamkeit zu absorbieren und mit Push-Benachrichtigungen ständig abzulenken”.
Eine andere Erkenntnis lautet: Lesen ist nicht gleich Lesen, das Gehirn verarbeitet jedes Medium anders. Eine Reihe von Metastudien zeigt, dass das Lesen auf Papier der digitalen Lektüre überlegen ist – insbesondere bei komplexen Texten. Das liegt nicht nur an dem Ablenkungspotenzial digitaler Geräte: Hier eine neue WhatsApp-Nachricht, dort ein Herzchen für einen Post, und wieso scrolle ich jetzt schon wieder seit zehn Minuten … Der Bildschirm selbst konditioniert dazu, Texte bloß zu überfliegen. So wandern die Augen – das zeigen Studien zur Blickerfassung – bei der Digitallektüre oft im Zickzackmuster über den Text, ohne ihn ganz zu erfassen. Andere Bildschirmleser springen von einem Satzanfang zum nächsten auf der Suche nach relevanten Informationen. Das gilt insbesondere für Sachtexte. Was dem schnellen Erfassen einer E-Mail nützt, schadet dem Deep Reading.
Auch die Haptik spielt eine Rolle: Papier lässt sich anfassen, gedruckte Seiten nehmen Raum ein. Der Leser gewinnt ein Gefühl dafür, wie lang ein Text ist, und merkt sich besser, wo ein Satz stand. “Am Bildschirm sind die Informationen dagegen nicht richtig greifbar”, sagt Peter Gerjets, Lernforscher am Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien. Es ist also nicht nur ein Boomer-Tick, sich Digitaltexte auszudrucken.
Denkbar wäre es, dass die Digital Natives sich anpassen, also jene, die mit digitalen Geräten aufgewachsen sind, mittelfristig mehr aus ihrer iPad-Lektüre ziehen, weil sich ihre Gehirne darauf einstellen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Qualität des digitalen Lesens am Bildschirm ist über die letzten zwei Jahrzehnte gesunken. Für die Leseforscherin Maryanne Wolf ist das ein Beweis für die “Verflachungsthese”, also die Annahme, dass die jüngeren Generationen tatsächlich schlechter lesen können, egal auf welchem Medium. Demnach verändere der Dauerkontakt mit dem Digitalen das Gehirn derartig, dass es seine Lesefähigkeit verliert – und darüber weitere Kompetenzen einbüßt. So argumentiert auch die Stavanger-Erklärung. “Das Lesen langer Texte ist von unschätzbarem Wert für eine Reihe kognitiver Leistungen wie Konzentration, Aufbau eines Wortschatzes und Gedächtnis”, heißt es darin. Die Erklärung wird nach einer Konferenz der weltweit führenden Leseforscher im norwegischen Stavanger 2019 veröffentlicht. Drei Jahre später erscheint ein digitales Werkzeug, das den Studierenden das Lesen langer Texte vollständig abnimmt: ChatGPT.
Wenn ich das Thema einer Hausarbeit langweilig finde oder irrelevant für mein Leben, dann lese ich nur die Kurzzusammenfassung von ChatGPT.
“Wenn ich das Thema einer Hausarbeit langweilig finde oder irrelevant für mein Leben, dann lese ich nur die Kurzzusammenfassung von ChatGPT.” “In Anglistik lese ich alles im Original, in Philosophie eher nicht. Da sind die Texte wirklich schwer. Mit dem Stil von Heidegger etwa kann ich nicht so viel anfangen.” “Ich habe vor einem Jahr Spanisch und Wirtschaft auf Lehramt angefangen, und ich habe bislang noch nie einen Text komplett gelesen. Das kann die KI einfach viel besser.”

Unruhe, Kopfschütteln: Das letzte Statement geht den meisten der Teilnehmer des Seminars für Fachdidaktik dann doch zu weit. “KI im Unterricht” lautet das Thema der heutigen Sitzung. Zwölf angehende Lehrkräfte lernen in einem schmucklosen Raum der Universität Tübingen, wie sie künstliche Intelligenz im Schulalltag nutzen können.
Sie lesen alle gern, sagen sie, Romane, Kurzgeschichten. Tatsächlich berichten Professoren wie Verlage von einem Boom unter jüngeren Leserinnen – für junge Männer gilt das nicht –, wenn es um Fantasy und Romanzen geht, Stichwort “BookTok” (siehe nebenstehender Text). Aber wenn im Studium die Gedanken zu fremd sind, die Sätze zu verschlungen, nutzen sie ChatGPT. Dann also, wenn es anstrengend wird.
Auch hier fehlen verlässliche Zahlen, aber der Lernforscher Peter Gerjets schätzt, dass für “70 bis 80 Prozent” der Studierenden KI zum normalen Werkzeug geworden ist, um Texte zu formulieren oder Lektüren abzukürzen. Und wie viele Studierende gehen noch in eine Bibliothek, um ein Buch auszuleihen? “Viele sind es nicht mehr.” Gerade hat sein Institut die Bibliothek verkleinert und “drei Viertel der Bücher weggeschmissen”.
Nun könnte man argumentieren, dass das Erkunden verschachtelter Gedankengebäude heute nicht mehr nötig ist. Weil Immanuel Kants kategorischer Imperativ in einem YouTube-Film besser erklärt wird, als es der Autor selbst in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vermochte. Und fassen KI-Modelle wie ChatGPT Kafkas Schloss nicht perfekt zusammen und liefern Interpretationen gleich mit? Muss das Original da noch sein?
Vieles spricht dafür. Weitgehend belegt ist, dass Literatur Empathie verstärkt, weil man lesend lernt, sich in andere hineinzuversetzen; im Hirn laufen beim fiktionalen Erleben ähnliche Prozesse ab, als würde man die Situation in der Realität erleben. Auch das kritische Denken profitiert vom Lesen, das überdies vor autoritären Tendenzen zu schützen scheint. Der Oldenburger Historiker Michael Sommer formuliert es so: “Mir fehlt die Fantasie, wie eine Demokratie damit klarkommen soll, wenn 80 Prozent keine Texte lesen können.”
Allerdings hat die kulturelle Elite noch jedes neue Medium verteufelt: Fernsehen, Kino, Radio, Comics, ja selbst Bücher. Sokrates sah in der aufkommenden Schriftkultur eine Gefahr, die sehr aktuell klingt: Argumente in Form von Buchstaben auf Papyrusrollen zu lesen, statt sie im philosophischen Gespräch auszutauschen, würde nur oberflächliches Wissen bringen, ja, zur Verdummung führen, befand der Philosoph (was sein Schüler Platon sofort, nun ja, niederschrieb). Heute weiß man, das Gegenteil war der Fall. Statt brain rot zu befeuern, erwuchsen aus der Schriftkultur die Säulen der Moderne. Und 2.500 Jahre später wurde der politische Diskurs durch das Privatfernsehen zwar zunehmend zur Entertainmentshow, wie Neil Postman 1985 in Wir amüsieren uns zu Tode diagnostizierte. Aber die liberale Demokratie siegte unbeeindruckt von CNN und RTL über den Kommunismus und konnte sich, bislang zumindest, ziemlich lange halten. Handelt es sich nun, wo das Lesen bedroht ist, also bloß um die Neuauflage eines uralten kulturpessimistischen Lamentos?
Nein, sagen Leseforscher. Um einen Autor wirklich zu verstehen, müsse man dessen Argumentationswege nachvollziehen, erklärt Andreas Gold, pädagogischer Psychologe an der Universität Frankfurt. Dafür müsse man ihn sorgfältig lesen, mit eigenen Gedanken verknüpfen, Anmerkungen machen. “Sich einen Text aneignen”, nennt Gold das. Lese man Theodor Adornos Minima Moralia bloß als Zusammenfassung einer KI, könne man zwar eine Multiple-Choice-Klausur bestehen, aber “in einem Prüfungsgespräch über das Buch wird man scheitern”.
Ein Studium dient dazu, bestehende Gedankengebäude zu durchdringen, Thesen zu hinterfragen, vielleicht Gegenthesen aufzustellen – also eigenständiges Denken zu lernen. So funktioniert Wissenschaft – und auch politische Willensbildung. Der Einsatz von KI scheint das zu bedrohen, wie eine neue Studie andeutet, an der Microsoft-Forscher aus Cambridge und die Carnegie Mellon University aus Pennsylvania beteiligt waren. KI-Nutzung sorgte bei den Probanden dafür, dass sie weniger kritisches Denken zeigten. Langfristig könne das “zu einem Rückgang der Problemlösungskompetenzen” führen, schreiben die Forscher. Und: Je höher das Vertrauen in die Fähigkeiten der KI, desto weniger kritisches Denken legten die Probanden an den Tag.
Ebenso irreführend ist die Vorstellung, man könne auf eigenes Wissen verzichten, da sämtliche Informationen der Welt jederzeit im Internet abrufbar seien. Nur wer viel gelesen habe und so einen Wissensschatz aufbaue, könne neue Informationen einordnen, Zusammenhänge kritisch bewerten und Probleme lösen, schreibt die Leseforscherin Maryanne Wolf. Caroline Roeder, die an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Lehrkräfte ausbildet, ergänzt: “Man staunt, wie wenig Kontext vorhanden ist. Als ich den Roman Hitlerjunge Quex behandelt habe, konnten die Studierenden nicht erkennen, ob das ein Propagandatext von Nazis ist oder ein kritischer Text über die NS-Zeit.”
Womöglich vollzieht sich also tatsächlich ein epochaler Wandel, mit Konsequenzen für Gehirn und Gesellschaft, Bildung und Wissenschaft, die wir noch nicht überblicken.
Was also tun? Sie habe das Gefühl, die Professorenschaft sei gespalten, sagt Jennifer Ewald. “Ein kleiner Teil ignoriert das Problem, ein Teil möchte den Gebrauch von KI möglichst stark einschränken, die Mehrheit möchte sich damit so auseinandersetzen, dass die Studierenden die KI als Lese- und Lerntool nutzen können.” Die Professorin gibt an der Universität Tübingen ein Seminar zum “wissenschaftlichen Lesen und Schreiben” für Biologiestudenten. Bei Ewald lernen die Studierenden, was Deep Reading in den Naturwissenschaften bedeutet. Etwa, ob ein Autor aus seinen Experimenten die richtigen Schlussfolgerungen zieht oder ob seine Daten ausreichen, um eine Hypothese zu bestätigen. Dabei reicht es nicht, sich auf Zusammenfassungen einer KI zu verlassen. “Dafür muss man die Originalartikel genau lesen”, sagt Ewald.
In Chemie, Mathematik oder Physik bieten Universitäten schon vor dem Studienbeginn sogenannte Brückenkurse an, weil das naturwissenschaftliche Vorwissen aus der Schule bei vielen für das Studium nicht ausreicht. Brückenkurse fürs (akademische) Lesen scheinen der nächste logische Schritt. An der Universität Regensburg etwa wird Vergleichbares zum Wintersemester 2025 auch im Germanistikstudium eingeführt. In einer eigens dafür konzipierten Lehrveranstaltung soll vermittelt werden, wie man studiert, also: wie man liest. Sonja Emmerling, die dort als Akademische Oberrätin lehrt, sagt: “Der Blick für Zusammenhänge, Motive, den roten Faden fehlt. Ich stehe teilweise fassungslos vor meinen Studierenden. Wir hoffen, dass das neue Programm dagegen hilft.” Auch an der Universität Bielefeld diskutiert man eine Art Bootcamp, um Erstsemester ans Lesen heranzuführen, sagt Literaturprofessor Maximilian Benz: “Weil fast die gesamte Kohorte betroffen ist.”
Zugleich kehren Lektürelisten zurück an die Unis. Einst gehörten sie in den Geistes- und Sozialwissenschaften zum Pflichtprogramm, später wurden sie vielerorts abgeschafft. Weil die Idee eines Literaturkanons veraltet erschien. Weil eine Lesepflicht gegen das Prinzip eines selbstbestimmten Studiums verstieß. Mittlerweile halten viele Fachbereiche dies für einen Fehler.
An der RWTH Aachen gibt es etwa bereits seit 2017 wieder eine “Aachener Leseliste”. Ihr explizites Ziel lautet, “dem Rückgang des Lesens” zu begegnen. Aus einem Lektürekatalog müssen sich die angehenden Germanisten 85 Texte aus verschiedenen Epochen aussuchen, die sie im Laufe ihres Studiums (“Nutzen Sie die vorlesungsfreie Zeit.”) lesen. Am Ende steht eine mündliche Prüfung.
Ähnlich hält es der Wiener Leseforscher Günther Stocker, der alle Teilnehmer seiner Vorlesung zur Literaturgeschichte verpflichtet, zehn exemplarische Werke zu lesen. Die mündlichen Prüfungen seien “richtig viel Arbeit”, sagt Stocker, “aber ich kann dadurch sicher sein, dass die Teilnehmer wirklich viel gelesen haben.”
Die Reaktion vieler Hochschulen auf die sinkende Anstrengungsbereitschaft lautete bislang, es den Studierenden leichter zu machen: statt Bücher nur Auszüge diskutieren, Lehrinhalte in Spiele verpacken (Gamifizierung), Theorien über YouTube-Filmchen erklären. “Vielleicht sollten wir eher das Gegenteil machen und mit den Rezeptionsgewohnheiten der Studierenden brechen”, sagt Lernforscher Peter Gerjets. Es ihnen also wieder schwerer machen. Gerjets ist sich sicher: “Die Kompetenz zum kritischen Lesen ist heute nötiger als jemals zuvor.” Nicht nur um im Studium erfolgreich zu sein, auch um ethische Fragen zu durchdringen, politische Meinungsmache zu erkennen.
Viele mögen das vertiefte Lesen verlernt haben, aber verloren ist es deshalb nicht, wie eine neue Studie aus Kanada zeigt. Schon wer zwei Wochen auf dem Handy das Internet ausschaltete, konnte sich wieder besser konzentrieren. Pausen von der Reizüberflutung sind wie ein Spa fürs Gehirn. Apps, mit denen man seinen Smartphone-Konsum einschränken kann, werden millionenfach heruntergeladen. Freedom heißt eine der erfolgreichsten. Wie die Freiheit, mal wieder ein Buch zu lesen.
Wenn Professoren lieber die Ansprüche runterschrauben, statt ihre Erwartungen konstant zu halten und ungenügende Leistungen durchfallen zu lassen. Ich schüttle innerlich meinen Kopf! Dort beginnt der Rattenschwanz an Problemen.
Es sind viel zu viele Personen im Studium, welche kognitiv nicht dorthin gehören. Diese Menschen kommen in Positionen, für die sie nicht befähigt sind. (Siehe zb deutsche Politik)
Die Intelligenzforscherin E. Stern hat bereits einiges dazu geschrieben. Wir müssen die Fähigsten weiter kommen lassen. Unsere Welt wird stets komplexer.
Sie dürfen aber bitte nicht außer Acht lassen, dass es Parteipolitiker sind, die den Hochschulen zu hohe Abbruchquoten negativ ankreiden und ggfs. sogar mit finanziellen Konsequenzen drohen. Dann heißt es auch: Wenn in einer Klausur 80 % durchfallen, ist wohl der Dozent schuld daran. So gesehen werden die Dozenten auch erpresst. Und es breitet sich der dumme Spruch aus, die Hochschulen müssten die Studienanfänger “da abholen, wo sie sind”. Das bedeutet konkret, mangelnde Vorkenntnisse — egal wie sie sind — müssten akzeptiert und ausgeglichen werden. Die schulische Autoritäten verkünden dazu ganz ungeniert, die Schule habe keine Bringschuld gegenüber den Hochschulen. Aber im Gegensatz dazu wird gefordert, dass Defizite bei den Erstklässlern bitte durch die Kitas ausgeglichen werden sollen. Dazu gehört ja inzwischen auch die Kenntnis der Landessprache. In den Grundschulen stellt sich dann dasselbe Problem: Niemand soll durchfallen, niemand soll sitzenbleiben, niemand soll in Sonderschulen “abgeschoben” werden.