Berufsbildung 2040 - Perspektiven und Visionen

Die Berufslehre wird zunehmend zum Zwischenschritt zur Tertiärbildung – und das hat Folgen

Bildung hat in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen, und immer mehr Jugendliche streben einen höheren Bildungsabschluss an. Der Tertiärabschluss wird in der Schweiz zur neuen Norm, während die Berufslehre zunehmend als Sprungbrett zu weiteren Bildungswegen dient. Die Berufsbildung muss künftig nicht nur auf einen spezifischen Beruf vorbereiten, sondern auch das Fundament für die weitere Ausbildung legen. In der Zukunft werden daher die Berufsmaturität und die Stärkung der Grundkompetenzen während der Berufslehre wichtiger. Zudem stellt sich die Frage des Aufbaus dualer Studiengänge. Ein Beitrag von Gastautor Daniel Oesch.

 

In den letzten Jahrzehnten sind in der Schweiz die Nachfrage der Unternehmen nach Qualifikationen und das Angebot an höher qualifizierten Arbeitskräften stark gestiegen. Verfügten im Jahr 2000 26 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 25 bis 34 Jahren über einen Abschluss einer Hochschule oder einer Höheren Berufsbildung, waren es 2023 schon 52 Prozent. Der Bundesrat rechnet damit, dass ab 2028 mehr Personen mit einem Tertiärabschluss erwerbstätig sein werden als Personen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II.

Gastautor Daniel Oesch

Tertiärabschluss als neue Norm

Der Tertiärabschluss wird somit in der Schweiz im nächsten Jahrzehnt zur neuen Normalität. Für die Zugewanderten der letzten zehn Jahre gilt dies bereits heute: Mehr als die Hälfte von ihnen verfügt über einen Tertiärabschluss, in der Regel von einer Hochschule. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Bildungsaspirationen der Jugendlichen und ihrer Familien stetig steigen und sie immer häufiger eine tertiäre Ausbildung anstreben.

Dies bedeutet keineswegs, dass die Berufslehre ausgedient hätte. Sie wird jedoch für einen wachsenden Teil der Lernenden nurmehr zu einer Zwischenstufe auf dem Weg zur Höheren Berufsbildung oder zur Hochschule.

 

Dies bedeutet keineswegs, dass die Berufslehre ausgedient hätte. Sie wird jedoch für einen wachsenden Teil der Lernenden nurmehr zu einer Zwischenstufe auf dem Weg zur Höheren Berufsbildung oder zur Hochschule. In der Folge wächst der Anspruch an die berufliche Grundbildung: Sie muss nicht nur die Lernenden auf einen bestimmten Beruf vorbereiten, sondern auch deren Anschlussfähigkeit an weiterführende Bildungsgänge sicherstellen. Die Attraktivität der Berufslehre wird in Zukunft stark davon abhängen, wie gut ihr diese zweite Aufgabe gelingt.

Stärkung der Berufsmatura und Grundkompetenzen

In der Berufsbildung gibt es einige Ansatzpunkte, um die Grundlage für eine weitere Ausbildung und das lebenslange Lernen zu stärken. Der erste ist die Berufsmaturität. Sie hat sich als alternativer Weg an die Hochschulen bewährt, wird aber noch zu wenig genutzt. Dies gilt insbesondere für die Berufsmaturität während der Lehre (BM1), die nur von rund 10 Prozent der Lernenden absolviert wird. Hier helfen nicht Kommunikationskampagnen, sondern konkrete Erleichterungen für die betroffenen Jugendlichen. Wollen Lehrbetriebe auch in der Zukunft schulisch starke Jugendliche gewinnen, müssen sie die lehrbegleitende Berufsmaturität stärker unterstützen.

Ohne solide Kenntnisse in Englisch und Mathematik sind Aus- und Weiterbildungen in vielen Berufsfeldern, von der Kommunikation über Technik und Verwaltung, schwierig.

 

Die Berufsmaturität ist nur für einen Teil der Lernenden realistisch. Daher führt in der Berufsbildung kein Weg an einer generellen Stärkung der Grundkompetenzen vorbei. Mit weniger als drei Lektionen Allgemeinbildung pro Woche erhalten die Lernenden in der Berufslehre heute ein zu schwaches Rüstzeug für eine unsichere Zukunft. Ohne solide Kenntnisse in Englisch und Mathematik sind Aus- und Weiterbildungen in vielen Berufsfeldern, von der Kommunikation über Technik und Verwaltung, schwierig. Es gilt, innovative Instrumente zur Stärkung der Grundkompetenzen während der Lehre zu entwickeln: von Auslandaufenthalten und Sprachaustauschen zu Programmierwochen und Wissenschaftswettbewerben.

Breitere Berufsprofile

Für viele ist die Berufslehre nicht mehr End-, sondern Zwischenziel. Deren Nutzen darf deshalb nicht unter dem alleinigen Gesichtspunkt der kurzfristigen wirtschaftlichen Verwertung analysiert werden: Nurmehr eine Minderheit bildet sich dafür aus, um in den nächsten zehn Jahren denselben Lehrberuf auszuüben. Eine Mehrheit ist auf dem Weg zu einem Tertiärabschluss. Dafür benötigen sie mehr Grundkompetenzen – Bildung auf Vorrat – und wären wohl in breiteren Berufsprofilen als den aktuell 240 Lehrberufen der Schweiz besser aufgehoben. Eine geringere Zahl von Lehrberufen würde zugleich die Professionalisierung der Organisationen der Arbeitswelt (OdA) fördern.

Die Berufsbildungspolitik hat zwei Optionen: Sie kann diese Entwicklung ignorieren und am bewährten System festhalten. Oder sie kann diesen Prozess mitgestalten, indem sie die Bildungsexpansion auch innerhalb der Berufsbildung aktiv mitvollzieht.

 

Die Bildungsexpansion stellt Ausbildungsbetriebe vor Herausforderungen: mehr Allgemeinbildung bedeutet weniger Arbeitszeit der Lernenden im Betrieb, und ein steigender Anteil der Lernenden verbleibt nicht im Lehrberuf, sondern setzt die Ausbildung fort. Mit der Bildungsexpansion ergeben sich aber auch neue Chancen, welche in Deutschland mit dem Aufbau dualer Studiengänge genutzt wurden. Solche Studiengänge verbinden Allgemeinbildung und berufspraktisches Wissen auf der Hochschulebene. Allein in Baden-Württemberg gab es im Jahr 2022 34’000 dual Studierende, wobei die Nachfrage der Lernenden das Angebot an dualen Ausbildungsplätzen bei weitem überstieg. Der Einsatz älterer Lernender im Betrieb trägt zudem der Tatsache Rechnung, dass die Adoleszenz – die Entwicklungszeit von Jugendlichen – immer länger dauert. Jugendliche ziehen heute später von zu Hause aus, haben später eine feste Stelle und werden später Eltern.

Für die Zukunft erscheint wahrscheinlich, dass sich die Bildungsexpansion fortsetzt und die Bildungsaspirationen der Jugendlichen weiter steigen. Die Berufsbildungspolitik hat zwei Optionen: Sie kann diese Entwicklung ignorieren und am bewährten System festhalten. Oder sie kann diesen Prozess mitgestalten, indem sie die Bildungsexpansion auch innerhalb der Berufsbildung aktiv mitvollzieht.

 

Daniel Oesch ist Professor für Soziologie an der Universität Lausanne und Direktor des Swiss Centre of Expertise in Life Course Research LIVES.

 

Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis ist eine Fachzeitschrift für Berufsbildung in der Schweiz.

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Ein Kommentar

  1. Ausgezeichneter Artikel!

    Leider geht die kaufmännische Ausbildung mit der aktuellen Reform in die gegenteilige Richtung: Die Allgemeinbildung wird zugunsten business-orientierter “Handlungskompetenzen” verwässert; die Anforderungen der BM2 werden für viele Lernende erst recht unerreichbar.

    Und ein kleiner Teil kämpft sich durch die BM1, wo zum Glück Bildung, nicht nur Ausbildung, vermittelt wird.

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